Der Geist in der Flasche

Jedes Jahr zur Erkältungszeit schlucken Hunderttausende Deutsche Meditonsin. Dabei halten Wissenschaftler den homöopathischen Saft für wirkungslos. Also alles Unsinn? Nein - ganz so einfach ist es nicht.

Was soll man von einem Medikament halten, das vor dem Abfüllen zehnmal Richtung Erdmittelpunkt geschüttelt wird?

Für Außenstehende wirkt die kleine Feier im Mathäser Filmpalast in München wie eine Singlebörse mit akutem Männermangel: Schätzungsweise 98 Prozent der Gäste sind weiblich, Alter: Anfang bis Mitte zwanzig. An der Bar wird Cola, Saft und Wasser ausgeschenkt, an den Bistrotischen gekichert. Dazu ein Buffet mit Fingerfood und einem Schokoladenkuchen, etwa einen halben Quadratmeter groß, auf dessen Oberseite eine Schicht Marzipan mit der Aufschrift: Sechzig Jahre Meditonsin.

Der ganze Auflauf – nur wegen eines in die Jahre gekommenen Erkältungssafts? Natürlich ist das junge Publikum nicht zum Spaß hier an diesem regnerischen Herbstabend. Die Firma Medice, Hersteller des Mittels, hat geladen: Die etwa hundert Anwesenden arbeiten nämlich alle als PTA, pharmazeutisch-technische Assistenten, in Apotheken der Region München. PTA stehen oft hinter dem Tresen, die Apotheker selbst haben dafür wenig Zeit. Richard Ammer, der Geschäftsführer von Medice, ist extra aus Iserlohn im Sauerland angereist, denn in gewisser Weise sind es auch seine Verkäufer: Nur wenn sie Meditonsin ihrer Kundschaft empfehlen, brummt sein Geschäft. Im Moment kann er sich nicht beklagen, Meditonsin ist das meistverkaufte homöopathische Erkältungsmittel in Deutschland, mit einem Jahresumsatz von deutlich über zwanzig Millionen Euro. Doch die Konkurrenz schläft nicht. Ammer sagt, ein anderer Hersteller lade PTA zu solchen Anlässen nach Mallorca ein. Und Grippostad sponsert die RTL-Castingshow Das Supertalent. Beides kann sich Medice nicht leisten. Die Firma produziert zwar auch herkömmliche Medikamente, etwa Grippetabletten und Pillen für Kinder mit ADHS. Aber mit 500 Mitarbeitern und 170 Millionen Gesamtumsatz halten sich die Ressourcen in Grenzen.

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Nachdem der Geburtstagskuchen verteilt ist, wird das Publikum in einen Kinosaal geführt. Eine von Ammer bestellte Referentin beginnt ihren Vortrag, Thema: Meditonsin. Das Mittel bediene alle Phasen der Erkältung, Halsschmerzen, Husten und Schnupfen, obendrein habe es keine Nebenwirkungen. »Das können Sie super Eltern mit Kindern empfehlen. Und natürlich auch den Senioren«, schwärmt die Referentin. Und der Alkohol, das Quecksilber, zwei Inhaltsstoffe von Meditonsin? Kein Prob-lem, sagt sie. Eine Banane enthalte mehr Alkohol als eine Tagesdosis Meditonsin, ein Glas Milch zwanzigmal so viel Quecksilber wie ein 35-Milliliter-Fläschchen des Mittels. Homöopathische Dosen eben. Nach dem Vortrag gibt es Popcorn für alle und einen lustigen Film mit Owen Wilson.

Einige Tage später, in Zürich. Fünfzehn Mitglieder des »Vereins für kritisches Denken« haben sich in der Innenstadt zur »Massenvergiftung« versammelt. Das bedeutet: Sie schlucken typische homöopathische Wirkstoffe, darunter auch Tollkirsche, Quecksilber und Eisenhut, die Ingredienzien von Meditonsin – allerdings in millionenfacher Überdosis, verglichen mit der Menge, die ein Homöopath verordnen würde. Ähnliche Aktionen fanden bereits in London und Paris statt. Auch in der Talkshow von Sandra Maischberger würgte unlängst eine Homöopathie-Kritikerin eine ganze Flasche Globuli hinunter. Die Botschaft solcher Einlagen: »Auch zu viel von nichts bleibt nichts.«

