Das alte Lied

René Kollo galt einst als bester Wagner-Tenor der Welt. Sein letzter Auftritt in Bayreuth ist lange her, trotzdem kommt er jedes Jahr wieder zu den Festspielen. Es sind traurige Besuche.

Doch, einige Leute erkennen ihn schon noch, jedenfalls hier vor dem Festspielhaus in Bayreuth, dem Ort seiner größten Triumphe. »Herr Kollo, nicht wahr?«, sagt eine Frau mit rosa Brille, als sie ihm jetzt im August auf dem Grünen Hügel begegnet. René Kollo, 76, dreht sich um. »Ach Gott, Herr Kollo, der Siegfried! Der beste, tollste, schönste Siegfried, den es gibt!« Ach nein, sagt Kollo leise, da gebe es auch noch andere. »Doch!«, ruft die Frau, Kollo lächelt, unterschreibt auf einer Postkarte, schüttelt ihre Hand. Die Frau hat über seinen Siegfried im Präsens gesprochen, so selbstverständlich, als sänge er die Partie heute Abend. Dabei liegt Kollos letzter Auftritt bei den Wagner-Festspielen 32 Jahre zurück. Aber in diesem Moment vergessen das beide Seiten gern.

René Kollo, Heldentenor. Elfmal hat er bei den Bayreuther Wagner-Festspielen den Siegfried gesungen, fünfmal Parsifal, neunmal Walther von Stolzing in den Meistersingern, dreizehnmal Lohengrin, achtmal Tristan. Männer, die Schwerter schmieden, Drachen erschlagen und Frauen von brennenden Felsen holen. Halsbrecherische Partien, das große, schwere Wagner-Fach. »Tristan ist mörderisch«, sagt Kollo, »Sie stehen vor dem Mount Everest, klettern hoch, und wenn Sie wieder unten sind, stehen da noch zwei Achttausender. Wenn Sie es ernst nehmen, stehen Sie kurz vor dem Herzinfarkt.« Er ließ sich in den Bühnenboden Trinkflaschen einbauen, damit er an den Stellen, an denen er als Tristan zusammenbrechen musste, trinken konnte, um durch den dritten Akt zu kommen. Als bester Wagner-Tenor der Welt galt René Kollo damals, der Ring mit ihm, inszeniert von Patrice Chéreau, heißt heute »Jahrhundert-Ring«.

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Also, solche wie ihn gibt’s heute nicht mehr, findet Kollo. Lance Ryan, der in diesem Sommer bei den Festspielen Siegfried singt, wurde nach der Premiere ausgebuht. »Pech gehabt«, sagt Kollo. »Oder er hat beschissen gesungen. Wenn Sie anständig singen, werden Sie nicht ausgebuht.« Kollo geht über den Vorplatz des Festspielhauses, er sucht den Künstlereingang, findet ihn nicht. Vieles hat sich geändert, seit er weg ist. Es ist Festspielzeit, und René Kollo kennt sich auf dem Grünen Hügel nicht mehr aus.

Er hat hier fast alles gesungen, was Wagner für Heldentenöre geschrieben hat. Seine Bayreuth-Karriere, vom Steuermann im Fliegenden Holländer über Lohengrin zu Siegfried und Tristan, war ja nicht mal einzigartig, andere Tenöre kamen auf weit mehr Vorstellungen. Dafür rollten, wenn Kollo sang, auch die Klatschreporter an – und wurden auf dem als verschlossen geltenden Grünen Hügel zwar nicht hofiert, aber geduldet. Kein Wunder, in einer Branche wie der Oper, in der die meisten Besucher kurz vor der Rente stehen, ist ein schneidiger Heldentenor Gold wert. Vor allem, wenn ihn auch die Feuilletons lieben.

Nur der Tannhäuser fehlt in dieser Reihe. Kollo sollte ihn singen, aber er sagte ab, am Premierentag 1985 – gerade mal 47 Minuten, bevor die Vorstellung begann. »Ich konnte wirklich nicht«, sagt Kollo, »ich hatte Heuschnupfen.« Ein Ersatztenor, der für die großen Partien immer bereit steht, sprang ein. Sofort nach der Absage fuhr Kollo nach Hamburg zu seiner neugeborenen Tochter. Wolfgang Wagner, der Festspielleiter damals, nahm das persönlich, er meinte, Kollo habe nie singen wollen. Und das nahm Kollo ihm krumm. Die Bühne, auf der er die größten Triumphe seines Lebens feierte, hat Kollo seitdem nicht wieder betreten.

