Niklas Frank

Mit dem Buch »Der Vater. Eine Abrechnung« outete er sich 1987 als Sohn eines Nazimörders - und erzählte offen, wie erbarmungslos so eine Herkunft alle verfolgt, die nichts für die Taten ihrer Vorfahren können. Seine Geschwister zerbrachen an ihrer Lebensgeschichte, Frank ist mittlerweile 75 Jahre alt - und hadert noch immer mit der Vergangenheit seiner Familie.

Niklas Frank hat so gut wie keine guten Erinnnerungen an seinen Vater, den Nazi. Vielleicht ist das seine Rettung gewesen.

SZ-Magazin: Herr Frank, warum tragen Sie seit vierzig Jahren ein Foto mit sich, das den Leichnam Ihres gehenkten Vaters zeigt?
Niklas Frank: Ich will jeden Tag sichergehen, dass er tot ist.

Als kleiner Junge lebten Sie am Schliersee in Oberbayern oder auf der Wawelburg über Krakau, dem Dienstsitz Ihres Vaters. Zum Hofstaat der Franks gehörten Diener, Kindermädchen, Köchinnen, Chauffeure und Ehreneskorten.
Ich fand es toll, von oben bis unten betütelt zu werden. Der Wawel war wie ein Königshof, und ich war der Prinz von Polen und hatte eine Riesengaudi. Ich sehe mich noch als Dreikäsehoch im Dom neben der Burg Versteck spielen zwischen den Gräbern polnischer Bischöfe und Heiliger, beschützt von SS-Soldaten mit Gewehren. In der Burg machte ich die Gänge mit meinem Tretauto unsicher. Ich wartete hinter einer Ecke, bis ich jemanden kommen hörte. Dann trat ich in die Pedale. Es machte mir Höllenspaß, jemanden zu verletzen. Wenn ich nach oben lugte, sah ich verbissene Gesichter ein erzwungenes Lächeln aufsetzen – ich war eben der Sohn des mächtigen Burgherrn.

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Ihr Vater war besessen von Prunk und Pomp und inszenierte sich als Genussmensch und Feingeist. Für Mußestunden hatte er Schloss Kressendorf requirieren lassen, dreißig Autominuten von Krakau entfernt.
In Kressendorf gab es eine riesige Freitreppe. Wenn ich oben an der Balustrade stand und sah, dass unten unser Diener Johann entlanglief, rief ich: »Johann!« Wenn er gehorsam die Treppen heraufgestiegen war, fragte er höflich: »Bitte?« Worauf ich »Danke!« krähte und lachend davonzischte. Das musste er sich gefallen lassen. Niemand hätte sich getraut, das Früchtchen des Generalgouverneurs von Polen zurechtzuweisen, dem Alleinherrscher über siebzehn Millionen Menschen.

Sie sind Jahrgang ’39 und waren bei Kriegsende sechs Jahre alt. Empfindet ein kleiner Junge, der glaubt, er sei der Prinz von Polen, so etwas wie Skrupel?
Einerseits spürte ich dieses intensive Triumphgefühl, Erwachsenen befehlen zu können, andererseits wusste ich tief innen, ich tue Unrecht. Man bekam endlos Spielzeug von jedem Gast geschenkt. Ich habe alles sofort kaputtgemacht. Da war dieses schlechte Gewissen, das man mitbekam. Die Erwachsenen wussten von den viehischen Verbrechen, die wir Deutschen täglich in Polen verübten. Ihre daraus resultierende innere Anspannung übertrug sich als psychischer Druck auf mich, und ich machte wie unter Zwang alles kaputt, was da war.

Für die Fahrten in Ihre bayerische Heimat stand Ihnen der mahagonigetäfelte Salonwagen Ihres Vaters zur Verfügung, der an reguläre Züge angehängt wurde. Was bekamen Sie vom Leben außerhalb des Wawel mit?
Dass unterhalb des Burghügels das Morden anfing, begriff ich nicht. Einmal hat mich mein Kindermädchen Hilde in das mit Stacheldraht umzäunte Außenlager eines KZs mitgenommen. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht war einer der Bewacher Hildes Liebhaber. Ich freute mich sehr, als die Wachleute abgemagerte Häftlinge auf einen Esel setzten und ihm einen mächtigen Schlag auf die Flanke gaben. Das verschreckte Tier machte Bocksprünge, und die Männer fielen runter. Das war für mich ein unbändig lustiger Nachmittag. Obendrein gab es zum Schluss beim obersten Soldaten Kakao.

Bei ihren Raffzügen durchs Krakauer Ghetto setzte Ihre Mutter die Discountpreise selbst fest, zu denen sie Pelzmäntel und Stoffe kaufte.
Sie ließ sich von ihrem Chauffeur im Mercedes ins Ghetto fahren, bewacht von der SS. Einmal durfte ich mit. Ich stand in meinem reizenden Pepita-Anzug im Fond, drückte die Nase ans Fenster und sah traurig oder wütend dreinschauende, schlottrige Menschen. Als mich ein sehr viel älteres Kind anglotzte, streckte ich ihm die Zunge raus. Es ging weg. Ich war der Gewinner und lachte.

Ab Ende ’44 lebten Sie mit Ihrer Mutter und Ihren vier Geschwistern wieder am Schliersee. Was empfanden Sie, als Ihr Vater im Januar ’45 nach Hause kam?
Auf einer Truhe lag seine Brille. Ich nahm sie, schaute ihn ruhig an und brach beide Bügel ab. Da stand er so was von baff da. Ich sehe noch sein empörtes Gesicht. Er gab mir eine Ohrfeige, aber das war für mich in Ordnung. Ich habe mich auch nicht entschuldigt. Ich konnte mit ihm einfach nichts anfangen.

Im Umkreis Hitlers kursierte der Spruch: »Im Westen liegt Frankreich, im Osten wird Frank reich.« Ihr Vater, ein promovierter Jurist, der in den Zwanzigern zu Hitlers Stammverteidiger aufgestiegen war, griff in Polen in die Staatskasse und raubte Kunstschätze, darunter Bilder von Rembrandt, Raffael und Leonardo da Vinci. Bekamen Sie davon etwas mit?
Vatis Diebereien waren nicht zu übersehen. Einmal ließ er im Salonwagen 200 000 eingekalkte Eier aus Krakau zu uns an den Schliersee schicken. Mit einem anderen Transport kamen geraubte Plastiken, Gobelins, Madonnen und Ikonen.

