Die Gewissensfrage

Unser Leser ließ sich ausführlich im Geschäft beraten, kaufte später das gleiche Produkt aber günstiger im Internet. Wäre er moralisch dazu verpflichtet gewesen, wegen der guten Beratung trotzdem im Laden einzukaufen?

»Kürzlich besuchte ich ein Sportgeschäft und ließ mich ausführlich beraten. Der Verkäufer empfahl mir ein Paar schöne Turnschuhe, die mein Budget aber überschritten. Später bestellte ich eben jene Schuhe deutlich günstiger im Internet. War das vertretbar oder besteht die moralische Verpflichtung, die Beratung als Dienstleistung angemessen zu entlohnen?« Max A., Amberg

Die Frage scheint mit Kants Kategorischem Imperativ leicht zu beantworten. Ein allgemeines Gesetz, sich im Geschäft beraten zu lassen und dann im Internet zu kaufen, kann man nicht wollen, es würde auch nicht funktionieren: Die Fachgeschäfte würden beraten, aber nichts verkaufen, und folglich pleitegehen.
Nun schreiben Sie, dass Sie die Schuhe im Geschäft nicht kaufen konnten, weil es Ihre Möglichkeiten überschritt. Im Internet hingegen gibt es die Schuhe zu einem Preis, den Sie sich leisten können. Da nach Kant der Kauf der Schuhe dort unmoralisch wäre, kommen wir zu dem eigenartigen Ergebnis, dass Sie die Schuhe aus moralischen Gründen im Internet nicht kaufen dürfen, obwohl Sie es finanziell könnten, beim Fachhändler hingegen nicht kaufen können, obwohl Sie es dürften.
Barfußlaufen dank Kant? Hier sieht man wieder einmal, dass es sich lohnt, ihn genau zu lesen. Kants Ethik hat nämlich nicht die Handlungen im Fokus, hier den Kauf der Schuhe, sondern den dahinter stehenden Willen. Daher lautet der Kategorische Imperativ in der hier einschlägigen Formulierung auch: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«
Damit löst sich der Widerspruch: Es ist unmoralisch, wenn Sie mit dem Willen in das Geschäft gehen, sich dort beraten zu lassen, aber im Internet zu kaufen, die Beratung also kostenlos abgreifen wollen. Das Gleiche gilt, wenn Sie nachher noch einmal die Preise vergleichen in der Absicht, dem Willen, nach der kostenlosen Beratung beim Günstigsten zu kaufen. Auch das kann man als allgemeines Gesetz nicht wollen. Das gilt aber umgekehrt genauso für ein Verbot, woanders zu kaufen, falls es Ihnen in dem Geschäft, in dem Sie beraten wurden, nicht möglich ist. Das muss dann aber auch wirklich so sein und keine bequeme Ausrede.

Meistgelesen diese Woche:

Literatur:

Die entsprechende Formulierung des kategorischen Imperativs in der Form des allgemeinen Gesetzes gibt es in mehreren Varianten, die hier zitierte „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ stammt aus der Kritik der praktischen Vernunft, Akademie Ausgabe Band V, Seite 30. Online abrufbar unter: korpora.org/Kant/aa05/030.html

Andere Varianten der Formel des allgemeinen Gesetzes lauten:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, Seite 421. Online abrufbar unter: korpora.org/Kant/aa04/421.html

„Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, Seite 436/437 Online abrufbar unter: korpora.org/Kant/aa04/436.html

„Diese Gesetzgebung muß aber in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus seinem Willen entspringen können, dessen Princip also ist: keine Handlung nach einer andern Maxime zu thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe Band IV, Seite 434 Online abrufbar unter: korpora.org/Kant/aa04/434.html

Eine wirklich gute Einführung und einen guten Überblick über die verschiedenen Varianten bieten: Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig, dtv München 1999

Sowie das Kapitel „Die kantische Ethik" in der auch sonst empfehlenswerten Einführung in die Ethik von Herlinde Pauer Studer, facultas WUV/UTB, Wien 2. Auflage 2010

Zum besseren Verständnis der Textstellen und ihrer Zusammenhänge: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysk der Sitten, Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007, S. 189ff. zu Kant AA IV, 400,33 „Maxime“ und S. 224ff. zu Kant AA IV, 421, 7.

Dieter Schönecker, Allen W. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ Ein einführender Kommentar, Schöningh Verlag UTB, Paderborn 2002 S. 125ff.

Weiterführend in diesem Zusammenhang: Maria Schwartz, Der Begriff der Maxime bei Kant. Eine Untersuchung des Maximenbegriffs in Kants praktischer Philosophie. (Philosophie im Kontext, herausgegeben von Wilhelm Vossenkuhl, Band 6), Lit Verlag, Berlin 2006

Illustration: Serge Bloch