»Mir selbst konnte ich nicht entkommen«

Ein Taxifahrer wird umgebracht. Vom Täter fehlt jede Spur. Fünfzehn Jahre später behauptet ein Mann: Ich war's. Die Geschichte einer langen Reue.

Anton F. an seinem Wohnort im Rheinland, 2014. Er möchte nicht erkannt werden.

Als Anton F. beschließt, dass er wieder leben will, ist es 15 Jahre her, dass er einem Menschen das Leben genommen hat. Er bittet seinen Chef morgens nach Schichtende um einen Vorschuss, damit er sich Zigaretten kaufen kann. Die Hälfte der Schachtel raucht er zu Hause auf dem Sofa. Er hat das Gefühl, sein Kopf würde gleich platzen.

Am 20. Oktober 2010 wird der Kriminalkommissar Gregor Teuber in das Erdgeschoss der Polizeiwache Euskirchen gebeten. Teuber ist seit vierzig Jahren Polizist. Die Kollegen sagen, sie hätten hier einen komplizierten Fall. Der Mann da draußen, sie zeigen auf eine schmale Gestalt, die den Aschenbecher vor dem Eingang umkreist, sei vor Stunden aufgetaucht und habe mit leiser, gehetzter Stimme und in brüchigem Deutsch behauptet, er habe mal jemanden getötet. Der Mann habe von einem Feuer gesprochen. Von Brandenburg. Von einem Taxi. Von einem Juri. Er habe einen stark verwirrten Eindruck gemacht. Sie hätten ihm geraten, sich psychologische Hilfe zu suchen, und ihn nach Hause geschickt. Aber er sei wiedergekommen.

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Gregor Teuber beobachtet den Mann einige Minuten. Der Mann hat die Statur eines Zwanzigjährigen und das Gesicht eines Vierzigjährigen. Immer wieder hält er sich den Kopf. Ich hör mir das mal an, sagt Teuber.

Der Vater fragt ihn am Telefon, ob er mit nach Deutschland will. Aber es ist eigentlich schon entschieden, denn auch für Anton F. hat der Vater die Papiere beantragt. Der Vater will endlich die Freiheit kennenlernen, er wurde in einem sibirischen Gulag geboren, er wuchs dort auf bis 1953, und so richtig frei war er auch danach nie. Die Familie des Vaters stammt aus Friesland, viele Verwandte sind jetzt, Anfang 1994, schon als Spätaussiedler nach Deutschland zurückgekehrt. In ein Land, mit dem sie nichts verbindet als eine ferne Vergangenheit.

Anton F. würde ja gern in Moskau bleiben. Er hat dort Freunde und Arbeit. In einer Obst- und Gemüsefabrik füllt er Sauerkraut ab. Anton F., 19 Jahre alt, geboren am 19.12.1975 in Pawlodar, Kasachstan, hat zum ersten Mal das Gefühl, ein Zuhause zu haben, nicht mehr hin- und hergezerrt zu werden. Als er ein Jahr alt war, zog die Familie nach Moskau, als er gerade zehn geworden war, zogen sie zurück nach Kasachstan. Die Eltern trennten sich, als Anton F. nach der achten Klasse die Schule verließ. Der Vater war als Kraftfahrer selten da, und wenn er da war, trank und schrie er. Die Mutter zog mit der älteren Schwester nach Moskau. Anton F. blieb beim Vater, der nach wie vor selten da war und nun noch mehr schrie, wenn er da war.

Es war nie Ruhe. Es waren immer die anderen, die über sein Leben bestimmt hatten. Deshalb war er zur Mutter gegangen. Er hatte es so gewollt. Aber dann der Anruf.

Der Vater hat sich längst krank gesoffen, er kann ihn nicht allein gehen lassen. Außerdem: Deutschland! Er wäre blöd, die Chance nicht zu ergreifen, alle sagen das. Anton F. hört nicht auf sein Herz. Der Kopf ist klar.