Ihre Geschwister hatten zeitlebens zärtliche Gefühle für ihren Vater. Sie nie?
Es gibt eine einzige zärtliche Szene. In seinem Badezimmer auf dem Wawel stand mein Vater vor dem Spiegel und rasierte sich. Als er mich sah, tupfte er mir etwas von seinem Schaum auf die Nasenspitze. Das hat sich mir eingebrannt. Eine Sehnsucht, von ihm geliebt zu werden, gab es wohl auch bei mir.

Ihr Vater wurde am 4. Mai ’45 von amerikanischen Soldaten verhaftet. Am Tag darauf wurde Ihr Haus am Schliersee geplündert.
Ich fand das aufregend und spannend. Was meine Eltern geplündert hatten, wurde jetzt von befreiten polnischen und ukrainischen Zwangsarbeitern geplündert. Meine Mutter konnte gerade noch eine mit Schmuck und Juwelen prall gefüllte Tasche bei einer Nachbarin verstecken. Die Amis stellten dann Wachen auf. Ein GI, der Vatis Weinkeller entdeckt und sich betrunken hatte, stellte meine Mutter und uns drei jüngsten Kinder an die Wand unseres Hauses und legte mit seinem Gewehr auf uns an. Während meine acht und zehn Jahre alten Geschwister losheulten, hatte ich, sechs Jahre alt, keine Angst, weil ich damals – ich weiß das noch wie heute! – dachte: Der Ami mit dem Gewehr hat recht! Der ist auf der richtigen Seite, ich auf der falschen. Was ich dunkel spürte, sah ich Wochen später in der ersten demokratischen Zeitung: Fotos von Leichenhaufen, darunter Kinder meines Alters. Immer stand Polen darunter, und ich wusste ja, Polen gehört uns Franks! Der Ami übrigens, der uns erschießen wollte, hatte nicht mit Muttis Mut gerechnet. Die hat ihn dermaßen zusammengeschrien, dass er verängstigt das Gewehr absenkte und dann von einem anderen Ami weggeführt wurde.

Ihr Vater – er war politisch verantwortlich für die Vernichtungslager Treblinka, Majdanek, Belzec und Sobibor und wurde wegen seiner Ausrottungspolitik »Schlächter von Polen« genannt – ließ sich im Nürnberger Gefängnis katholisch taufen und schrieb seiner Familie Hunderte frömmelnde Briefe, in denen er von Jesuserscheinungen und Lichtbrücken zu Gott berichtete.
Als Kind hat man ein feines Gespür für Wahrheit und Verlogenheit. Seine Briefe haben mich schon damals abgestoßen, ein verschwiemeltes Gesülze und pathetischer Schmarrn. Er war halt eine Kitschjuhle. Mein Bruder Norman glaubte ihm seinen neuen Glauben auch nicht: »Als Vati keinen Hitler mehr hatte, nahm er den lieben Gott als dessen Nachfolger.«

Ihr Vater wurde in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher vor Gericht gestellt. In seinem Generalgouvernement starben sechs Millionen Menschen, viele davon in Auschwitz, dem »größten Menschenschlachthaus, das es je gegeben hat«, wie es Ralph Giordano später formulierte.
Als in den Zeitungen die ersten Fotos aus dem Gerichtssaal erschienen, sagte unsere Mutter stolz: »Wenigstens sitzt er in der ersten Reihe.« Als er während der Befragung durch seinen Verteidiger eine Mitschuld an der Vernichtung der Juden eingestand, war sie stocksauer. Wenn er sich schuldig bekannte, war sie es ja auch. Prompt nahm er in seinem Schlusswort das Schuldeingeständnis zurück.

Vor der Urteilsverkündung durfte die Familie den Vater besuchen. Für Sie die erste und letzte Begegnung seit seiner Verhaftung.
Wir sind vom Schliersee mit dem Zug nach Nürnberg gefahren, mit einer wunderbaren Dampflokomotive. Wenn du das Fenster geöffnet hast, flogen dir lauter Rußkörner ins Auge. Das war richtig toll. Beim Reinkommen in den ziemlich dunklen Besucherraum im Nürnberger Gefängnis sah ich als erstes Hermann Göring, weil der genau gegenüber der Tür saß. Hinter einer Glasscheibe. Wie alle anderen Angeklagten in diesem Raum. Mein Vater saß auf der rechten Seite des Raums, mit einem weiß behelmten Ami-Soldaten neben sich. Meine Mutter führte mich an der Hand, und ich setzte mich gegenüber Vati auf ihren Schoß.

Ihr Vater war damals 46 Jahre alt. Wie sah er nach eineinhalb Jahren Haft aus?
Er hat mich angelacht. Einen grauen Anzug hatte er an. Sein Bewacher mit dem weißen Helm sah viel schneidiger aus. Der gefiel mir besser.

Nach seiner Verhaftung ließen amerikanische Soldaten Ihren Vater Spießruten laufen. Er riss sich darauf mit einem Nagel die Pulsadern der linken Hand auf und verletzte dabei Nervenstränge. Ist Ihnen die Wunde aufgefallen?
Nein. Auch nicht die Wunde an seinem Kehlkopf, die von seinem zweiten Selbstmordversuch stammte. Die GIs, die ihn Spießruten laufen ließen, hatten zuvor ein Außenlager des KZs Dachau befreit und dabei Leichenberge und zum Skelett abgemagerte Überlebende entdeckt. Deshalb droschen sie den Polenschlächter voller Wut aus der Hose. Wohl aus Schmerz und Schock wollte er sich daraufhin umbringen.

Wie lange haben Sie mit Ihrem Vater gesprochen?
Nicht länger als sieben, acht Minuten. Ich war natürlich stumm. Er erzählte mir, dass wir bald alle gemeinsam in unserem Haus am Schliersee fröhlich Weihnachten feiern und er uns dann auch wieder vom Huber Toni erzählen würde. Das war seine einzige lustige Geschichte: Der Huber Toni hatte beim Scheißen im Wald immer solche Angst vor Räubern, obwohl er selbst ein Räuber war. Ich dachte: Warum lügt er? Er weiß doch, dass er gehängt wird! Es war eine Riesenenttäuschung für mich. Ich hatte gehofft, er würde ehrlich zu mir sein. Immerhin war ich damals sieben Jahre alt. Ein scheißender Huber Toni reicht nicht fürs Leben.