Nach Bayreuth, dem Ort seiner Heldentaten, kommt er trotzdem. Jedes Jahr im Juli. Es ist eine Reise zurück in seine goldenen Zeiten, er wohnt dann im »Weihenstephan«, in dessen Restaurant sich nach den Vorstellungen die Sänger treffen. »Bayreuth ist für mich nicht nur eine Durchgangsstation gewesen«, sagt Kollo. »Bayreuth war für mich immer ein heiliger Ort.«

Er sagt, als er jung war, hätte er nie gedacht, dass er es einmal bis dorthin schafft. Mit zwanzig nahm Kollo Gesangsstunden, mit 21 sang er den Schlager Hello, Mary Lou auf Schallplatte ein, die verkaufte sich 125 000 Mal. Mit 27 ging er als lyrischer Tenor ans Staatstheater Braunschweig, mit 29 an die Deutsche Oper am Rhein, mit dreißig lief er zu Fuß den Grünen Hügel hinauf, sang eine Arie aus Carmen vor und wurde engagiert: als Steuermann im Fliegenden Holländer. So begann es. Zwei Jahre später war er Lohengrin, er sang an der Scala, in Wien, in Chicago, in Salzburg, in Covent Garden, an der Met. Die Sommer aber verbrachte er in Bayreuth.

Das Haar ist inzwischen lichter geworden, dafür trägt er es länger als früher, es ist viel Zeit vergangen. Aber den Siegfried kann er noch, sagt er. Den Parsifal auch, wahrscheinlich auch den Lohengrin. »Ein Tag Vorbereitung, dann habe ich das wieder drin.« Mit 76 werde er allerdings nicht mehr engagiert, weder hier noch anderswo. Mit den großen Partien ist ab sechzig Schluss, mit den kleineren ein wenig später. Tannhäuser ginge heute nicht mehr, Tristan auch nicht.

Der Platz vor dem Festspielhaus füllt sich allmählich mit Festspielgästen, auf dem Spielplan steht heute der Fliegende Holländer. Kollo fährt mit dem Taxi zurück ins Hotel. »Bis vor ein paar Jahren brauchte ich nur anzurufen, am nächsten Tag hatte ich eine Karte.« Heute ruft Kollo nicht mehr an. »Interessiert mich nicht. Das ist alles so blöd, da kriege ich Bauchschmerzen.« Das Rheingold in der Inszenierung von Frank Castorf hat er aber gesehen, den Neuenfels-Lohengrin kennt er auch, das reicht ihm, sagt er. Kollo klingt bitter.

Als er hier noch sang, wohnte er in der Umgebung, hatte Häuser gemietet, später eine kleine Wohnung in der Stadt. Seit dreißig Jahren aber logiert er in der Bahnhofstraße, das Zimmer im »Weihenstephan« wird ihm freigehalten, wobei das Haus sowieso nicht mehr ausgebucht ist zu den Festspielen. Mit dem Pächter ist er per Du. »Es wäre Verrat, wenn ich woanders hinginge.«

Dann sagt Kollo: »Ich glaube, es ist vorbei mit Bayreuth.« Zumindest hat es den Anschein: Die Kartennachfrage sinkt, Hotels sind nicht ausgebucht, Stammgäste bleiben weg, der Glamour ist verschwunden. Dass die meisten Aufführungen auf dem Grünen Hügel umjubelt sind und viele Inszenierungen als große Erfolge gelten können – ach was, wenn es erst kaputt ist, ist es kaputt, sagt Kollo. Um dann einmal mehr hinterherzuschieben: »Es ist nicht mehr so wie früher.« Er habe nichts gegen neue Ideen, aber doch nicht solche, wie sie jetzt zu sehen seien: »Alle stehen da wie ein Liter Milch, und jeder singt, aber man weiß gar nicht, warum. Das hätte sich Richard anders vorgestellt.«

Auf dem ersten Tisch auf der Terrasse steht ein Schild: »Reserviert für Solisten«. Die Terrasse ist leer, in ein paar Minuten beginnt auf dem Grünen Hügel die Vorstellung; nach dem Schlussapplaus kommen Sänger und Festspielgäste hierher. »Warme Speisen in der Festspielzeit bis nach den jeweiligen Vorstellungen«, steht neben dem Eingang. Kollo wartet hier – blaues Hemd, goldene Brille, Heldenhaltung. Er sitzt am Solistentisch, trinkt eine Flasche Brunello und denkt an seine Zeit. Solist, das ist hier ein Titel auf Lebenszeit.