Im September 1994 schaut Anton F. aus dem Busfenster, auf der Autobahn kurz vor Rastatt, und denkt: Der russische Wald ist schöner. Sie bleiben nur einen Monat in dem Übergangsheim in Baden-Württemberg, dem Vater geht es immer schlechter; Herz, Niere und Lunge kapitulieren. Es heißt, in Brandenburg an der Havel gebe es die beste Klinik für ihn. Sie ziehen dort in ein neues Übergangsheim, Magdeburger Straße, ein Zimmer mit Stockbett, der Vater unten, Anton F. oben. Der Vater trinkt und schnarcht. Allein im ersten halben Jahr in Deutschland hat er vier Herzinfarkte. Aber nach wenigen Tagen ist er stets zurück aus dem Krankenhaus, einmal läuft er den ganzen Weg.

Anton F. fühlt sich dem Vater so nah wie nie, nicht nur, weil sie sich acht Quadratmeter teilen. Im Heim leben nur Familien aus der ehemaligen Sowjetunion. Anton F. traut niemandem. Die Jungs in seinem Alter nehmen Drogen. Nur mit Juri verbringt Anton F. gerne Zeit. Gemeinsam laufen sie manchmal durch die Stadt. Meistens trägt Anton F. ein Küchenmesser bei sich, man weiß nie. Brandenburg an der Havel hat genug Probleme. Im Zentrum sind die Fassaden der Häuser bunt gestrichen, aber die Rückseiten verfallen. Arbeit gibt es für Anton F. nicht. Er spricht kaum ein Wort Deutsch. Die Tage vergehen.

Es geht uns doch gut, sagt der Vater. Durch den Verkauf des Hauses in der Heimat hat er Rücklagen. Ab Januar 1995 bekommt Anton F. außerdem monatlich 900 Mark Sozialhilfe. Juri und er lachen darüber. So viel Geld für das Nichtstun! Ein Paradies, aber ein ödes.

Abends stehen sie an der Tankstelle rum. Anton F. trinkt jetzt. Trink nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig, sagt der Vater. Der Alkohol macht die Nächte länger, die Tage kürzer.

Anton F. vermisst seine Mutter. Die Schwester hat geheiratet und ist ausgezogen. Die Familie, so denkt er, wird immer weiter auseinandergerissen.

Der 13. Februar 1995 ist ein Montag. Abends trifft Anton F. an der Tankstelle Juri. Sie trinken Bier aus Dosen. Als es sehr kalt wird, gehen sie in den »Goldenen Anker«, den die Brandenburger »Piephahn« nennen. Sie trinken mehr Bier. Es ist fast zwei Uhr nachts, als Anton F. vorschlägt, nach Genthin zu fahren. Dort sind ein paar Bekannte, andere Russlanddeutsche. Vielleicht passiert endlich etwas. Juri hat keine Lust, ruft aber noch aus dem »Piephahn« einen Bekannten an, der bereit ist, Anton F. an der Tankstelle im nahe gelegenen Plaue abzuholen und mit dem Auto nach Genthin zu fahren.

In der Nacht auf den 14. Februar 1995 fährt Kurt H., sechzig Jahre alt, Ehemann, Vater, eine Spätschicht. Um 1.15 Uhr bekommt er von der Funkleitzentrale den Auftrag, einen Kunden von der Neustädtischen Heidestraße 57 zum »Goldenen Anker« zu fahren.

Um 1.30 Uhr setzt H. den Fahrgast ab. Per Funk meldet er, seine letzte Fahrt beendet zu haben und sich auf den Rückweg nach Plaue zu machen. Aber spätestens um zwei Uhr steigen zwei junge Männer in das Taxi von Kurt H, einen Mercedes 190 D.

Die Leute, die abends in seinem Wohnzimmer sitzen, sind nicht seine Freunde, er weiß das, er spendiert ihr Delirium.