Waren Sie überzeugt, dass man Ihren Vater zum Tode verurteilen würde?
Es war klar, dass es für Vati ans Eingemachte ging. Die Kinder in der Schule sagten mir fröhlich: »Gell, Niki, dein Papa wird bald aufg’hängt.« Und ich habe »Ja!« gesagt. Vatis Anwalt hatte Mutti schon im Sommer 1946 gesagt, dass alle, die in überfallenen Ländern führend tätig gewesen seien, keine Chance hätten.

»Er endete mit dem Satz: »Ewig bete ich für Dich, mein Nicki.« Der hätte in Steno beten müssen, so vielen hat er das versprochen gehabt..«

Der dreijährige Niklas im karierten Anzug mit Vater Hans Frank und Mutter Brigitte 1942 auf der Wawelburg in Krakau, dem Dienstsitz des Vaters. Die Familie lebte dort bis 1944.

Die Verkündung der Urteile am 1. Oktober ’46 wurde live vom Bayerischen Rundfunk übertragen.
Die Mutti hatte eine Liste mit den Namen der Angeklagten gemacht und kreuzte während der Übertragung jeden an, der zum Tode verurteilt wurde. Auch bei ihrem eigenen Mann machte sie das Kreuz. Das, muss ich sagen, bewundere ich. Irgendwie war sie mit dem Urteil einverstanden. Doch dann kam wieder der Zorn über sie. Elf Tage später schrieb sie Vati ins Gefängnis: »Alle waren wir Opfer einer kleinen verbrecherischen Clique. Ich sehne die Atombomben herbei, wenigstens für mich und die Kinder.«

Haben Sie geweint, als Sie hörten, Ihr Vater sei zum Tod durch den Strang verurteilt worden?
Nein. Ich habe auch keinerlei Mitleid empfunden.

Ihr Vater wurde in der Nacht zum 16. Oktober 1946 in der Turnhalle des Nürnberger Gefängnisses gehängt. Die Henkersmahlzeit bestand aus Würstchen mit Kartoffelsalat, anschließend schrieb er Briefe.
Wenn ich in ein paar Stunden gehenkt werde, würde ich schreien vor Angst. Widerwillig muss ich ihm da Stärke zugestehen. Aber statt eines ehrlichen Abschiedsbriefes verfasst er, der Schreibtischmassenmörder mit Doktorhut, einen weiteren Schwulstlappen an seine Frau: »Die Wahrheit wird siegen! Ich war niemals ein Verbrecher! Meine ›Schuld‹ ist eine rein politische Angelegenheit – aber keine juristische.« Dabei war Vati genau informiert, was in den Vernichtungslagern seines Gouvernements passierte. Es war ihm nur piepegal gewesen.

Am Abend vor seinem Tod schrieb Ihr Vater Ihnen einen letzten Gruß in sein Gebetbuch. Haben Sie es noch?
Ja. Das war meine letzte Enttäuschung. Alle Welt schrieb mich Niki, ohne c. Jetzt kriege ich von Mutti dieses Büchlein überreicht, und was schreibt der Kerl? »Meinem lieben Nicki«, mit ck. Todtraurig und stocksauer war ich. Kinder sind so.

Was stand in dem letzten Gruß?

Er endete mit dem Satz: »Ewig bete ich für Dich, mein Nicki.« Blanker Quatsch, denn er hatte nur noch ein paar Stunden zu leben. Der hätte in Steno beten müssen, so vielen hat er das versprochen gehabt.

Die Leichen der Gehenkten wurden nachts in zwei unauffälligen Lieferwagen nach München gebracht und verbrannt. Die Asche wurde in Alu-Dosen gefüllt und in den Conwentzbach geschüttet, der in die Isar fließt. Die leeren Behälter zerschlug man mit Äxten.
Ich war zu der Zeit mit den zwei nächst älteren Geschwistern in einem Kinderheim in Schäftlarn. Die Kinderschwestern haben uns nichts von Vatis Tod gesagt. Ein paar Tage später kam die Mutti zu Besuch und sagte aufgesetzt fröhlich: »Schaut, ich habe ein Frühlingskleid an, weil Vati jetzt glücklich ist. Er ist im Himmel. Ihr müsst also nicht weinen.« Denn die beiden Geschwister heulten erbärmlich. Ich blieb still. Dass ich nicht mitheulte, fand die Mutti irgendwie beleidigend. »Warum weinst du nicht?!«, zischte sie mich an.

Was fühlten Sie?
Zum einen wusste ich ja, dass Vati gehenkt würde. Es war also keine Neuigkeit für mich, was Mutti erzählte. Zum anderen empfand ich diesen riesigen Druck: Ich liebe diesen Vater nicht und bin dadurch schuldig. Auch ein Kind weiß, es gehört sich, den Vater zu lieben und um ihn zu trauern. Niki mit ck, ein scheißender Huber Toni und ein gelogenes Weihnachtsfest, vor allem aber die erste Zurückweisung als »Fremdi« hatten den totalen Bruch erzeugt.

Wie sah die Zurückweisung aus?
Ich lief, ein Lätzchen um den Hals, um einen großen runden Tisch im Warschauer Schloss Belvedere hinter ihm her und wollte unbedingt in seine Arme. Aber Vati lief vor mir weg und rief mir spöttisch zu: »Was willst du denn? Du gehörst doch gar nicht zur Familie. Du bist doch ein Fremdi.« Drei Jahre war ich damals alt. Diese Zurückweisung hat sich mir eingebrannt in die Seele bis heute, mit 75. Viele Jahre später habe ich durch einen Brief rausbekommen, dass Vati glaubte, ich sei nicht sein Sohn, sondern der seines besten Freundes Karl Lasch, den er offensichtlich nicht ohne Grund »mein blonder Strolch« nannte. Lasch verführte wahllos und hatte auch ein Verhältnis mit Mutti. Vati hatte ihn im Generalgouvernement zum Gouverneur von Radom gemacht. Wegen Korruption und Schiebereien wurde er auf Befehl Himmlers verhaftet und in seiner Zelle erschossen.