In diesem Jahr wollte er eigentlich gar nicht kommen, sagt er. »Was soll ich da herumsitzen? Früher war das Lokal brechend voll mit Kollegen, auch früheren Kollegen, die jedes Jahr kamen. Die sind alle tot, ich bin der Letzte, der da noch herumsitzen kann. Tot denn alles, alles tot.« Der letzte Satz stammt aus dem Libretto von Tristan und Isolde, dritter Aufzug, kurz nach Tristans finalem Atemzug.

»Die Japaner wissen eben noch, was Kultur ist.«

Er ist dann doch gekommen. Warum? »Ich habe einen Brunello di Montalcino entdeckt, den es nur bei Aldi Süd gibt. In Berlin habe ich nur Aldi Nord. Da habe ich gedacht, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.« Er ist mit dem Auto seines Sohnes da, morgen fährt er zurück nach Berlin. Seine eigenen Autos hat er verkauft. »Ich hab ja alles gefahren, was man fahren kann, alles. Aber wozu? Hat alles ja keinen Sinn.«

Die Kollos wohnen in Zehlendorf, zwischen Schlachtensee und Krummer Lanke. bestes Westberlin. In Berlin ist Kollo auch geboren, 1937, die Familie floh erst nach Schlesien, dann nach Hamburg. Der Name Kollo half durch den Krieg, Walter, sein Großvater, und Willi, sein Vater, komponierten Operetten und Filmmusik.

René Kollo hat vier erwachsene Kinder und lebt mit seiner zweiten Frau zusammen, der Tänzerin Béatrice Bouquet. 23 Jahre waren sie verheiratet, ließen sich scheiden, fanden einander wieder. In Zehlendorf lagert er alle Schallplatten, die er je aufgenommen hat, in einem Regal: Operette, Wagner, Weihnachtslieder. Zehn Regalmeter, ein Lebenswerk. »Wenn ich neunzig bin, höre ich mir das alles mal an. Bis heute hab ichs nicht getan.« In seiner Erinnerung sind alle Einspielungen perfekt, er ahnt, dass diese Erinnerung korrigiert werden könnte.

An einem Donnerstag Ende April sitzt er in seinem Stammcafé, dem »Dressler« am Kurfürstendamm, zwischen den beiden Ku’damm-Theatern. Ein hübsches Café, eingerichtet mit Spiegeln und Kugellampen, die Kellner tragen weiße Hemden. Würde man Berlin nur aus Operetten kennen, dann würde man es sich genau so vorstellen. Kollo isst Roastbeef, dann bestellt er Kaffee und Weißwein. Und erzählt wieder: Mitte der Neunzigerjahre versuchte er sich als Intendant des Berliner Metropol-Theaters, einer Operettenbühne, und wurde in kurzer Zeit aufgerieben zwischen eigenen Inszenierungen, Vertragsverhandlungen und den Mühlen der Berliner Kulturpolitik. Dazwischen immer wieder: Siegfried, Tannhäuser, Lohengrin – aber nicht in Bayreuth, sondern in Berlin und in Japan. Er macht noch eine Abschiedstournee, tritt in Kirchen auf, mit geistlichen Liedern. Es sind kleinere Kirchen in Meißen, Wedel und Osnabrück. Mehr will er nicht mehr, sagt er. Wann die Tournee endet, weiß er noch nicht. Noch vor seinem Besuch in Bayreuth wird er in Tokio singen, in der Suntory Hall, einem der renommiertesten Konzerthäuser des Landes, die Winterreise und die Rom-Erzählung aus Tannhäuser. »Die Japaner wissen eben noch, was Kultur ist.«

Einmal, sagt Kollo, will er noch auf die Bühne des Festspielhauses. »Ganz allein, mit keiner Menschenseele in der Nähe.« Dann würde er mit Richard Wagner allerhand ausmachen, »aber das lassen sie im Festspielhaus natürlich nicht zu«. Bayreuth sei etwas Einmaliges auf der Welt, er könne nicht zusehen, wie dieses Haus vor die Hunde geht. Und das Problem sei, dass es keinen gebe, der auf sein Bayreuth aufpasst.