Anton F. setzt sich auf den Beifahrersitz. Juri steigt in der Magdeburger Straße aus, wie verabredet. Der Fahrer versteht erst nicht, aber Anton F. macht ihm klar, dass er weiter in Richtung Plaue will. Anton F. hat nur noch zehn Mark bei sich. Er weiß, dass das nicht reichen wird. Deshalb will er sich nicht direkt zur Tankstelle fahren lassen, sondern auf dem Weg eine abgelegene Stelle finden, an der er sich absetzen lassen und davonrennen kann.

Sie fahren über die Bundesstraße 1 bis zum Abzweig Wusterwitz. Anton F. zeigt nach links, in Richtung Ortsmitte. Die Bahnhofstraße erscheint ihm verlassen genug, rundum Wald. Vor der Nummer 21 lässt er Kurt H. anhalten.

Sofort schnallt sich Anton F. ab und öffnet die Beifahrertür, aber der Fahrer hält ihn an der Jacke fest. Anton F. reißt sich los. Er weiß nicht, wo er ist. Das Tor zum Grundstück des Hauses Nummer 21 steht offen. Im Hof steht ein Carport, unter dem Holz gestapelt wurde. Es ist stockdunkel, aber Anton F. hört, dass der Fahrer ihm folgt. Der Fahrer schreit etwas, Anton F. versteht nur »Polizei«. Plötzlich packt ihn der Fahrer am Kragen.

Anton F. zieht das Küchenmesser aus seiner rechten Jackentasche, dreht sich um und sticht zu. Es geht schnell. Die Klinge bricht ab. Er will weg. Aber der Fahrer schreit immer noch und wirft etwas nach ihm. Ein großes Stück Holz. Anton F. nimmt auch ein Kantholz, in beide Hände, und schlägt zu.

Anton F. läuft zum Taxi, er sucht seinen Schlüssel, den er verloren haben muss. Er hört den Fahrer schwer atmen. Neben dem Fahrersitz findet Anton F. ein Portemonnaie, 300 Mark darin. Er steckt es ein. Es sind nur wenige Minuten vergangen, seit das Taxi hier gehalten hat. Zum ersten Mal denkt Anton F. nach. Sie dürfen keine Spuren finden! Und: Sie müssen dem Mann helfen. Schnell! Er stopft eine Zeitung, die im Auto liegt, unter den Beifahrersitz und zündet sie mit seinem Feuerzeug an. Dann rennt er über ein Feld. Das Portemonnaie schmeißt er weg, die 300 Mark steckt er ein. Bis zum Wohnheim sind es 15 Kilometer.

Der Zeuge M., wohnhaft Bahnhofstraße 21, alarmiert um 3.27 Uhr die Feuerwehr. Er sieht ein Taxi vor seinem Grundstück stehen, das im vorderen Bereich brennt. Erst nach seinem Notruf entdeckt er den schwer verletzten Mann. Um 7.40 Uhr verstirbt Kurt H. im Städtischen Klinikum Brandenburg an den mehrfach ausgedehnten Schädelfrakturen mit Hirnverletzung. Mindestens fünf Mal muss massiv auf
seinen Kopf eingeschlagen worden sein, auch als er schon am Boden lag. Man findet ein 10 x 10 x 47 Zentimeter großes Kantholz, blutig. Der Verstorbene weist außerdem drei Stichverletzungen auf, zwei im Bauchbereich, eine am linken Ellenbogen. Im verkohlten Fußraum findet der Sachverständige die Klinge eines Küchenmessers, 11,5 Zentimeter lang.

Eine zehnköpfige Untersuchungsgruppe wird eingerichtet. Warum hielt das Taxi hier? Wenn es ein Raubmord war, wieso trägt das Opfer noch einen Geldbeutel mit hundert Mark bei sich? Wieso hat das Taxi gebrannt?