Nach außen galten die Franks als nationalsozialistische Musterfamilie.
Die Ehe meiner Eltern war die absolute Groteske. Vati war eifriger Fremdgeher und hieß hinter vorgehaltener Hand der »große Rammler im Osten«. Auch Mutti hatte etliche Liebhaber, darunter den Staatsrechtler Carl Schmitt – mein dritter mutmaßlicher Vater. Als Vati sich 1942 wegen seiner wieder aufgetauchten Jugendliebe Lilly scheiden lassen wollte, denunzierte Mutti sie bei Himmler als Halbjüdin. Sie kämpfte eiskalt um ihre Ehe, natürlich nur wegen der Privilegien: »Ich bin lieber die Witwe als die geschiedene Frau eines Reichsministers!« Sie schaffte es, dass Hitler Vati die Scheidung verbot. Und dieser Jammerlappen ließ sich das gefallen! »Du bist eine Bestie!«, schrie er Mutti hilflos wütend an.

Sie waren sieben Jahre alt, als Ihr Vater gehenkt wurde. Waren Sie in dieser Zeit ein glückliches Kind?

Ja. Über der Familie lag zwar Tag und Nacht die Anspannung, wie das Urteil lauten würde, aber wichtiger als der Prozess war für mich, dass ich eine riesige Waffensammlung von den in die Alpenfestung fliehenden deutschen Soldaten hatte und jeden Tag im Wald herumballern konnte. Das war wunderbar.

Einmal haben Sie einen Dackel mit Kanonenschlägen in die Luft gesprengt. Nicht sehr sympathisch.
Das hatte – hoffentlich – nichts mit meinem Vater zu tun, sondern nur mit der Besitzerin des Dackels, die mich beim Stehlen ihrer Aprikosen erwischt und in der Volksschule verpetzt hatte. Als sie ihren fetten alten Dackel vor Judiths Laden in Neuhaus anband und ich per Zufall ein paar Schweizer Kanonenschläge in meiner Lederhose fand, habe ich sie dem Viech unter den Bauch gebunden. Ich stehe zu dieser Untat. Heute tut sie mir pflichtschuldigst leid. Als der Stern noch Klasse hatte, konnte ich mal einen Artikel über Theo Waigel mit dem Satz beginnen: »Wer als Bub Katzen am Schwanz an den Gartenzaun bindet, kann als Mannsbild so unsympathisch nicht sein.« Waigel hatte mir das erzählt. Wer auf dem Land zwischen Bauern aufwächst, die Hühner schlachten und sie zur Gaudi der Kinder noch ohne Kopf rumlaufen lassen, bekommt einen gesünderen Blick auf die Welt.

Genossen Sie bei Ihren Mitschülern einen Sonderstatus?
Nein. Eine Ausnahme waren die Wochenschauen, die damals vor den Hauptfilmen im Kino liefen. Da wurde immer über den Nürnberger Prozess berichtet, und meine Mitschüler sahen Vati in der ersten Reihe sitzen. Als später im Fernsehen die ersten Dokumentationen über die Nürnberger Prozesse liefen, ging der Kameraschwenk wie üblich von Göring aus nach rechts die erste Reihe entlang, wurde aber meist kurz vor Vati gestoppt. Familie Frank hing in dieser Sekunde mit schiefen Köpfen in den Sesseln, weil sie noch weiter nach rechts ins Gerät glotzte, um doch noch Vati ins Blickfeld zu bekommen. Die Enttäuschung war jedes Mal groß, weil unser Vati eben doch nicht ein so wichtiger Hauptkriegsverbrecher war, dass ihn die Kamera einfach zeigen musste. Tja, man ist schon ein gemischter Charakter.

Würden Sie Ihren Vater umarmen, wenn er jetzt zur Tür reinkäme?
Sicher nicht. Ich würde ihm sagen: »Willst du was essen, was trinken?« Und danach: »So, Vati, jetzt fangen wir an zu reden.« Ich sammle seit vierzig Jahren Material über ihn. Jetzt kenne ich Vati bis in sein Innerstes. Klar, es gibt keine wirkliche Aufarbeitung und keine wirkliche Vergangenheitsbewältigung, geschehen ist geschehen, aber ich würde ihn mit all meinen Fundstücken konfrontieren.

Auf die Frage, ob Ihr Vater ein Gesinnungstäter war oder ein räuberischer Ganove, der ans große Geld wollte, haben Sie einmal geantwortet: »Wenn Hitler gesagt hätte, lasst uns alle Oberpfälzer umbringen, hätte mein Vater auch ja gesagt. Die Millionen Leichen waren ihm wurscht, Hauptsache, der Mercedes.«
Ich bin mir sicher, dass er kein wirklicher Antisemit war. In den Tagebüchern, die er mit 19, 20 geschrieben hat, ist kein einziger antisemitischer Satz drin. Hitler hat ihn als Generalgouverneur nur genommen, weil er genau wusste, dass Vati eine nachgerade homoerotische Verehrung für ihn hegte und nie Widerstand leisten würde. Wie gesagt, wenn Hitler statt der Juden die Oberpfälzer als Parasiten am deutschen Volkskörper ausgelöscht haben wollte, wäre das Vati auch scheißwurschtegal gewesen. Hauptsache, er konnte brillieren. Wenn er als Generalgouverneur zum Mord an den Juden und Polen aufrief, sagte er nicht einfach nur: »Lasst sie uns vernichten!« Nein, er machte eine sprachliche Pointe daraus: »Wenn ich für je dreißig Polen, die ich erschießen lasse, ein Plakat aushängen ließe, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, um all das Papier herzustellen für solche Plakate.« Das ist pointiert formuliert und hat bösen Witz. Oder er fragte in Lemberg höhnisch: »Ich bin eben durch dieses alte Judennest gefahren: Ich habe ja gar keinen dieser Plattfußindianer mehr gesehen! Habt ihr etwa etwas Böses mit denen angestellt?« Das hat doch was! Klar, dass der Saal voller Deutscher mit »großer Heiterkeit« reagierte, wie im Protokoll zu lesen ist.