Verdünnung ist eines der Grundprinzipien der Homöopathie. Ein Tropfen Koffein zum Beispiel und 99 Tropfen Wasser ergeben das, was Experten ein Centisemal nennen, also hundert Teile. Wird ein Tropfen dieses Centisemals wiederum mit 99 Tropfen Wasser vermischt, ergibt sich ein Zwei-Centisemal, kurz C2. In Deutschland hat sich die D-Skala eingebürgert, verdünnt wird jeweils um den Faktor 10. C2 entspricht D4, also einem Koffeingehalt von 0,01 Prozent. Bei C3, gleichbedeutend mit D6, beträgt der Koffeinanteil nur noch 0,0001 Prozent, bei C4 beziehungsweise D8 entsprechend 0,000001 Prozent. Meditonsin enthält laut Beipackzettel Tollkirsche und Eisenhut in D5- sowie Quecksilber in D8-Auflösung. Homöopathen verschreiben selbst D60-Dosierungen. Sie argumentieren, durch die Dynamisierung – wie der Verdünnungsprozess häufig genannt wird – werde die Trägersubstanz, in der Regel Wasser, Alkohol oder Milchzucker, mit Heilkraft aufgeladen. Gleichzeitig verliere der pflanzliche Wirkstoff unerwünschte Nebenwirkungen. Die Kritiker hingegen vergleichen die verdünnten Lösungen und Globuli gern mit Tanklastwagen voller Wasser oder auch mit dem Atlantik, dem ein Tropfen Wirkstoff zugefügt würde. Und bezichtigen die Homöopathen der Quacksalberei.

Wer heilt, hat recht, entgegnen die Vertreter der sanften Medizin. In Umfragen befürworten regelmäßig siebzig Prozent der Deutschen alternative Methoden wie die Homöopathie oder geben an, schon gute Erfahrungen damit gemacht zu haben. Unzählige Studien, Kommentare und Zeitungsartikel, die den Heilmitteln jede Wirkung absprachen, vermochten daran nichts zu ändern. Das Geschäft mit Meditonsin blieb selbst nach der Gesundheitsreform der SPD-Ministerin Ulla Schmidt im Jahr 2004 robust. Krankenkassen ist es seitdem weitgehend untersagt, Erwachsenen die Kosten für homöopathische Mittel zu erstatten, weil ihre Wirkung nie wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Nur Kinderärzte dürfen Meditonsin noch verschreiben. Doch die größte Gefahr für den Erfolg des Mittels sind andere Arzneimittelhersteller: Als zur Jahrtausendwende ein Hustensaft mit dem exotischen Namen Umckaloabo auf den Markt kam, musste Medice Einbußen von mehr als zwanzig Prozent hinnehmen. Erst eine Imagekampagne, die fast eine Million Euro kostete, brachte die Kunden wieder dazu, mehr Meditonsin zu schlucken.

Je länger das Mittel auf dem Markt ist, umso vertrauter erscheint es den Deutschen.

Der Hersteller Medice und Kinderärzte loben das Erkältungsmittel, weil es keine Nebenwirkungen hat. Homöopathie-Kritiker sprechen ihm auch sonst jede Wirkung ab.

Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke ließ Patienten nach ihrem Weg zur Homöopathie befragen. Ergebnis: Homöopathen werden nicht statt, sondern zusätzlich zu den Schulmedizinern aufgesucht. Als Grund geben die Patienten an, sie hätten den Eindruck, der Homöopath interessiere sich tatsächlich umfassend für ihre Krankengeschichte und suche mit ihnen gemeinsam nach der »richtigen« Medizin. Patienten schätzen überdies, dass Homöopathen nicht gleich mit »dicken Hämmern« auf Krankheiten losgehen. Schmacke ist kein Anhänger alternativer Heilmethoden. Er findet aber, Mediziner sollten sich Gedanken machen, warum eine stattliche Zahl von Menschen eher Homöopathen vertraut. »Ärzte müssen lernen, die Sorgen von Patienten ernst zu nehmen, was den Sinn und die Nebenwirkungen der Therapie anbelangt, und diese nicht einfach beiseitezuwischen.« Patienten lägen dabei ja oft richtig, man denke nur an die unsinnigen Verschreibungen von Antibiotika durch Ärzte bei einfachen Erkältungskrankheiten.

