Der Herr der Fliegen

Niedliche Katzen und Hundewelpen lassen unseren Autor kalt. Aber sieht er ein Insekt in Not, kann er nicht anders: Er muss es retten. Das ist oft peinlich - und manchmal gefährlich.

Meistens werden die Neurosen von Erwachsenen mit traumatischen Erlebnissen aus ihrer Kindheit erklärt. Das zumindest kann ich ausschließen. Als Junge war mein Verhältnis zu Insekten ziemlich gewöhnlich. Auf der Terrasse meiner Großeltern jagte ich mit einer Fliegenklatsche allem hinterher, was kleiner war als ich, und soweit ich mich erinnere, verließ ich die Arena immer als Sieger und ohne schlechtes Gewissen. Ich dachte nicht darüber nach, ob es verwerflich sei, ein Leben auszulöschen. Ich hatte auch kein Mitleid mit den Tieren, die eben noch optimistisch durch die Welt geflogen, gekrabbelt, gekrochen waren und einen Moment später mit verkrümmten Beinchen und zerquetschten Köpfchen an meiner Klatsche klebten. Fliegen, Mücken, Ameisen, kleine Käfer oder Spinnen, für mich war das Ungeziefer. Und es klingt vielleicht seltsam, aber um einen Jungen, der am Sonntagnachmittag ein paar Stubenfliegen um die Ecke bringt, muss man sich wohl eher keine Sorgen machen.

Dreißig Jahre später hat sich mein Verhältnis zu Insekten ins Gegenteil verkehrt. War ich früher ein unbarmherziger Jäger, bin ich heute der Fliegenflüsterer, eine Art moderner Franz von Assisi, der alles daran setzt, dass es seinen kleinen Freunden mit den Facettenaugen gutgeht. Und bevor ein Missverständnis aufkommt oder, noch schlimmer, Beifall von der falschen Seite: Ich bin kein Vegetarier, nicht in der Tierschutzpartei und im Tierschutzverein nur deswegen, weil ich damals in der Fußgängerzone nicht Nein sagen konnte. Ich mag Tiere, das schon, aber halt vor allem als Braten und Geschnetzeltes mit einem kleinen gemischten Salat dazu. In der Bibel steht: »Wer einen Stier schlachtet, gleicht dem, der einen Mann erschlägt.« Andererseits: Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass wir Tiere essen, warum er hat sie dann aus Fleisch gemacht?

Was ich sagen will: Meine fürsorglichen Gefühle für Insekten entspringen keinem religiösen oder ökologischen Bewusstsein, eher handelt es sich um eine Neurose des modernen Menschen, und ich würde niemandem empfehlen, es mir gleichzutun. Warum? Ich gerate regelmäßig in peinliche Situationen. Menschen schauen mir besorgt hinterher. Manche tuscheln. Ganz zu schweigen vom zeitlichen Aufwand. Ich meine, es kann dauern, einen Weberknecht, der sich erst hinter dem Kühlschrank, dann unter der Waschmaschine versteckt, mit einem Kochtopf und einem Schneebesen einzufangen.