Ihre Mutter kam aus bitterarmen Verhältnissen. Zeitzeugen beschrieben sie als eine zum Fürchten tüchtige Überlebenskampfmaschine, willensstark, mitleidlos, ungebildet, habgierig.
Ja, das war sie wohl. Ich habe allerdings nie wieder einen Menschen getroffen, der so in der Wirklichkeit gelebt hat wie sie. Ein paar Wochen nach Kriegsende verkaufte sie ihre von Juden in Polen geraubten Juwelen in Schliersee an Juden, die den Holocaust überlebt hatten, als sei nichts passiert. Schon in den Dreißigerjahren, als Vati Reichsminister war und sie mit eigenem Horch und eigenem Chauffeur das Dritte Reich genoss, sagte sie: »Kinder, ich weiß, eines Tages werde ich euch wieder mit meiner Schreibmaschine ernähren müssen.« Ihre Absturzhöhe 1945 war enorm: Die Reichsministergattin und Königin von Polen mit überquellenden Schmuckkassetten und Dutzenden von Pelzen landete plötzlich in einer feuchtkalten Zweizimmerwohnung ohne Bad. Das Frank’sche Vermögen wurde eingezogen, und sie bekam keinen Pfennig Rente. Als kein geklauter Schmuck mehr zu verkaufen war, hatte sie nichts außer fünf ziemlich dämlichen Kindern. Besonders schmerzlich für mich: Es gab keinen Diener Johann mehr.

Ihre hungernden Kinder schickte sie zum Betteln.
Wir kriegten einen Zettel in die Hand und gingen von Bauer zu Bauer. Mein Bruder Michel war charmant und lustig und sah blendend aus. Er hat viel gebracht. Mir hat man nix gegeben. Ohne Johann, wie sollte ich das machen? Die Scham, dass ich nichts brachte, ist noch heute in mir drin.

Im Mai 1947 wurde Ihre Mutter wegen Flucht- und Verdunklungsgefahr verhaftet und ein Vierteljahr lang in ein US-Lager bei Augsburg gesperrt.
Ich habe sie mehrmals besucht und traf auch auf die anderen Hohen Frauen: Frau Göring, Frau Frick, Frau von Schirach oder Frau Heß. Denen ging es da richtig gut. Sie mussten nichts arbeiten, saßen in der Sonne, feierten mit Fresspaketen der Verwandten von Hermann Görings erster Ehefrau Carin aus Schweden, und waren quietschfidel. Einmal fragte mich Mutti bei einem Besuch: »Kannst du das hören?« Ich hörte etwas, konnte es aber nicht identifizieren. Da sagte sie: »Das ist die Ilse Koch, die sie die Bestie von Buchenwald nennen. Die sitzt dort drüben im Keller und singt Nazi-Lieder.« Als Mutti braun gebrannt nach Hause kam, sagte sie: »Kinder, das war mein schönster Urlaub.«

Ihre Mutter wurde als Minderbelastete eingestuft.
Sie konnte zig Persilscheine von Freundinnen und ehemaligen Günstlingen vorweisen. Mit den vielen Juden, die sie angeblich gerettet hatte, hätte man halb Palästina bevölkern können.

Bei Ihnen zu Hause fanden regelmäßig Séancen statt, bei denen mit Ihrem toten Vater geredet wurde.

Damit bin ich aufgewachsen. Tante Martel, Muttis Schwester, galt als Medium für das Herbeirufen von Toten. Der Ärger war nur, dass ihr zunächst immer ihr verstorbener Mann Julius erschien. Der hatte Selbstmord verübt. Das regte uns auf. Wir wollten natürlich mit Vati sprechen. Wir mussten also Julius erst wegschicken, dann stöhnte Tante Martel laut und lange, bis sie endlich Vati rangezerrt hatte. Einmal hat es mich allerdings wirklich gerissen. Mutti fragte neben ihrer in Trance stöhnenden Schwester: »Hans, wenn es wirklich du bist und kein böser Geist, dann klopf jetzt bitte mal im Schrank.« Und ich sage Ihnen, es klopfte im Schrank! Unglaublich! Sogar jetzt werde ich noch ein bisschen zittrig.

Hangmen also die: John Woods, als Henker von Nürnberg zu Weltruhm gelangt, starb 1950 beim Ausprobieren eines elektrischen Stuhls.
Mutti hat sich diebisch darüber gefreut. Zur Feier des Tages gab es Bohnenkaffee. Sie kannte das Foto des lachenden Henkers von Nürnberg mit dem Strick in der Hand. Da kannst du als Witwe von seinen Händen schon ein bisserl zornig werden. »Wenn das kein Zeichen des Himmels ist«, sagte sie. Da war sie ganz schnell auf Gottes Seite.

1953 gelang Ihrer Mutter ein geheimer Bestseller. Unter dem Titel Im Angesicht des Galgens veröffentlichte sie im Eigenverlag Brigitte Frank Aufzeichnungen, die ihr Mann in seiner Nürnberger Zelle verfasst hatte. Um Käufer zu finden, schrieb sie Tausende Werbebriefe.
Sie hat sich für uns Kinder aufgearbeitet. Sie hatte die clevere Idee, die Empfänger persönlich anzureden, und hämmerte mit so viel Kraft auf die Tasten, dass die Adressaten an der Wölbung der Buchstaben im Papier sehen konnten, dass sie ein Original in der Hand hielten. Das kostete natürlich eine wahnsinnige Arbeitszeit. Sie saß schon morgens um vier an ihrer Erika-Schreibmaschine, und das Geklapper ging bis abends. Sie hat das Buch für 4,50 Mark drucken lassen und für 19,50 Mark verkauft. Da sie nie einen Pfennig Steuer zahlte, hatte sie eine Höllenangst vor dem Finanzamt. Wenn ich zu Hause war und es an der Tür läutete, sagte sie leise zu mir: »Niki, schau durch’s Guckloch. Wenn’s ein Mann mit ’ner Aktentasche ist, sind wir nicht da.«

Ihre Mutter verdiente mit Im Angesicht des Galgens rund 250 000 Mark.

Der Chef von VW hat nicht nur zig Exemplare gekauft, sondern ihr auch noch einen VW Käfer geschenkt. Sie zog in eine herrschaftliche Wohnung am Schwabinger Josephsplatz und flanierte im Persianer durch München. Nachmittags trank sie im »Carlton« oder »Regina« Tee und hielt wieder Hof wie als Königin Polens auf dem Wawel in Krakau.