Dass Kranke sich subjektiv besser fühlen, wenn sie Mittel einnehmen, an die sie glauben, wird auch von Homöopathie-Gegnern nicht bestritten. Hoffnung, Zuversicht und positive Erwartungen sind machtvolle Therapeutika, die gute Ärzte zu nutzen wissen; nach der Medikamentengabe, aber auch im vertrauensvollen Gespräch verstärkt der sogenannte Placeboeffekt die erwünschte Wirkung und trägt zur Genesung oder Schmerzlinderung bei. Für negative Gefühle und Erwartungen gilt umgekehrt: Wer nicht damit rechnet, dass ihm eine Tablette oder Infusion hilft, oder gar vermutet, dass die Krankheit sowieso den schlimmsten Verlauf nimmt, der hat oft auch schlechtere Aussichten auf Heilung und einen geringeren Therapieerfolg.

Doch die sogenannte »sprechende Medizin«, das Gespräch mit dem Patienten, wird schlecht honoriert. Je nach Facharztrichtung und Bundesland sind dafür 13 bis 23 Euro in den Honorarkatalogen der Ärzte vorgesehen. Homöopathen und Heilpraktiker berechnen für ihre Anteilnahme oft dreistellige Beträge, die von vielen Patienten auch bereitwillig gezahlt werden, weil sie sich gut aufgehoben fühlen. Aber wie erklärt sich der Erfolg eines Mittels wie Meditonsin, dessen Käufer höchstens auf ein paar warme Worte des Apothekers oder seiner Assistenten hoffen dürfen?

Besuch im Hauptquartier der Firma Medice, nahe der Autobahn A 46, Abfahrt Iserlohn-Zentrum. Im ersten Stock arbeitet in einem braun getäfelten Büro mit schwerem Mobiliar der Seniorchef Sigurd Pütter, 71. Sein Vater, der im Selbststudium Heilpraktiker lernte, hat die Firma nach dem Krieg gegründet. Wie genau er zu dem Zaubertrank Meditonsin kam, weiß Pütter auch nicht. Sein Vater habe ihm erzählt, dass er sich seinerzeit mit anderen Heilpraktikern traf – darunter auch Emil Rafflenbeul aus Bochum, den alle nur »Püllekes-Emil« nannten – und man sich gegenseitig beriet, Tinkturen, Salben und Mittelchen austauschte. Aus diesem Kreis, sagt Sigurd Pütter, habe sein Vater wohl die Rezeptur für Meditonsin erhalten. Möglicherweise sei der Saft aber auch noch viel älter und gehe auf den »alten Hahnemann« zurück – Samuel Hahnemann begründete vor gut 200 Jahren die Homöopathie.

Jedenfalls entwickelte ein Chemieprofessor für Medice eine Apparatur, die alle Zutaten von Meditonsin bis heute in 250-Liter-Fässern vermischt und am Ende zehnmal kräftig in Richtung Erdmittelpunkt schüttelt. Auch er selbst nehme regelmäßig Meditonsin, sobald der Hals zu kratzen beginnt, erklärt Pütter, der Medizin studiert hat und zwei Jahrzehnte dem Bundesverband für Pharmazeutische Industrie vorstand. »Was soll ich sagen: Das Zeug wirkt.« Wenn es anders wäre, meint sein Schwiegersohn Richard Ammer, auch ein erfahrener Schulmediziner, hätte sich Meditonsin kaum sechzig Jahre lang so gut verkauft.