August, Bayreuth. Wotan kommt auf die Terrasse. »Ah, der Sotin«, sagt Kollo, »grüß dich, Hans.« Hans Sotin, ein bärtiger Bass, sang den Wotan im Jahrhundert-Ring, er sang auch alle anderen großen Basspartien in Bayreuth. Von 1977 bis 1999 war er Gurnemanz in Parsifal. Im Jahr 2000 bekam er nach der Generalprobe die Nachricht, die Partie werde umbesetzt: »Der Dirigent hat später gesagt, meine Routine nervt ihn. Was soll man dazu sagen?« Vor vier Jahren ist er nach Bayreuth gezogen, trotz allem. »Was soll ich denn woanders? Ich habe hier dreißig Jahre lang den Sommer verbracht. Ich finds schön hier.« In den Deckel des Krugs, aus dem Sotin trinkt, ist sein Name eingraviert. »Das haben hier alle Stammgäste«, sagt der Wirt. Kollo hat auch einen, ebenso wie Frank Castorf, der Regisseur des aktuellen Rings. »Was, der hat auch einen?«, fragt Sotin. »Dann kannst du meinen einstampfen.« Der Wirt lacht etwas verzweifelt.

»Ich hab gestern Abend eine Entführung aus dem Serail aus Salzburg gesehen«, sagt Sotin zu Kollo. »Die spielt auf einem Rollfeld. Und am Ende kommen sie mit dem Hubschrauber.« Er lacht ein bauchiges Bassistenlachen: »Unglaublich.«

Es beginnt zu dämmern, zwei Herren mit schwarzer Fliege betreten die Terrasse, die Vorstellung ist vorbei. Kollo bestellt kalten Schweinebraten und noch eine Flasche Brunello und teilt aus:
Wolfgang Wagner: »Ein Choleriker.«
Frank Castorf: »Früher sicherlich ein guter Theatermann, ich hab sein Rheingold hier gesehen, ich habe danach drei Stunden hier gesessen, um körperlich wieder in Ordnung zu kommen.«
Hans Neuenfels: »Ein führender Unsinniger, den habe ich schon vor dreißig Jahren in Berlin erlebt mit Sachen, wo wir alle nur mit dem Kopp geschüttelt haben.«
Jonathan Meese: »Das Schlimme ist, dass man darüber überhaupt noch redet.«
Katharina Wagner: »Eine reizende, witzige, freche Person. Kenne ich eigentlich gar nicht, ich hab ihr einmal guten Tag gesagt. Ich hab nur was gegen das, was sie da macht. Total.«
Christian Thielemann: »Ich kenne ihn noch mit kurzen Hosen als Korrepetitor, als er noch gar nüscht war. Wir haben Liederabende gemacht und Platten, ich war eigentlich der Erste, der in Zeitungen gesagt hat, hören Sie sich das mal an, das ist genial.«
Die Festspiele: »Wagner hätte zehn Jahre länger gelebt, wenn er Bayreuth nicht im Kopf gehabt hätte. Was heute daraus gemacht wird, ist so schlimm, dass mans noch nicht mal schelten kann. Das hat mit Kunst nichts mehr zu tun.«
Bayreuth: »Ganz gemütlich, eine süße, kleine Stadt. Hübsch, zum Teil.«
Die Sänger: »Singen ja gar nicht mehr richtig. Brüllen nur noch.«
Das Publikum: »Unwissender, immer unwissender.«

Die Terrasse füllt sich, Tomislav Mužek ist jetzt da, der Erik aus dem Holländer, Benjamin Bruns, der Steuermann, Nadine Weissmann, die Erda aus dem Rheingold. Alle schütteln Hände, werden mit Applaus empfangen. An Kollo und Sotin gehen sie vorbei, aber die beiden kennen die Sänger ohnehin nicht. Sie setzen sich auch nicht zu ihnen, sondern verteilen sich auf andere Tische. Am Solistentisch bleiben Kollo und Sotin allein und schauen schweigend auf die Bahnhofstraße.

»Ich bin in eine Zeit hineingeboren worden, die noch bestückt war mit den grandiosesten Leuten der Welt«, sagt Kollo dann. »Karajan, Bernstein, Solti, Böhm. Namen, von denen Sie heute nur träumen können. Mit denen durfte ich zusammenarbeiten.«
»Wie lange kennen wir uns jetzt, René?«, fragt Sotin.
»Lang.«
»Sehr lang.«
»Haben wir uns schon vor Bayreuth gekannt?«
»Wir haben doch die Platte gemacht, mit Solti.«
»Jaja. Welche Platte?«
»Tannhäuser
»Ja! Ja! Gute Platte war das. Die ist heute noch maßgeblich. Solti ist unterschätzt im Moment, aber das kommt wieder.«
Dann schweigen sie.

Fotos: Julian Baumann