»Muttis Tod war eine große Befreiung. Endlich konnte sie mich nicht mehr in meinen Feigheiten ertappen.«

Die Vergangenheit lässt ihn nicht los. Niklas Frank lebt heute auf dem Land in der Nähe von Hamburg.

Fünf Jahre später hatte Ihre Mutter das Geld durchgebracht. Herzkrank, mit Wasser in den Beinen und drei Schachteln Camel am Tag rauchend rutschte sie ins Elend.
Als null Geld mehr da war, machte sie aus ihrer Altbauwohnung ein Billigasyl. An den Stuckdecken der Zimmer brachte sie Laufschienen an, arbeitete Bettlaken zu Vorhängen um und bugsierte sie in die Schienen. So entstanden ein Dutzend Kabuffs, in die sie Matratzen und Wolldecken legte. Dann fuhr sie am Abend mit der Tram zum Hauptbahnhof und sprach Leute an, ob sie für fünf Mark bei ihr übernachten wollten. Wenn ich in den Internatsferien bei ihr wohnte, wusste ich nicht, wo ich schlafen kann, weil überall Fremde hausten. Das war eine Wirklichkeit, die Mutti nicht mehr ertrug. Sie brach zusammen. Es war das einzige Mal, dass ich sie weinen sah. Da habe ich richtig gelitten. Und sie sehr geliebt. Ein halbes Jahr später starb sie, mit 63.

Wer zahlte Ihr Internat?
Der Hilfsfonds Freunde der Familie Frank. Ich kam mit zwölf aufs Internat in Wyk auf Föhr und blieb dort bis zu meinem miserablen Abitur 1959.

Gefiel Ihnen das Internat?
Ja, es war meine Heimat. Ich erlebte dort eine unheimlich glückliche Zeit. Das Internat wurde nach den Regeln des Deutschritterordens geführt. Es ging sehr streng zu, mit Appell und Morgenlauf und sehr viel Sport. Dort war ich richtig daheim und bei mir. Der Leiter, Pastor Lohmann, war für mich Ersatzvater. Er sammelte gerne Nazi-Kinder und sagte mir einmal, als ich so um die 14 Jahre alt war: »Niki, dein Vater war der beste Redner, der war besser als Hitler, Goebbels, Göring!« Dennoch war es keine versteckte Napola.

Wussten Ihre Mitschüler, wer Ihr Vater war?
Nein. Die beiden Ribbentrop-Söhne, Adolf und Barthold, waren auch einige Jahre da. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit denen je über unsere gehängten Väter geredet hätte.

Wenn Sie nach Hause trampten, protzten Sie vor den Fahrern mit Ihrem Vater. Warum?
Weil ich mit dieser Nummer glänzend gefahren bin. In den Fünfzigerjahren waren es ja meist die alten Nazis, die die ersten Autos fuhren. Und ich wusste, ich krieg von denen was zu essen oder Geld, wenn ich sage, dass ich der Sohn des Generalgouverneurs von Polen bin. Es hat sich immer ausgezahlt. Das war von mir ein übles und eiskaltes Ausnutzen der Verbrechen meines Vaters.

Hatte Ihre Mutter nach 1945 Liebhaber?
Vielleicht einen, aber das ist unsicher. Die Mutti hat alles aufgeschrieben und aufgehoben, sogar das Intimste. Deswegen weiß ich, dass sie nie einen Orgasmus gehabt hat. Geschlechtsverkehr war für sie Dienst am Manne. Es ist unglaublich, mit welcher Härte sie die Männer durchschaut hat. Über ihre beiden Schwiegersöhne sagte sie einmal zu mir: »Ich hätte sie zertreten.« Und der amerikanische Pater, der meinen Vater getauft und zum Galgen begleitet hatte, erzählte mir: »Niklas, Ihr Vater hatte noch im Nürnberger Gefängnis Angst vor Ihrer Mutter!«

Drei Tage vor ihrem Tod im März 1959 sagte sie Ihnen: »Du hast mich nie gemocht, was, Kleiner?«
Das hat sich mir natürlich eingebrannt. Ich habe ihr meine bockige Liebe auch nie gezeigt, außer beim Haarekämmen. Wenn ich sie kämmte, machte sie die Augen zu und schnurrte wie eine Katze. Das war für mich toll. Da war ich ihr sehr nah, weil ich ihr Zärtlichkeit geben konnte. Sie selbst war kein zärtlicher Mensch. Herzlichkeit, Umarmungen, Bussis, das gab es bei ihr nie. Wir fünf Kinder haben diese Kälte, die sie uns während der hohen Zeit der Franks zeigte, durch noch eisigere Kälte heimgezahlt, als sie am Boden lag.

Wie hat Sie die Nachricht vom Tod Ihrer Mutter erreicht?
Ich war im Internat und hatte eine Platte Kuchen bestellt, weil ich Geburtstag hatte. Als ich das Blech über den Appellplatz zu meiner Bude trug, rief mich die Sekretärin ins Büro, da wäre ein Telefongespräch für mich. Ich habe den Kuchen abgestellt, und meine schwer heulende Schwester Brigitte sagte mir, die Mutti sei gestorben. Dazu habe ich mal wieder »Ja« gesagt, bin mit dem Kuchen zu den anderen und habe fröhlich gefeiert. Dass mir eben meine Mutter weggestorben ist, habe ich nicht gesagt, denn ich war wirklich fröhlich. Muttis Tod war eine große Befreiung. Endlich konnte sie mich nicht mehr in meinen Feigheiten ertappen.

Gehen Sie ans Grab Ihrer Mutter?
Selten. Ich kann keine Beziehung zu ihr aufbauen, wenn ich vor dem Grab stehe, denn als meine Schwester Gitti starb, hat ihr Ehemann aus Geiz gebeten, dass sie auch in Muttis Grab gelegt würde. Mein Bruder Norman gestattete es. Mutti musste ausgegraben werden, und ihre Knochen lagen während Gittis Beerdigung in einem offenen Plastiksack hinter dem Nachbargrabstein. Ihr bleicher Schädel mit den riesigen Augenhöhlen lugte hervor. Ich konnte sehen, dass sie ein Gebiss trug. Da hab ich kurz aufgelacht. Die Trauergäste dachten sicher, ich sei debil. Der Tod und das Groteske – wie Muttis plötzlich herübergrüßendes Gebiss – haben mich immer fasziniert. Als mein Bruder Norman 2009 starb und in der Anatomie von Medizinstudenten zerwirkt wurde, hätte ich zu gerne selbst Skalpell angelegt. Aber der Professor durfte es mir nicht erlauben. Ich habe Norman sehr geliebt – im Rahmen der ziemlich beschränkten Frank’schen Liebesmöglichkeiten – und wäre ihm beim Aufschneiden noch einmal ganz nahe gekommen.