Warum hat der Mann ihn nicht in Ruhe gelassen? Anton F. liegt oben im Stockbett. Warum hat er dem Mann nicht erklärt, dass er zu wenig Geld hat, dass er morgen zahlen würde? Aber: Wie? Der hat ihn ja überhaupt nicht verstanden!

Gegenüber dem Wohnheim ist die Polizeiwache. Anton F. liegt wach und hört die Sirenen, sieht die Zimmerdecke in blauem Licht. Sie holen mich, denkt er, gleich holen sie mich. Von den fünf Bier kann das Rauschen in seinem Kopf nicht kommen.
Am nächsten Morgen sieht er Kameras vor der Polizeiwache. Er sieht schwarze Schleifen an den Antennen der Taxis.

Zwei, drei Bier, Wodka drüber, das hilft. Für ein paar Tage mindestens. Und Anton F. hat jetzt Arbeit, schwarz, in einer Autowerkstatt. Der Vater hatte ihm das Schrauben schon in Kasachstan beigebracht. 1996 zieht der Vater in eine eigene Wohnung. Anton F. bleibt noch ein paar Monate im Heim. Die anderen Jungs dort geben sich nicht mehr mit Gras zufrieden, sie nehmen jetzt Heroin. Anton F. trinkt nur. Und kifft. Hauptsache, er muss nicht nachdenken. Wenige Monate nach dem Abend wurde er vor der Tankstelle von der Polizei festgehalten, weil einer behauptet hatte, er hätte Flaschen mitgehen lassen. Er war sicher, sie würden ihn festnehmen. Die müssen ihn doch bald kriegen!

Als seine Mutter ihn am Telefon fragt, wie es ihm geht, sagt er, er lebe wie ein König. Er ist in eine Ein-Zimmer-Wohnung gezogen. In manchen Monaten verdient er 3000 Mark zur Sozialhilfe dazu. Er fährt einen VW Golf. Der Vater hat sich vom eigenen Ersparten einen Audi 90 gekauft.

Die Leute, die abends in seinem Wohnzimmer sitzen, sind nicht seine Freunde, er weiß das, er spendiert ihr Delirium. Aber wenn sie reden, hört er nicht dieses Rauschen in seinem Kopf.

Mehr als zwei Jahre nach dem Abend kommt ein Freund in die Werkstatt und sagt: Dein Vater ist tot. Anton F. organisiert die Beerdigung, lädt Freunde und Familie des Vaters ein.

Dann hört er einfach auf. Zahlt keine Miete mehr, geht nicht mehr arbeiten. Das Sozialamt sagt ihm, er solle den Besitz des Vaters verkaufen und von dem Geld leben. Er sagt dem Sachbearbeiter: Leck mich am Arsch!

Als die Kündigung seines Vermieters kommt, schmeißt er alle Möbel weg. Er putzt die Wohnung und fährt zu einem Kollegen. Er lebt jetzt auf den Sofas seiner Kumpel, eigentlich existiert er nur. Juri ist wenigstens längst in einer anderen Welt, nicht mehr ansprechbar. Anton F. ist da, will es aber nicht mehr sein.

Morgens gehen seine Gastgeber arbeiten, Anton F. macht den Fernseher an. Wenn sie wiederkommen, wird getrunken. Wenn getrunken wird, wird danach noch Scheiße gebaut. Er hofft jetzt manchmal, sie würden ihn holen. Er hat Angst davor. Am 21. September 1999 wird Anton F., 23 Jahre alt, durch das Amtsgericht Brandenburg an der Havel wegen gemeinschaftlich versuchter räuberischer Erpressung im minder schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.

Es war eine Geburtstagsfeier von irgendwem, ein Deutscher hatte einen Kollegen nach einer Zigarette gefragt, der Kollege hatte gesagt: Verpiss dich. Da kam der Deutsche mit einem Bambusstock an. Anton F. ist nur dazwischengegangen. Glaubt er.
Kurz nach dem Prozess hält die Polizei ihn auf der Straße an. Er weiß nicht, warum, es ist ihm egal. Er muss ins Gefängnis. JVA Brandenburg. Es ist schön ruhig dort.