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Angefangen hat es vor ein paar Jahren im Schwimmerbecken des Münchner Schyrenbades. Nach ein paar zügig zurückgelegten Bahnen hielt ich mich keuchend am Beckenrand fest, als ich Zeuge wurde, wie eine kleine Biene – war es ein Bienenjunges? – wenige Zentimeter vom Abfluss entfernt gegen das Ertrinken anstrampelte; aber ihre Flügel waren durchnässt, dickliche Kinder sprangen vom Beckenrand, mörderische Wellen drückten das Tier unter Wasser, und eines war klar: Wenn ich nicht sofort eingriff, würde es gurgelnd hinabgesaugt werden und würdelos zwischen Haarbüscheln und verwelkten Blättern in irgendeinem sonnencremeverschmierten Filter landen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich keinen Krieg erlebt, ja dass ich noch nie einen toten Menschen zu Gesicht bekommen habe, aber nie zuvor habe ich das Mysterium von Leben und Sterben so heftig gespürt wie in diesem Moment: diese Biene, ein Wunderwerk der Schöpfung, hilflos und unschuldig, an der Schwelle zum Jenseits. Im Alltag ein gewöhnlicher Arbeitnehmer und Mitläufer, war ich für diesen einen Moment Herr über Leben und Tod. Ich konnte den Daumen heben oder senken – und hob ihn. Mit meinen Händen formte ich ein Schälchen, glitt unter die Wasseroberfläche, hievte das erschöpfte Tier aus dem Becken und setzte es auf den warmen Fliesen ab. Nach mehreren Minuten, in denen das Insekt seine Flügel schüttelte und mehrmals erfolglos versuchte, sich in die Luft zu erheben, war es so weit: Die Biene flog, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon. Keine Ahnung, ob Bienen dankbar sein oder sich freuen können – ihr Gehirn ist gerade mal so groß wie ein Stecknadelkopf –, aber für mich war der Moment erhebend. Ich hatte in den Lauf der Welt eingegriffen. Ich hatte ein Leben gerettet – und ich wollte es wieder tun. Seitdem habe ich es nie wieder geschafft, einem Insekt, das sich in Gefahr befand, die rettende Hand zu verweigern, ja schlimmer, selbst solchen, die mir Böses wollen, also Stechmücken, Bremsen und Motten, ergebe ich mich kampflos.

Haben Sie mal versucht, eine Fruchtfliege aus dem Kühlschrank zu locken? Machen Sie mal. Diese Dinger fühlen sich bei sechs Grad Celsius richtig wohl, aber halt nur für ein paar Minuten, danach erfrieren sie. Also muss man ihre wirklich äußerst irrationale Flugbahn berechnen, notfalls wedeln, tricksen, pusten, auf jeden Fall dauert es schon mal fünf bis zehn Minuten, obwohl man sich doch nur ein Bier holen wollte. In Swimmingpools bin ich früher oder später nur noch damit beschäftigt, kleine Käfer aus dem Wasser zu fischen. Und immer wenn ich in einem Pissoir oder Waschbecken – ja, wir sprechen von öffentlichen Toiletten – eine dieser winzigen Schwebfliegen entdecke, forme ich aus drei bis vier Lagen Toilettenpapier einen kleinen Papierkescher, hebe das Tierchen aus dem Nass und setze es, am liebsten auf einem Fenstersims, zum Trocknen ab. Manchmal bin ich nicht sicher, ob das Tier noch lebt, so verdreht und verklebt sieht es aus, aber man sollte die Regenerationskräfte eines Zweiflüglers niemals unterschätzen. Aus Erfahrung kann ich sagen: Die meisten werden wieder.

Richtig dankbar bin ich, wenn ich einen Marienkäfer im Wohnzimmer entdecke; sie fliegen davon, wenn man sie aus dem Fenster schüttelt. Spinnen aber stürzen ab. Ebenso Ohrenkneifer. Und da ich bis heute nicht weiß, wie schwer die Verletzungen sind, die sich eine Hausspinne bei einem Sturz aus dem ersten Stock zuziehen kann, gehe ich lieber auf Nummer sicher und bringe sie nach unten in den Garten. Ach ja, entdecke ich eine Raupe im Stadtverkehr, helfe ich ihr selbstverständlich über die Straße. Sie kriecht doch so langsam. Und die Leute fahren doch so schnell.

