Weihnachten im SZ-Magazin - Best of

Festa d'amore - Ein guter Rat an alle, denen Weihnachten zu langweilig ist: Heiraten Sie in eine italienische Familie ein und verbringen Sie das Fest der Liebe im Süden.

Es war im November, als wir uns entschlossen, das Weihnachtsfest bei der Familie meiner Frau in Süditalien zu verbringen. Wir hatten die Zusage eine ganze Weile herausgezögert, nachdem uns ein kleines Päckchen erreicht hatte, in dem ein so genannter Panettone lag, sowie ein kurzer Brief mit der Einladung, das Weihnachtsfest und Silvester in Italien zu verbringen. Panettone sieht aus wie der Versuch, aus Bauschaum, Rosinen und Zitronat einen Kuchen zu backen - und er schmeckt auch so.

Mein Schwiegervater, der schon lange in Deutschland lebt und ebenfalls eingeladen war, rief alle paar Tage an, um die Reise mit uns zu besprechen. Das war Mitte August. Ende September entsorgte ich den inzwischen vollkommen ausgehärteten Panettone heimlich, als mein Schwager sowie mehrere Freunde aus Italien zum Oktoberfest kamen. Als Einstimmung auf das bevorstehende Weihnachtsfest brachten sie mir einen frischen Panettone mit. Wir freuten uns sehr. Im November sagten wir schließlich zu. Eine Reise zu meiner Familie muss gut geplant werden. Es gilt, innerhalb von einer Woche alle zu besuchen, wobei ein außerordentliches Fingerspitzengefühl vonnöten ist. Es gibt nämlich einen riesenhaften Stammbaum, der sich in der Mitte in zwei etwa gleich starke Äste teilt. Man hat sich vor vielen Jahren endgültig zerstritten, aus Gründen, die keiner mehr so richtig kennt. Seitdem heißt es vom einen Zweig, er sei blöd, und vom anderen, er sei geizig. Die meisten Männer der einen Familienhälfte heißen Mario (blöd), die meisten Männer der anderen heißen Antonio (geizig). Mein Schwiegervater ist ein Antonio und gar nicht geizig. Jedenfalls lassen beide Familienhälften kein gutes Haar aneinander. Längst hat auch das letzte gemeinsame Gen die Familien verlassen, sodass auch Mischehen denkbar wären und statistisch vorkommen müssten, denn in diesem Ort lebt nur eine begrenzte Zahl an jungen Menschen. Die meisten fliehen nach Neapel oder gleich in den Norden. Als nun jedoch ein Mario sich eines Tages in eine gewisse Francesca verliebte, drohte Krieg.

Mario wusste nicht, dass Francesca vom Stamm der Geizigen war, und es machte ihm auch nichts aus, dass ihre Brüder ihn nicht mochten. Irgendwann offenbarte sich Francesca und Mario reagierte vollkommen anders, als man es in seinen Kreisen von ihm erwartete: Es war ihm ganz einfach völlig schnuppe, mehr noch: Er verkündete, es gäbe nun einen dritten Familienzweig derer, die das Blut der Streitenden vermischten. Das war beiden Parteien zu viel. Die Hochzeit fand in einem 15 Kilometer entfernt liegenden Dorf mit einem fremden Pfarrer statt, Mario und Francesca zogen nach Bari und niemand hat mehr Kontakt zu ihnen. Der dritte Zweig blüht quasi in der Verbannung.

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Das muss man alles wissen, wenn man diese Familie besuchen will. Sagt man zu, beim einen Zweig zu übernachten, bekommt dieser dadurch Oberwasser und wird im ganzen Ort herumerzählen, dass man eben nicht beim anderen Zweig schläft. Wechselt man zwischendurch das Lager, wird herumposaunt, dass es uns bei den ers-ten nicht gefallen hat. Geht man um der Gerechtigkeit willen ins Hotel, sind alle im gleichen Umfang beleidigt und man kann sehen, wo man Heiligabend bleibt. Außerdem gibt's da gar kein Hotel.

Wir entschieden uns aus taktischen Gründen für die Mutter meines Schwiegervaters. Nonna Emma ist eine winzige Frau mit Haaren auf den Zähnen und einer Brille, die aussieht wie die von Erich Honecker. Sie trägt eine Kittelschürze und kneift mir immer in die Wange. Sie schimpft den halben Tag, die andere Hälfte preist und beschenkt sie ihre Enkel. Wer sie besucht, lernt Demut und wie man Gnocchi macht. Wenn man bei Nonna Emma schlafen will, traut sich niemand zu protestieren.

Die Fahrt in den Süden Italiens dauert lange, außer man fährt mit meinem Schwiegervater Toni. Er hat immer etwas zu erzählen. Immer. Auf dem Brenner erläuterte er mir das Wesen von Silvio Berlusconi: "Iste ein Imbroglione, eine Kerl, eine Gauner, aber iste erfolgereich. Italiener liebene nich die Politik, aber liebe sie die Erfolge." Ich stimmte zu, schließlich spielt auch die italienische Nationalmannschaft meistens einen grausamen, aber erfolgreichen Fußball. Anstatt jetzt beleidigt zu sein, rief Toni begeistert: "Dasse ist, warum wir liebene die Deutschen." Dann hielt er am Autogrill, um Sandwiches für alle zu kaufen.