Vor der Entlassung sagen sie ihm, er müsse weg aus Brandenburg an der Havel. Von den Leuten. Von Juri. Juri stirbt wenig später. Anton F. kommt in ein Wohnheim des christlichen Sozialwerks Mahlow nahe Berlin. Die anderen Bewohner sind richtig fertig, Junkies. Was soll er den Therapeuten erzählen? Dass das Warten auf den Tod langweilig ist?

Er arbeitet ein Jahr für die Berliner Stadtreinigung. Eines Tages holt ihn der Onkel nach Euskirchen, der Bruder des Vaters, irgendwie hat er Anton F. gefunden. Die Familie dachte, Anton F. sei gestorben. Er ruft die Mutter zum ersten Mal seit dem Tod des Vaters an, die Schwester geht ran. Sie sagt, die Mutter habe Kerzen für ihn angezündet. Sie habe Herzprobleme, es wäre jetzt zu viel. Er solle lieber morgen noch mal anrufen.

Der Onkel sagt: Erst mal machst du ein bisschen Pause. An einem Freitag kommen sie in Euskirchen an. Am Montag fahren sie alle großen Betriebe ab, fragen, ob es Arbeit gibt, Anton F. will keine Pause. In einer Chemieentsorgungsfirma können sie jemanden gebrauchen.

Er lernt Alina kennen, auch aus Kasachstan. Eigentlich lernt sie ihn kennen. Er fühlt gar nichts. Ihre Mutter mag ihn nicht, es geht um irgendeine alte Familienfehde in Kasachstan und darum, dass er im Knast war. Er trinkt wieder viel. Raucht Gras. Einmal glaubt er in der Mittagspause, der Tee sei dunkler als sonst. Vielleicht wollen ihn die Kollegen vergiften. Vielleicht ist es auch der Giftmüll, der ihn krank macht. Sein Körper und seine Kleidung riechen, der Geruch geht nicht raus. Was ist los mit dir?, fragt Alina.

2004 kommt die Tochter zur Welt.

Wann holen sie ihn endlich?

Die Mutter kommt zum ersten Mal nach Deutschland. Sie liebt das Kind. Er findet eine neue Arbeit in einem Metallbetrieb. Er ist dem Gift nicht mehr ausgesetzt, aber die Kopfschmerzen bleiben.

Vom 26. Juli bis zum 18. August 2005 wird Anton F. in der Abteilung für Psychiatrie des Marien-Hospitals Euskirchen unter der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie und eines THC-Abusus behandelt, er hat sich dort gemeldet, aber er erwartet nichts. In Russland sagt man: Jeder gute Psychiater braucht selbst noch einen besseren. Er sagt, was sie hören wollen. Sie fragen nach Suizidgedanken. Nur Gott, denkt Anton F., darf ein Leben beenden. Das ist ja das Schlimme.

Euskirchen ist 528 Kilometer von Wusterwitz entfernt. 2007 beendet Anton F. die Beziehung. Immer der Streit wegen der Drogen, der Ärger mit der Schwiegermutter,
diese Lieblosigkeit. Das sind für sie die Gründe. Aber ihm geht es um etwas anderes. Er will einfach nicht, dass sie und die Tochter dabei sind, wenn er verhaftet wird. Er will jetzt endlich verhaftet werden. Und vorher will er alles erledigen. Warum holen sie ihn nicht?

In der Zeitung liest er von einem Mörder, den man nach zwanzig Jahren gefunden hat. Mord verjährt nicht. Anton F. erträgt keine Krimis mehr. Ständig schaut er aus dem Küchenfenster, in der Erwartung, dass dort unten ein Polizeiwagen steht. Sie quälen ihn. Drei Jahre wartet er. Im Sommer 2010 will Anton F. nicht mehr. Er schickt seinem Vermieter die Kündigung.