Sind Sie sich manchmal selber unheimlich?
Nein, das war ich mir noch nie. Ich finde mich rundum glänzend misslungen. Wenn wir zu meiner Lebensphilosophie kommen: Für mich war stets die Groteske das Wichtige. Auch bei Interviews habe ich danach gesucht. Als ich mit Thomas Bernhard in seinem Bauernhof in Ohlsdorf saß, klingelte es draußen. Bernhard ging hin. Als er zurückkam, sagte er: »Weil wir gerade über die Groteske des Lebens reden: Draußen stand meine Putzfrau, um mir zu sagen, dass sie heute nicht kommt.«

Wussten Ihre Freunde und Journalistenkollegen, wer Ihr Vater ist?
Nein. Nur einmal wurde nachgeforscht. Als ich 1973 zum Playboy ging, lud mich der von Hugh Hefner eingesetzte Supervisor, Mister Spelman, zum Mittagessen ein und sagte: »Herr Frank, wir wissen sehr wohl, wes’ Vaters Kind Sie sind. Aber wenn Sie mir versprechen, dass Sie im Playboy nicht Ähnliches wie Ihr Vater verlauten lassen, haben Sie hier freie Hand.« Ich und zwischen nackten Mädchen im Playboy wie Vati den Holocaust einfordernd!

1987 haben Sie sich mit Ihrem Buch Der Vater. Eine Abrechnung selbst geoutet. Wie kam es dazu?

Als Internatsschüler bin ich oft mit dem Rad nach Wyk in die Buchhandlung gefahren, um im Namensverzeichnis zeitgeschichtlicher Neuerscheinungen unter »Frank, Hans« nachzuschauen. Dann las ich schnell die Seiten, auf denen er erwähnt wurde. Als ich mit 22 meine spätere Frau kennenlernte, habe ich ihr gesagt: »Eines Tages schreibe ich über meinen Vater.« Aber das tat ich erst, als ich schon auf die 50 zuging. Unbewusst hatte ich immer den Satz im Kopf: Ich lasse mir von diesen Eltern mein eigenes Leben nicht kaputtmachen! Den Vater habe ich in einem zwölfwöchigen Rauschzustand in Muttis alte Erika-Schreibmaschine gehackt, mit der sie Vatis Geschreibsel aus der Nürnberger Zelle zum Bestseller gemacht hatte. Das war ein äußerst zorniger Kampf gegen meinen Vater, verbunden mit dem befriedigenden Gefühl: Heute wieder schwere Schläge gegen dich geführt, Vati! Ihn verbal in den Dreck zu ziehen, löste ein unendliches Triumphgefühl in mir aus. Es löste auch meine Angst vor ihm, denn er beherrscht ja noch immer mein Gehirn, dieser verfluchte Kerl.

Ihr Buch löste einen Eklat aus. Der Hauptgrund war, dass Sie beschrieben hatten, wie Sie als Jugendlicher jahrelang zu der Vorstellung onaniert haben, wie Ihr Vater gehängt wird. Zitat: »Ich mochte Dein Sterben. Ich legte mich nackt hin, auf das stinkende Linoleum der Toilette, die Linke am schlaffen Glied, und mit einer leichten Rubbelbewegung fing ich an Dich zu sehen, wie Du auf und ab gehst in Deiner Zelle, die Fäuste gegen die Augäpfel gepresst … und dann führten sie Dich die 13 Stufen – Symbolik muss sein – hinauf, die Haube drüber, den Strick um den Hals und ab in die Ewigkeit. Dafür krieg ich den Orgasmus.«
Die Toilette mit dem Linoleum war in der Dürnbachstraße 7 in Neuhaus am Schliersee. Wir vier Geschwister lebten zusammen mit unserer Mutter in dieser Zwei-Zimmer-Wohnung. Die älteste Schwester hatte schon geheiratet. Die Toilette war der einzige Ort, an dem man für sich sein konnte. Dort habe ich vier Jahre lang die Hinrichtung meines Vaters mit Lust zelebriert. Die Todesnacht zum 16. Oktober wurde von Mutti immer feierlich mit Kerzen und lautem Gedenken begangen. Mich indes drängte es aufs Linoleum. Warum, wusste ich lange nicht. Erst eine Journalistin hat mir die Augen geöffnet: »Herr Frank, Sie haben Ihren Orgasmus als Zeichen des Überlebenswillens gegen diesen Vater gesetzt.«

Sie haben in den Folgejahren Bücher über Ihre Mutter und einen Ihrer Brüder geschrieben. Ihr Bruder Norman warf Ihnen mal »unappetitlichen Exhibitionismus aus Ruhmsucht« vor. Ist da etwas dran?

Ja und nein. Wenn ich so im Kreis der schreibenden Nazi-Täter-Nachkommenschaft herumschaue, entdecke ich eine gewisse Eitelkeit. Gegen die kämpfe ich bei mir an, indem ich mir immer wieder klarmache, dass es die Millionen unschuldig Ermordeten sind, denen ich die Einladungen zum Lesen aus meinen Büchern verdanke. Wenn ich danach zum Beispiel eine Flasche Schnaps oder Wein überreicht bekomme, halte ich sie hoch und sage ins Publikum: »Sie sehen, welchen Gewinn man einstreicht, wenn man auf dem Ticket eines Nazi-Verbrechers fährt.«

Sie haben Der Vater in Ihrer Zeit als Kulturchef des Stern veröffentlicht. Waren Sie als Branchenprofi gegen Verrisse immun, die Ihr Buch als »Seelengekröse« und »hassverseuchtes Gefasel« eines Psychopathen geißelten?
Nein, ich war total im Arsch. Ich dachte, die lieben Kollegen würden sofort kapieren, dass ich dieses Buch aus Zorn über die Verbrechen der Nazi-Zeit geschrieben habe und zeigen wollte, wie es in einer Familie zugeht, die ihre Moral unterdrückt und auf einem Meer von Blut ein prächtiges Leben feierte. Aber meine Verzweiflung dauerte nicht lang. Dann gewann wieder dieses merkwürdige andere Gefühl in mir die Überhand: Ihr könnt mich alle mal! Norman hatte auch dieses Überlegenheitsgefühl und führte es darauf zurück, dass wir zwölf Jahre lang Dienerschaft hatten. Massenmörder mit Hofstaat adelt. Keiner von den kleinen Scheißern kommt an mich heran! Dank Johann.