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Auf der Höhe von Bologna begriff ich, warum die Leitplanken in Italien verrostet sind: "Ist wegen salzige Meer. Luft wehte von eine Seite zur andere und dann kommte die Korrosione. Aber machte nichts, muss man langsamer fahren, dann tute es nichte so weh." Meine Frau schlief auf der Rückbank und machte sich keine Sorgen. Etwa bei San Benedetto lernte ich alles über Albanien, das italienische Fischereiwesen und Mussolini. Fünf Stunden später waren wir da.

Meine Familie wohnt in einem zugigen Städtchen in den Bergen von Molise, einem italienischen Bundesland, das den meisten Italienern unbekannt ist - so ähnlich wie das Saarland bei uns. Im Sommer ist es in Molise so heiß, dass der Atem staubt, und im Winter liegt Schnee. Es gibt sogar einen Skilift, aber der ist kaputt oder es kommt keiner, weil niemand das Geld für ein Paar Skier hat. Die Gegend ist so widersprüchlich, dass ihre Bewohner nie sagen können, wo sie eigentlich liegt. Die einen sagen östlich von Neapel, die anderen südlich von Rom. Die meisten sagen: "In culo al mondo", was genau das heißt, was Sie jetzt glauben.

Wir kamen am 23. am Arsch der Welt an und richteten uns ein. Nonna Emma kniff mir in die Wange, danach ging Toni mit mir spazieren. Man nimmt einen kleinen Kaffee, spielt Toto und guckt, ob man jemanden kennt. Toni lebt seit bald vierzig Jahren in Deutschland, aber er trifft sofort Bekannte. Die tun dann so, als sei Toni nie weggegangen. Mein Schwiegervater stellte mich allen vor und übersetzte. Ob ich Mikaele Schumaka kenne. Nein, nicht persönlich. Ob der wirklich so ein Stockfisch ist, wie alle sagen. Ich weiß nicht, aber er kann Auto fahren. Antwort: "Das kann ich auch." Das größte Lob, das Italiener für Michael Schumacher übrig haben, ist, dass er ein großer Ingenieur ist. Das ist so etwas wie ein Adelstitel.

Nach dem Spaziergang aßen wir gefüllte Schweinefüße, eine Spezialität, die gern an Weihnachten zubereitet wird und von der Nonna Emma immer sagt, es handle sich dabei um die Füße des Teufels, die man ihm wegnehmen und essen muss, damit er nicht das Jesuskind entführen kann.

Die Weihnachtsvorbereitungen in Italien fallen entschieden bescheidener aus als bei uns. Nonna Emma kramte aus einem verwitterten Karton einen Weihnachtsbaum aus Kunststoff hervor. Toni steckte die Zweige zusammen und sang dazu "Dschingelle Bells". Dann umsponn er das Geäst mit kleinen bunten Lämpchen, die bald in Reihe, bald in einem zufälligen Rhythmus aufleuchteten: Gottes Lichtorgel. Der Baum wurde unter das Jesusbild im Wohnzimmer gestellt und blinkte sechs Tage ununterbrochen psychedelisch vor sich hin. Und das nicht nur bei Nonna Emma. Überall in dem kleinen Bergstädtchen zirpte und leuchtete und funzelte es bunt hinter den Fensterscheiben - und drinnen gab es Schweinefüße und mit Oliven gefüllte Krapfen, während im Fernsehen Nikoläusinnen in gut gefüllten roten Bikinis glitzernde Showtreppen hinuntergingen. Im italienischen Fernsehen gibt es noch mehr Showtreppen als Blondinen.

Nachmittags begannen unsere Besuche bei diversen Onkeln, Tanten und entfernten Cousinen. Die Freude über unseren Besuch gipfelte überall in der Mobilmachung sämtlicher Nachbarn, die kurz vorbei kamen, um sich uns anzusehen. Flüsternd im Hintergrund mein Schwiegervater, leise über Verwandte und Bekannte soufflierend: "Der da iste nichte gerade hellste Kügelchen in de Rosenkranz. Kanne nicht unterscheiden Wein und Eselpisse. Aber wenn du mal der Dach deckene willst, macht er besser als alle andere. Kommte auch zu euch, muss nur fragen."