Der Kriminalkommissar Gregor Teuber aus Euskirchen steht kurz vor seiner Pensionierung. Vieles hat er vergessen, vieles wird er vergessen. Anton F. nicht. Er erinnert sich, dass der Mann, als sie endlich halbwegs verstanden hatten, worum es ging, als sie den Fall aus Brandenburg im Archiv gefunden hatten, auf einmal ganz klar und deutlich gesprochen hat. Ich bin katholisch, sagt Gregor Teuber, und da habe ich gesehen: Was der Sinn der Beichte ist. Was eine Zentnerlast ist.

Als der Chef von Anton F. durch Hagen Seipel erfuhr, warum Anton F. nicht mehr zur Arbeit kommen konnte, sagte er: Den würde ich sofort wieder einstellen. So ein braver Junge.

Am 9. Mai 2011 beginnt in Saal 8 des Landgerichts Potsdam ein ungewöhnlicher Prozess. Ohne das Geständnis, sagt die Richterin, wäre die Tat nicht aufgeklärt worden. Wir sitzen hier und legen Ihnen, Herr F., Dinge zur Last, die wir ohne Sie nicht wüssten.

Die Ermittlungen damals führten ins Leere, es kam zu zwei kurzzeitigen Verhaftungen. Die Technik war noch nicht sehr weit. Es waren Wendejahre.

In der ersten Reihe sitzt die Familie von Kurt H., und Anton F. empfindet die Blicke als bedrohlich. Fünfzehn Jahre haben sie gewartet, die Wahrheit zu hören. Anton F. guckt stundenlang zu Boden. Fünfzehn Jahre hat er gewartet, die Wahrheit zu erzählen.

Ein Kriminalpolizist in Potsdam hatte Anton F. in der Vernehmung vorgeworfen, er versuche mit seinem Geständnis bloß, den wahren Täter zu schützen. So ein Unsinn, sagt Hagen Seipel, der Anwalt von Anton F., als er in der Kantine des Potsdamer Landgerichts sitzt, wen sollte Anton F. denn schützen nach so vielen Jahren? Seipel ist mit seinem Wohnmobil aus Euskirchen angereist. Er hat den Tatort besichtigt. Nichts erinnert an damals. Niemand hat sich erinnert. Nur Anton F. und die Familie von Kurt H. konnten nicht vergessen, was passiert war.

Hagen Seipel hatte seinen Mandanten am Tag des Geständnisses gefragt: Bist du dir ganz sicher, dass du das hier machen willst? Er wusste diesen Mann noch nicht einzuschätzen. Es war ja Zufall gewesen, dass man ihn in die Polizeiwache gerufen hatte, als den Beamten klar geworden war, dass Anton F. einen Anwalt brauchte.

Anton F. hatte ihm nur geantwortet: Es geht nicht anders. Der war an der Sache kaputtgegangen, sagt Hagen Seipel, das habe ich schnell gemerkt.

Als die Mutter von Anton F. erfuhr, was ihr Sohn getan hatte, sagte sie: Gott hat für jeden einen Weg vorgesehen.

Als der Chef von Anton F. durch Hagen Seipel erfuhr, warum Anton F. nicht mehr zur Arbeit kommen konnte, sagte er: Den würde ich sofort wieder einstellen. So ein braver Junge.

Die Frage im Landgericht Potsdam ist nicht: Was ist in dieser Nacht passiert? Die Aussagen von Anton F. decken sich im Wesentlichen mit den Ergebnissen der Gutachter.

Die Frage ist: Was ist die gerechte Strafe für jemanden, der ein anderer war, als er die Tag beging?

Am 19. Mai 2011, nach drei Verhandlungstagen, wird Anton F. wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Jahr mehr gefordert. Die Familie von Kurt H. reagiert entsetzt, mit der Presse reden wollen sie nicht. Der Rechtsanwalt Hagen Seipel findet das Urteil hart. Er will in Revision gehen.

