Schreiben mit Donna Leon

Es klang ganz einfach: a) Gute Bücher lesen. b) Darüber reden. c) Daraus Schreibregeln ableiten. Aber natürlich ist es anspruchsvoller. Eine Reise ins Wallis.

In einer weißen Bluse, den Pullover sportlich über die Schultern geworfen, steuert Donna Leon auf ein Grüppchen von Teilnehmern zu. »Ganz schön rot dies Jahr«, sagt sie und zeigt auf die wirklich roten Haare einer jungen Frau. Die strahlt zurück.

An einem kühlen Samstagabend im Juli finden sich im schweizerischen Ernen, im Garten neben dem Laden »Waren aller Art«, rund 40 Leute zusammen, um eine Woche lang an den Vormittagen bei Donna Leon das Schreiben von Geschichten zu erlernen und abends Barockmusik zu hören. Zur Begrüßung gibt es erdigen Wein aus dem Wallis und Häppchen aus dem Slow-Food-Restaurant am Dorfplatz.

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Donna Leon, von Weitem schon erkennbar am silbernen Schopf, wirkt vertraut mit diesen Leuten, die einander auch wie alte Bekannte begrüßen: drei Küsschen, in der Schweiz so üblich.

Ernen liegt dem Himmel sehr nah auf 1196 Metern, ist umgeben von Gipfeln und doch nicht eng: Rechts und links dehnen sich frisch gemähte Wiesen und üppige Gemüsegärten, gesäumt von dunklem Nadelwald. Aus dem Tal dringt das Rauschen der Rhone hinauf. Vor 40 Jahren verliebte sich der ungarische Pianist György Sebök so sehr in diesen Ort, dass er jeden Sommer Meisterkurse hier abhielt. So kam es zum Musikfestival. Von Anfang Juli bis Ende August spielen nun renommierte Musiker Klavier-, Barock- oder Kammermusik. Und weil Donna Leon die Barockmusik sehr verehrt, entstand vor zehn Jahren die Idee, dass sie eine Schreibwerkstatt anbieten könnte – um mehr Menschen nach Ernen zu locken und ihnen diese Musik näherzubringen.

Der Plan ging auf: inzwischen sind die meisten Kursteilnehmer Fans der Barockmusik geworden und kommen immer wieder. Susanne mit den roten Haaren ist zum siebten Mal hier, Esther zum achten Mal. »Man wird süchtig«, sagt sie.

Sonntagmorgen, neun Uhr dreißig im Tellenhaus. Das Gebäude am Dorfplatz, erbaut 1576, schmücken Fresken, die das Leben des Schweizer Freiheitskämpfers Wilhelm Tell darstellen. Der Kurs beginnt, Donna Leon stellt Judith Flanders vor, mit der sie durchs Seminar führen wird. Flanders, in London geboren, ist Historikerin und Sachbuchautorin und hat den allerbösesten britischen Humor. Und auch wenn Donna Leon berühmt ist für ihre Venedig-Krimis mit Commissario Brunetti, die in 35 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft werden, behandelt sie in der Schreibwerkstatt keine Kriminalromane, sondern Klassiker der anglo-amerikanischen Literatur: Zur Vorbereitung sollten die Teilnehmer Edith Whartons Custom of the Country und Jane Austens Pride and Prejudice lesen. Im Original, die Seminarsprache ist Englisch.

Edith Wharton also. Langweiliges Buch, nicht wahr? Donna Leon guckt erwartungsvoll in die Runde. Gemurmel: Man fragt sich natürlich, wofür man es dann gelesen hat? Donna Leon: »Weil es interessant ist, das schlechteste Buch einer guten Autorin zu lesen und zu ergründen, woran es hakt.«

Und woran hakt es? An der unsympathischen Heldin, die sich nicht entwickelt. Daraus folgt Schreibregel Nummer eins: Ein Held kann gebrochen sein, Mist bauen, blöd sein, aber er muss sich entwickeln. Schreibregel Nummer zwei: »Ihr müsst den Leser zum Lachen bringen, zum Weinen, zum Warten.« Wie sich herausstellt, übt man an den Vormittagen im Kurs nicht Schreiben, sondern liest Bücher mit Verstand. Und setzt sich nachmittags hin, schreibt und arbeitet dabei die neuen Erkenntnisse ein. Schreibtipp Nummer drei: »Lesen, lesen, lesen. Bücher, wie ihr sie gern schreiben würdet. Und Bücher, wie ihr sie auf keinen Fall schreiben möchtet.«

Nach der Kaffeepause: Jane Austen. Den Roman liebt Donna Leon, vom ersten, berühmten Satz an: »Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle, der ein beachtliches Vermögen besitzt, zu seinem Glück nur noch einer Frau bedarf.« Judith Flanders berichtet, wie materialistisch und frauenverachtend die englische Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts war: Vor dem Gesetz waren Mann und Frau eine Person. Diese Person war der Mann. Männer hatten Sorgerecht, egal was der Trennungsgrund war. 1839 bekam eine Mutter das Recht, ihre Kinder zu sehen, bis sie sieben Jahre alt waren.