Ihr Vater-Buch schließt mit der Prognose, dass Sie ein »ewig kindlicher Zombie« bleiben werden, da Ihnen Ihr Vater »wie ein Schweinsrüssel« im Hirn steckt.
Er ist immer gewärtig. Du kriegst ihn nicht los. Zwar bin ich schon mein eigener Mensch geworden, aber der Vati ist immer noch wie eine stickige Haube über mir. Sicher ist manches an mir nur zu verstehen, wenn man weiß, dass ich keine Liebe empfangen habe. Aber das haben Millionen an-derer Kinder auch erlebt und sind doch großartige, selbstsichere Menschen geworden.

Es heißt, aus ungeliebten Kindern werden Erwachsene, die nicht lieben können.
Nicht ganz. Ich habe viele emotional schräge Stücke geliefert und meine Umgebung rücksichtslos verletzt. Aber ich kann schon Liebe zeigen, wenn auch in sehr schwieriger und komplizierter Weise. Wenn du diesen Vater-Dreck überleben willst, geht das nur durch Witz. Was ich nicht ironisieren kann, bringt mich an den Galgen. »Eltern sind nicht totzukriegen, aber man kann versuchen, sie kleinzulachen«, schrieb mir mal ein Leser. Ich sehe mich immer – auch jetzt in dieser Sekunde – aus zwei bis drei Meter Höhe, und was ich da sehe, macht mir oft rote Ohren. Dennoch werde ich dadurch nicht zum besseren Menschen. Ich sehe, was ich anrichte, und ich richte es trotzdem an.

Glauben Sie, dass Charakter erblich ist?

Mein Bruder Norman sagte, ein Kriegsverbrechersohn darf keine Kinder haben. So ein blöder Quatsch. Das ist faschistische Denke.

Träumen Sie von Ihrem Vater?
Ich habe mein ganzes Leben lang nicht von ihm geträumt, doch vor zwei oder drei Jahren erlebte ich plötzlich diesen Dreckstraum: Ich gehe eine Straße entlang. Neben mir geht Vati, groß gewachsen. In seinem Ledermantel. Viel größer als ich. Ich rieche das Leder seines Mantels. Er blickt auf mich herab und strahlt eine unendliche Verachtung auf mich aus, weil ich dieses Buch über ihn geschrieben habe. Beim Aufwachen war ich natürlich stocksauer, weil es küchenpsychologisch so verflixt offensichtlich ist: Ich suche eben doch noch nach Vatis Liebe. Zum Kotzen!

Drei Ihrer Geschwister waren Nazis. Als Sie nach langem Schweigen Anfang der Achtzigerjahre Ihre Schwester Sigrid in Südafrika anriefen und fragten, was sie gerade mache, bekamen Sie zur Antwort: »Ich rechne aus, wie lange jeder Jude hätte brennen müssen, wenn wirklich sechs Millionen vergast und verbrannt worden wären.«

Sie hat Vati hoch verehrt und hielt den Holocaust für eine Lüge. 1966 ist sie mit Freuden nach Südafrika ausgewandert, weil sie das Apartheid-Regime schätzte. Meine Schwester Gitti verübte mit 46 Jahren Selbstmord. Schon in ihrer Jugend hatte sie davon gesprochen, nicht älter werden zu wollen als Vati, der ja mit 46 hingerichtet worden war. Mein Bruder Michel trank sich mit bis zu 13 Litern Milch am Tag in den frühen Tod mit 53 Jahren. Norman verhielt sich anders. »Mein Vater war ein Nazi-Verbrecher, aber ich liebe ihn«, war sein Lebensfluch. Aus dieser Falle wollte er nie raus. Immerhin hat er sich den Verbrechen unseres Vaters gestellt und sie anerkannt. Prompt wurde er achtzig Jahre alt – wenn auch als lebenslanger Alkoholiker, der manchmal nachts auf allen Vieren durch die Wohnung kroch und um Schnaps bettelte.

Von den fünf Frank-Kindern sind vier am untoten Vater krepiert. Warum Sie nicht?
Woher wissen Sie, dass ich nicht? Meine drei zu früh gestorbenen Geschwister hätten unvoreingenommen prüfen sollen. Aber die haben Vati nur immer als unschuldiges Opfer von Hitler und Himmler verteidigt. Das zog ihnen die Lebenskraft raus. Gegenüber allen vier Geschwistern hatte ich allerdings den Vorteil, dass mich unser Vater zunächst als untergeschobenen Balg zurückgewiesen hatte. Das schuf schmerzliche, aber auch gesunde Distanz. So konnte eine alles verzeihende Liebe gar nicht erst aufkommen. Ich habe nur per Zufall der Geburt mit Vati zu tun. Aber ich bin per Zufall auch Deutscher. Ich werde weder meinem Vater noch uns Deutschen je verzeihen können, was wir in zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 angerichtet haben. Seitdem sind wir in gewisser Weise ein auserwähltes Volk: Wir wissen, dass Feigheit und Schweigen bis zum Holocaust führen können. Doch was erlebe ich? Täglich blinzelt mir mein Vater listig vom Totenfoto in meiner Jackentasche zu. Nein, er und seinesgleichen sind noch lange nicht tot hierzulande.

Wer, glauben Sie, ist Ihr leiblicher Vater: Karl Lasch, Carl Schmitt oder Hans Frank?
Die Lösung ist einfach: Ich schaffte es nie, so ein Frauenheld zu sein wie der Schieber Karl Lasch, ich konnte nie so viele anbetende Jünger um mich scharen wie der Staatsrechtler Carl Schmitt, aber ich kämpfe schon ein Leben lang gegen meine innere Feigheit an, und die kann ich nur von diesem Hans Frank geerbt haben. Tja, ich bin nun mal sein echter Sohn.

(Familienfoto: privat)

Fotos: Armin Smailovic