Gerade war es wieder ganz schlimm. Zwei Wochen Tansania, eine davon auf Sansibar, eine Insel im Indischen Ozean, tropisch, schwül, Malariagebiet, Tausende, nein Hunderttausende Mücken und ein ramponiertes Moskitonetz. Heiße, durchwachte Nächte. Ssssssssss. Stich. Sssssssss. Stich. Wo vernünftige Menschen das Licht anmachen, eine Zeitung zusammenrollen und Sie wissen schon, erstarre ich in einer Art Unterwerfungsgeste. Ich liege still, erdulde und bete, dass der Preis der Malariaprophylaxetabletten wenigstens ansatzweise mit ihrer Qualität zu tun hat. Lieber gestochen werden als töten. Lieber leiden als leiden lassen. Manchmal hebe ich die Hand, hole aus, wütend, verzweifelt – und lasse sie doch sinken. Dann denke ich daran, dass das kleine Tier noch ein ganzes Leben vor sich hat, ein Leben mit Sonnenauf- und -untergängen. Wer weiß, vielleicht hat es sich erst heute morgen gepaart? Auf jeden Fall möchte ich kein Blut an den Händen kleben haben. Denn eines muss man dem Moskito lassen: Er ist ein grausamer Blutsauger, aber immer ehrlich, nicht hintenrum oder intrigant.

Natürlich finden Sie, dass ich übertreibe und vielleicht mal mit jemandem in einer Art Praxis darüber sprechen sollte, aber glauben Sie mir, einmal damit angefangen, lässt sich nur schwer wieder aufhören. Das Ganze hat sich zu einer Manie entwickelt, die oft nervt, aber auch Momente stillen Glücks bescheren kann. Man muss nur mal die Umgebung ausblenden, die anderen Menschen, die Klingeltöne, und den Blick auf das Unscheinbare richten, schon begegnen einem Momente von Schönheit, die trösten und für kurze Zeit vom Alltag erlösen: eine Ameise, die sich mit den Vorderbeinchen akrobatisch ein paar klebrige Zuckerbrösel von den Hinterbeinen wischt. Oder eine kleine Spinne, die – durchs Fenster ins Badezimmer eingedrungen – mehrmals vergeblich versucht, den noch feuchten Badewannenrand nach oben zu klettern, aber immer wieder abrutscht, nach unten saust und es schließlich doch schafft.

Keine Sorge, ich bin mir der Unverhältnismäßigkeit meines Verhaltens bewusst und halte mich nicht für einen sensibleren oder gar besseren Menschen. Im Gegenteil, ich bin sicher, das Ganze spricht eher gegen als für mich, wahrscheinlich entspringt es einer Art narzisstischer Doppelmoral. Denn genau wie ich keine Schnake zu zerquetschen imstande bin, könnte ich das Kalb oder das Schwein, das mir im Wirtshaus so gut schmeckt, niemals eigenhändig schlachten. Ich befürchte, es ist einfach so, dass ich feige bin; dass ich mich dem ewigen Gesetz des Werdens und Vergehens entfremdet habe; dass ich den Tod, auch meinen eigenen, nicht wahrhaben möchte; dass es mir vor allem darum geht, nicht verantwortlich, nicht schuld zu sein, woran auch immer.

Auf der anderen Seite: Wie würden Passanten reagieren, wenn ich auf offener Straße einen Dackel mit der Zeitung verhaute? Oder tatenlos zusähe, wie eine jaulende Siamkatze in der Isar ertrinkt? Sie würden aufschreien und mich einen Sadisten nennen. Was aber bedeutet das? Dass ein Hund, eine Katze mehr wert ist als eine Wegameise oder eine Braunbandschabe? Theoretisch würden wir das empört verneinen, aber wenn wir ausnahmsweise mal ehrlich sind? Charles Darwin schrieb vor mehr als hundert Jahren: »Die Tiere empfinden wie der Mensch Freude und Schmerz, Glück und Unglück; sie werden durch dieselben Gemütsbewegungen betroffen wie wir.« Er sprach ausdrücklich von Tieren, nicht von süß dreinblickenden Kurzhaarcollies und niedlichen Kaninchenjungen.

Ach, es ist ungerecht. Denn was kann die Braunbandschabe dafür, dass sie nicht süß dreinschauen kann? Ja, dass sie überhaupt sehr wenige Gesichtsausdrücke im Repertoire hat – und bei einer Sache leider komplett versagt: uns das Gefühl zu geben, dass wir von ihr geliebt werden.

Foto: Regine Petersen