Als Anton F. die Arme ausstreckt, damit der Justizbeamte ihm die Handschellen anlegen kann, sind seine Augen geschlossen. Erst als es Klick macht, öffnet er sie wieder. Als sei gerade ein Wunsch in Erfüllung gegangen.

Im August 2014 sitzt Anton F. in der Kanzlei von Hagen Seipel am Bahnhof von Euskirchen. Er ist müde. Er hat seit sechs Tagen nicht frei gehabt. Abends um acht muss er wieder in den Zug steigen und in die Fabrik fahren. Seine Schicht dauert von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Im Juni 2013 wurde Anton F. aus der Haft entlassen. Mit der Zeit in Untersuchungshaft saß er zweieinhalb Jahre. Es ist das erste Mal, dass in Deutschland eine Strafe bei einem Tötungsdelikt um die Hälfte erlassen wurde.

Anton F. lebt wieder in der Nähe von Euskirchen, zusammen mit seiner neuen Freundin, sie ist Russin. Ihre Schicht beginnt um acht Uhr morgens. Wenn sie frei haben, schlafen sie. Schlaf, sagt Anton F., sei sein Luxus. Er hat immer noch keine Zeit für einen Sprachkurs gehabt, aber er klingt jetzt ein wenig rheinländisch, er sagt »wat« und »jut«.

Anton F. hat seiner Freundin am Anfang alle Meldungen gezeigt, die es online über seinen Fall zu lesen gibt. Sie hat die Berichte überflogen und dann gesagt: Ist egal. Sie weiß, dass er nicht gerne darüber redet, weil sein Kopf sofort wieder rauscht. Mit den Depressionen, sagt Anton F., ist es wie mit dem Scheißebauen: Wenn es einmal angefangen hat, muss man aufpassen, dass es nicht wieder passiert.

Seine Tochter sieht Anton F. nicht. Er will sie nicht sehen. Die Psyche eines Kindes ist so verletzlich, sagt er, es tut ihr nicht gut, zwischen Mama und Papa zu stehen. Wenn sie erwachsen ist, wird sie mich finden, sagt Anton F., wenn sie will. Er hat von Bekannten gehört, dass sie sagt, ihr Papa sei ein böser Mann.

Anton F. hat fast 30 000 Euro Schulden, Prozesskosten, offene Rechnungen. Er ist diesen Monat mit der Miete in Rückstand. Nächstes Jahr wird er vierzig. Anton F. hätte gern Kinder. Und ein Haus, in dem seine Kinder aufwachsen können. Mit einem Garten. Wir reden darüber, wenn die Schulden weg sind, sagt er.

Als sie sein Führungszeugnis gesehen haben bei der neuen Arbeit, haben sie gesagt: Wir beobachten dich ganz genau. Er darf sich nichts erlauben, keine Kleinigkeit. Manchmal hat er wieder diese Kopfschmerzen.

War es mehr die Angst davor, doch noch festgenommen zu werden, oder die Schuld, einen Menschen getötet zu haben, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben hat? Die Angst, für immer mit dieser Schuld allein zu sein, sagt Anton F. Ich weiß aus dem Knast, dass es viel Schlimmere gibt als mich, aber ich könnte mir für mich nichts Schlimmeres vorstellen, als einen Menschen zu töten. Mir selbst konnte ich nicht entkommen.

Trotzdem: Manchmal denkt er auch, warum hat der Mann ihn nicht einfach davonrennen lassen?

Am Ende, sagt sein Anwalt, wäre es vielleicht besser gewesen, sich gleich damals zu stellen.

Es wäre für mich besser gewesen, sagt Anton F., aber es wäre nicht gerechter gewesen. Meine Strafe waren die 15 Jahre draußen. Nicht die zweieinhalb Jahre im Gefängnis.

Fotos: Tanja Kernweiss