Heiligabend gingen wir bei rieselndem Schnee zu Opa auf den Friedhof. Er liegt eingemauert in einer vier Meter hohen Wand. Sein Grab wird von einem Foto verziert, auf dem er einen Hut trägt und ein wenig aussieht wie Luis Trenker. Nonna Emma brachte ihm Blumen und schimpfte mit ihm, als sei er nie gestorben. Dann weiter in die Kirche und nach Hause. Wir Deutschen glauben nun, jetzt kommt das Wesentliche: sich nett anziehen, Gedichte aufsagen, danach Bescherung. In Italien ist Weihnachten gar nicht so wichtig, da wird nicht viel geschenkt. Weihnachten ist eher ein Kinderfest, die Kleinen bekommen reichlich. Kleidchen, Kerzchen, Puppen in rosa Tüllkostümen, Süßigkeiten und Spielzeug. Zur großen Freude aller Anwesenden packte der kleine Antonio (der jüngste aus der Antonio-Sippe) eine blinkende Pumpgun aus, die ein derart infernalisches Geknatter von sich gibt, dass es keiner scharfen Munition bedarf, um seine Mitmenschen umzubringen. Außerdem entsiegelte er mehrere Leuchtkugeln, sprechende Tiere und ein Laserschwert.

Es ist übrigens den Italienern ein gewisser Hang zum Bonbonfarbenen nicht ernsthaft anzukreiden, denn nur wenn die Dinge schön bunt sind, erkämpfen sie sich die Aufmerksamkeit eines italienischen Kindes. Die Sachen müssen eigentlich nicht funktionieren - jedenfalls nicht lange - oder einem nachvollziehbaren Sinn dienen, sondern auffallen. Dies dürfte leitmotivisch für das Wesen der Italiener sein, in dem es ebenfalls hauptsächlich darum geht, andere auf sich aufmerksam zu machen. Wenn dies über die pure Leuchtkraft der eigenen Erscheinung nicht möglich ist, dann eben über Geräusche. Italienische Männer, auch wenn sie keine Operntenöre sind, wissen stets, wie man sich akustisch in Szene setzt. Übertragen auf Spielzeug zu Weihnachten heißt das: Ein Geschenk, das keine Geräusche macht, ist etwas für Taubstumme oder Deutsche.

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Folgerichtig erhielt ich ein sehr leises Geschenk: einen Panettone. Es hatte sich wohl herumgesprochen, dass ich Panettone über alles liebe. Die Schadenfreude meiner Frau legte sich, als sie ihr Duschhäubchen aus- gepackt hatte.

Nachdem sich die Wogen der Aufregung um die schönen Geschenke geglättet hatten, spielten wir, das macht meine Familie immer so. Meistens wird Scopa gespielt, ein Kartenspiel. Wenn aber mal alle beisammen sind, und das ist nur an Weihnachten der Fall, dann wird der große Karton geöffnet. Dann ist Bingo-Time.

Jeder erhält ein Kärtchen und Nonna Emma dreht ein kleines Rad. Wer die richtige Zahl hat, schreit Bingo. Dann wird kontrolliert, weil eigentlich alle schummeln, und anschließend wird wieder gedreht. So geht das stundenlang und ohne nachlassende Begeisterung.

Im Jahr davor hatten wir zu Hause bei uns gefeiert und Toni kam zu Besuch. Leider hatten wir kein Bingo und spielten ersatzweise ein anderes Spiel. Das geht so: Einer muss einen Begriff erklären und darf dabei eine Reihe von Wörtern nicht benutzen. Wenn die Mitspieler erraten, worum es geht, bekommt man einen Punkt. In einer begrenzten Zeit muss man versuchen, möglichst viele Be- griffe zu erläutern. Das ist ein heiteres Spiel, besonders, wenn Toni mitspielt.

Er zog eine Karte vom Stapel und hob an: "Also iste eine Dinge da, wenne Winter ist, und ist lausekalt, musste du auf der Kopf tragen und über die Ohre, dann wird schöne warm und musste nicht frieren." - "Mütze", rief meine Frau. Das wäre im Prinzip gut gewesen, aber leider stand auf der Karte "Münze". Kein Punkt für Toni, was diesen aber nicht lange verdrießt, weil er findet, dass er das Wort gut erklärt hat, auch wenn ein ganz anderes gefragt ist. In der nächsten Runde zog er wieder eine Karte und rief aufgeregt: "Iste ein Geschäft, großes Geschäft. Fährst mit der Auto hin und kannse kaufen Benzin oder vielleicht Diesel und gibt auch Zigaretten, aber keiner darfe rauchen." - "Tankstelle", riefen wir. Er: "Ja, aber eine bestimmte." "Aral! Esso! BP!"

"Nein, alle nixe."
"Shell!"
"Jawoll, iste Shell."
Auf der Karte stand "schnell".

Nun also Bingo. Toni ist ein Meister darin. Er beschiss so hemmungslos, dass ihn die anderen am Ende widerstandslos gewähren ließen. Am Ende gewann er und rief: "Bin ich eine gute Spieler? Nu sag mal: Bin ich eine gute Spieler?"

"Du bist der beste."
"Ist nicht schöne Weihnachten, meine liebe Jung?"
"Es ist wunderschön."

Er lachte und drückte mich. Und ich hatte nicht mal gelogen. l

Nonna Emma kramte aus einem verwitterten Karton einen Weihnachtsbaum aus Kunststoff hervor. Toni steckte die Zweige zusammen und sang dazu "Dschingelle Bells".

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