»Niemand will der Beste sein, darum gibt es auch keinen Schlechtesten.«

Jane Austen hielt die Ungleichheit zwischen Mann und Frau nur aus, indem sie in ihren Büchern ständig Spitzen dagegen unterbrachte. Jeder ihrer Sätze ist eine Miniatur, schwärmt Donna Leon. Wie die Aufzählung des einfältigen Mr. Collins, was eine Frau heiratswürdig mache: Geld, Geld und Geld. Was sich für uns vielleicht lustig anhört, sagt Judith Flanders, war in Jane Austens England bitterer Ernst. Es ist inspirierend, angeregt von den beiden Dozentinnen über Bücher zu reden, ab und zu einen guten Witz (von Donna Leon) und einen bösen (von Judith Flanders) zu hören.

Und dann ist da die Musik: Drei Konzerte in einer Woche, und jeden Nachmittag kann man sich die Proben in der Kirche anhören. Das Ensemble spielt in dieser Formation – mit Laute, Harfe und Cembalo – nur in Ernen. Die Stücke sind kurz und leicht und haben einen Beat, als wäre die Barockmusik die Rock-n’-Roll-Version der Klassik. Durch die historischen Instrumente ist die Tonlage recht tief, sodass die Sopranistin die Händel-Arien auch tiefer intoniert. Zum Heulen schön.

»Das Seminar macht jedes Jahr mehr Spaß«, sagt Donna Leon. »Der eine Teil der Leute kommt wieder, die Neuen bringen frisches Blut. Niemand will der Beste sein, darum gibt es auch keinen Schlechtesten. Die, die schreiben möchten, werden nicht als Konkurrenz betrachtet, sondern ermutigt.«

Donna Leon stammt aus den USA und hat vor ihrer Karriere als Krimiautorin Literatur an amerikanischen Schulen gelehrt. Sie hatte mal eine Schülerin, erzählt sie im Kurs, die konnte schreiben wie keine andere. Ein Riesentalent. Aber sie wollte nicht schreiben, sie hat dann irgendwas anderes gemacht mit ihrem Leben. Donna Leon seufzt: »Verrückt, oder? Wenn ich so begabt wäre, hätte ich den Pulitzer-Preis gewonnen und andere Bücher verfasst als die, die ich schreibe.« Wie locker und ehrlich sie ist, in dieser Runde. Und wie nüchtern sie ihr eigenes Werk betrachtet.

Sie erzählt diesen Leuten viel von sich: Wie sie ihren Arbeitsalltag in Venedig organisiert, an einem zu hohen Eichentisch auf drei Kissen sitzt, ihre Füße auf zwei Wörterbüchern, was sie höchstens 15 Minuten am Stück aushält. Wie sie sich nach ein paar Worten im Bus (»Wollen wir zu Mittag essen« – »Ich esse nicht zu Mittag«) in einen Mann verliebte und vier Jahre mit ihm verbrachte. Wie sehr sie Charlotte Lucas mag, die in Pride and Prejudice den idiotischen Mr. Collins heiratet: »Charlotte Lucas passt zu mir. Sie macht sich keine Illusionen.«

Weiter mit den Schreibtipps. Nummer vier: Auf Humor lieber verzichten, denn es gibt kaum zwei Menschen auf der Welt, die über denselben Witz lachen. Nummer fünf: Nicht missionieren, niemals. Nummer sechs: Ein Polizist als Hauptfigur hat Zugang zu Informationen, zu denen nicht jeder Zugang hat. Und, ganz wichtig: »Wenn man ein Jahr an einem Buch schreibt, vergisst man, was am Anfang passiert ist. Schreibt Listen zu jedem Kapitel: Welcher Tag? Was gab es zu essen? Wer war dabei, wer hatte was an?«

Am letzten Morgen tragen fast alle vor, was sie geschrieben haben. Die Texte sollten mit einer Variation des ersten Satzes von Pride and Prejudice anfangen: »Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass …« Es folgen Geschichten über betrügende Männer, verwöhnte Mädchen, Mutterliebe, Hänseleien, keine hat ein Happy End. Das Happy End besteht darin, dass die Teilnehmer sich trauen, aufzustehen und vorzulesen.

Zum Abschied wird Donna Leon für ihre Verhältnisse sentimental: »Das Festival braucht mich längst nicht mehr«, sagt sie. »Aber ich komme immer wieder.« Und Yumi aus Hamburg schreibt am Morgen der Abreise eine Mail an alle: »Als ich gestern Abend auf meinen verlassenen Platz zurückschaute, wurde ich sehr traurig.« Es ist was dran: »The Ernen thing«, wie Donna Leon die Woche nennt, macht süchtig.


Donna Leon

ist gebürtige Amerikanerin und lehrte vor ihrer Karriere als Schriftstellerin englische Literatur an amerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran, in China, Saudi-Arabien und 15 Jahre an der Außenstelle der Universität Maryland auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Vicenza. In Deutschland sind ihre Kriminalromane, die in Venedig spielen, sehr populär, auch weil sie ständig fürs Fernsehen verfilmt werden. Leon, 71, ist topfit, liebt die barocke Oper und lebt seit 1981 in Venedig.

Musikfestival Ernen vom 5. Juli bis 16. August 2014: www.musikdorf.ch/de/programm. Schreibseminar mit Donna Leon und Judith Flanders: 19. bis 25. Juli 2014. Karten und Anmeldung bei Francesco Walter: mail@musikdorf.ch

Fotos: Elisabeth Real