Die Millionenzunge

Die Britin Beth Anderson kann Geschmäcker so gut unterscheiden, dass sie damit ihr Geld verdient. Und nicht alles essen darf.

    Wenn ich mir morgens die Zähne putze, sehe ich ein kleines Stück meiner Zunge - und bin jedes Mal fasziniert, dass diese Zunge tatsächlich für eine Million Pfund versichert ist. Viel Geld für etwas, das man im Grunde kaum wahrnimmt. Ich habe ja nicht mal groß auf sie geachtet, bevor ich Testerin für Babyessen wurde. Heute aber ist meine Zunge - genauer gesagt: meine Fähigkeit, winzigste Nuancen in jeder Art von Geschmack wahrzunehmen - das wichtigste Werkzeug in meinem Job. Und deshalb hat mein Arbeitgeber, ein großer Nahrungsmittelhersteller, meine Zunge versichern lassen.

    Ich bin das, was Experten einen »Supertaster« nennen, Leute wie ich machen nur einen winzigen Prozentsatz der Bevölkerung aus. Normale Babys haben um die 10 000 Geschmacksknospen - und die Zahl reduziert sich dann im Lauf der Jahre auf 5000. Ich hatte von vornherein doppelt so viele wie andere Babys. Heute bin ich 26, ich müsste jetzt auf der Höhe meiner Geschmacksfähigkeiten sein - und habe immer noch ungefähr so viele Geschmacksknospen wie ein normales Baby.

    Als Kind war ich nie ein pingeliger Esser, mir ist nicht mal aufgefallen, dass mein Gaumen sich von dem anderer unterscheiden könnte. Erst an der Universität fiel mir auf, dass ich besonders empfänglich für Geschmack bin. Klar, ein gewisses Interesse gab es schon - ich habe Ernährungswissenschaften studiert. Aber alles Weitere wurde mir erst klar, als eine Kommilitonin ihre Dissertation schrieb. Da ging es um den Affenbrotbaum. Sie machte mich zum Versuchskaninchen: Sie mischte Affenbrot-Smoothies, und ich konnte bei jedem Glas die exakte Zusammensetzung herausschmecken.

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    Dass ich bei Essen praktisch jede noch so winzige Zutat erkenne, habe ich dann so richtig im Berufsleben festgestellt. Meinen ersten Job hatte ich auch schon als Essenstesterin. In einer Firma stellten sie mir ›flavoured water‹ hin, also Mineralwasser, das leicht mit Geschmack versetzt ist, und ich sollte nicht nur sagen, was drin ist, sondern auch, in welcher Zusammensetzung und Konzentration. Es stellte sich raus, dass ich das total leicht kann. Fast auf die Kommastelle genau.

    Dann kam ich zur Kindernahrung. Am Anfang schmeckte alles völlig fremd. Man braucht seine Zeit, bis man sich daran gewöhnt, ein ganzes Essen in Form von Brei zu sich zu nehmen. Und es ist gar nicht so leicht, sich in ein Baby hineinzuversetzen - weil Babys manchen Geschmack, den Erwachsene lieben, grauenhaft finden. Sie haben so viele Geschmacksknospen auf ihrer Zunge, unter ihrer Zunge, auf den Wangeninnenseiten. Ein Geschmack, der Erwachsenen vielleicht eher fad vorkommt, kann also für Kinder sehr viel intensiver sein. Andererseits gibt es Dinge, die Babys rätselhafterweise mögen, Erwachsene aber eher nicht. Ich ziehe da meine persönliche Grenze beim Thema Fischbrei: muss zumindest direkt nach dem Frühstück nicht sein.

    Wenn ich ein Glas Babybrei vor mir habe, geht es um Details: Schmecke ich die Karotten raus? Und die Kartoffel? Könnte man etwas verbessern? Was mir anfangs die größten Schwierigkeiten bereitet hat, war alles mit Erbsen. Ich bin kein großer Erbsenfan. Aber ich habe festgestellt: Man kann sich antrainieren, etwas zu mögen. Wirklich! Eigentlich eine ganz gute Aussicht für Eltern mit heiklen Kindern, oder? Geben Sie nicht auf! Stellen Sie ihnen den Brokkoli immer wieder hin! Ich bin der lebende Beweis, dass es geht - und ich habe weiß Gott empfindliche Geschmacksnerven

    Bleibt die Frage, ob diese Geschmacksnerven mein Leben im Alltag prägen. Ich würde sagen, gar nicht mal so sehr. Mein Freund hat vielleicht ein bisschen Sorge, ich könnte allergisch auf Mundgeruch reagieren, er wechselt ungewöhnlich oft die Zahnbürste. Das war’s auch schon. Und was das Essen außerhalb des Berufs angeht: alles kein Problem. Ehrlich! Im Gegenteil. Im Restaurant muss ich nur ein Gäbelchen von einem Salat probieren und weiß schon: ah, Olivenöl, Zitronensaft, Knoblauch in der und der Dosierung. Die Zutaten sind mir vollkommen klar.

    Aber wenn ich selbst koche, würze ich nie mit scharfen Zutaten. Senf oder Meerrettich zu essen, ist für mich richtig schmerzhaft. Das brennt nicht nur, das verbrennt meine Zunge relgelrecht. Und das kann ich mir bei meinem Job echt nicht leisten.«

    Protokoll: Emily Cunningham © The Guardian

    Illustration: Édith Carron