Die Firma hat natürlich etwas nachgeholfen, zum Beispiel mit Fernsehwerbung. »Während der Erkältungszeit müssen wir da präsent sein«, sagt Ammer, »sonst sehen die Apotheker keinen Anlass, warum sie unser Mittel prominent im Sichtbereich des Kunden auslegen sollen.« Als verkaufsfördernd erwies sich auch der Name »Meditonsin«, also Medizin für die Tonsillen, ein Synonym für die Mandeln: Ein Produkt prägt sich nun einmal eher beim Endverbraucher ein, wenn bereits der Name erklärt, wozu es gut ist. Medice ließ sich die Bezeichnung umgehend schützen; als die Firma Wick ihren Erkältungssaft »MediNait« auf den Markt brachte, musste sie »uns dafür ordentlich was zahlen«, erzählt Sigurd Pütter grinsend. Je länger das Mittel auf dem Markt ist, umso vertrauter erscheint es den Deutschen. Zwei Drittel kennen die Marke Meditonsin, bei vielen werden Kindheitserinnerungen wach, weil schon die Oma beim ersten Anflug von Schnupfen zu dem braunen Fläschchen griff. Mittlerweile wird Meditonsin in Anzeigen auch als Trikomplex vermarktet, weil es angeblich in allen drei Phasen der Erkältung wirkt. Trikomplex, »das klingt doch gut und modern«, meinte die Referentin während ihres Vortrags vor dem Apothekernachwuchs im Münchner Filmpalast.

Die Wirkung von Homöopathika wird in der Regel nicht durch klinische Studien nachgewiesen, sondern durch Beobachtungen von Ärzten, die Patienten mit dem Mittel behandeln. So war es auch bei Meditonsin. Klinische Studien kosten viel Geld, das die meist mittelständischen Hersteller nicht aufbringen können. Deshalb beschränken sich die Behörden darauf, zu prüfen, ob die Arzneien tatsächlich enthalten, was sie vorgeben, und dass sie die Gesundheit der Patienten nicht schädigen. Die Beobachtungen, mit denen manche Firmen die Wirksamkeit ihrer Mittel aufzeigen wollen, spiegeln natürlich vor allem die subjektive Wahrnehmung der Patienten wider, die durch die Erwartung der behandelnden Ärzte noch verstärkt wurde. Eine spezifische Wirkung der Homöopathika, die über den Placeboeffekt hinausgeht, sei auf diese Weise keinesfalls bewiesen, bemängeln die Skeptiker.

Andererseits haben Forscher herausgefunden, dass ein Placeboeffekt, der auf Hoffnung und positiver Erwartung beruht, nicht bedeutet, dass im Körper keine Wirkung festzustellen wäre. Im Gegenteil: Im Hirnstoffwechsel des betreffenden Menschen lassen sich sehr reale Spuren nachweisen. Das gilt aber nicht nur für Homöopathika, sondern für alle möglichen Behandlungsformen. »Die sozialen und psychischen Reize durch Placebos wirken häufig an denselben Rezeptoren und über dieselben Mechanismen wie Medikamente«, sagt Fabrizio Benedetti, Neurowissenschaftler aus Turin. Er und sein Team untersuchten Patienten, denen der Backenzahn herausoperiert worden war, bei der anschließenden Schmerzbehandlung. Einem Teil der Probanden spritzte der zuständige Arzt eine Kochsalzlösung, die keinerlei Wirkstoffe enthielt. Er versicherte ihnen jedoch eindringlich, das Mittel würde gegen die Schmerzen helfen. Das allein reichte bereits, um dieselbe Wirkung zu erzielen wie bei einer Kontrollgruppe, der eine Morphindosis von vier bis acht Milligramm injiziert worden war.

Die Placeboforschung hat übrigens auch ergeben, dass teurere Schmerzmittel deutlich besser wirken als billigere. Was gut ist, muss auch teuer sein, lautet offensichtlich die Annahme vieler Patienten. Dieser Effekt zeigt sich selbst dann, wenn die Schmerztherapie nur mit Scheinmedikamenten vorgegaukelt wird. Vielleicht erklärt diese menschliche Eigenart auch einen Teil das Erfolges von homöopathischen Mitteln wie Meditonsin: Das 35-Milliliter-Fläschchen kostet in der Apotheke etwa sieben Euro – ein stolzer Preis für eine Flüssigkeit, die ihre volle Wirkung erst entfaltet, wenn der Patient richtig daran glaubt.

In freier Natur ist Eisenhut ein toxisches Gewächs, früheren Kulturen diente es als Pfeilgift. Meditonsin enthält den Wirkstoff in niedriger Dosis, er soll Halsschmerzen lindern. (Foto:Manfred Ruckszio/Okapia)

Fotos: André Mühling