»Wir ernährten uns von Schinkenhäger und Joghurts«

Seltsame Nachbarn, noch seltsamere Mitbewohner und immer was zu feiern: Für viele ist die WG der letzte Halt vor dem Erwachsenwerden. Zwölf Prominente erinnern sich.



CHRISTIANE F., AUTORIN

Auch wenn ich heute, mit 52, kein großer Fan mehr von WGs bin - alleine leben kann ich nur schwer, denn ich kann nicht gut alleine sein, das konnte ich noch nie. Deshalb habe ich oft Freunde zu Besuch bei mir, abends und auch am Wochenende. Oder ich übernachte bei Freunden, je nachdem. Aber ich brauche auch meinen Rückzugsort. In diesem Sommer, der so heiß und schwül war, war ich oft zelten. Ich liebe die Natur. Das war nicht immer so.

Früher habe ich das wilde Treiben in Wohngemeinschaften geliebt - allerdings lebte es sich für mich besser mit Männern. Mit Frauen, das war mir immer zu kompliziert: Zu oft war das Bad besetzt, zu selten sah sich jemand in der Verantwortung, zum Beispiel Gardinenstangen zu montieren, es war zu viel Gezicke und Gezanke, einfach zu viel Östrogen. Aber mit einer Horde Männer, das war lustig. 1980, gleich als ich volljährig wurde und endlich bei meiner Großmutter ausziehen konnte, zog ich in eine Hamburger Künstler-WG zusammen mit dem Film- und Musikproduzenten Klaus Maeck, dem damals das »Rip Off« gehörte, der erste Punk-Plattenladen Deutschlands, mit Frank-Martin Strauß, alias FM Einheit, dem jüngeren Bruder des Schauspielers Ralf Richter, mit Jochen Hildisch, der unter dem Namen Jäki Eldorado als erster Punkmusiker Berlins berühmt geworden war, und mit dem Sänger von Abwärts, Frank Ziegert. Kein normaler Vermieter hatte uns einen Mietvertrag geben wollen, weil wir alle irgendwie berüchtigt waren.

Zwei Jahre zuvor waren die Stern-Serie und das Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo erschienen. Jetzt kannten mich alle. Allerdings war mir das damals gar nicht so klar, ich dachte immer, die anderen wären viel berühmter als ich. Es war aber auch egal, wer da wie berühmt war und wie viel Geld hatte. Das hat niemanden interessiert. Für uns zählte nur der Spaßfaktor. Wir haben gemeinsam in Klaus Maecks Plattenladen gearbeitet, gemeinsam musiziert und auch Filme gedreht. Der Film Decoder von damals erscheint gerade noch mal als DVD.

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Unsere Wohnung war in den alten Redaktionsräumen der St. Pauli Nachrichten in der Hein-Hoyer-Straße. Die Wohnung hatte eigentlich nur einen langen Flur, von dem fünf Zimmer abgingen, die alle ein Fenster zur Straße und ein Waschbecken hatten, die Wohnung war auch einmal ein Puff gewesen. Wenn man reinkam, gab es gleich rechts eine größere Nische, in der früher eine Rezeption gestanden haben muss. Es gab auch eine Art Gemeinschaftsraum, wo wir abhingen, Sachen einlagerten und wo ständig irgendwelche Künstler lebten, die zwar irgendwie angesagt waren, aber noch nicht den großen Durchbruch hatten und deshalb kaum Miete zahlen konnten - unter anderem hat da mal Campino gehaust, der damals noch in seiner Band ZK, Zentralkomitee Stadtmitte, sang.

Später habe ich noch in diversen Wohngemeinschaften gelebt, eigentlich stand meine Tür immer offen für alle möglichen Leute, die in Berlin nach etwas suchten. Darunter waren viele Junkies, das stimmt. Auch Nick Cave hat eine Zeit lang bei mir Unterschlupf gesucht, weil die Presse ihn verfolgte und er einen kalten Entzug machen wollte. Mein Junge wird bald 18, nächsten Monat, und er lebt in einer Wohngemeinschaft mit anderen Freunden. Ich bin froh, dass er diese Erfahrung macht. Man lernt doch besser zu teilen und wird ein edlerer Mensch.

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Tex Rubinowitz 1978. Rubinowitz hat dieses Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen und Karel Gott angeblich nie ironisch gehört.

TEX RUBINOWITZ, AUTOR UND CARTOONIST

Mit 16 bin ich mit sieben Fünfen von der Schule geflogen und danach wie aus Trotz sofort mit einem Freund namens Jens in meine erste WG in die Rackerstraße 4c in Lüneburg gezogen. Mittwoch und Sonntag gingen wir ins »Voodoo«. Dort spielten sie immer Postpunk-Ausschussware, war halt Lüneburg. Gekocht haben wir ungern. Viel lieber sind wir später, also gegen vier, in Bäckereien eingebrochen, da war die Hintertür immer offen, und dort kühlte das warme Backwerk aus. Wir schlangen die warmen Brötchen zu den nicht tot-zuhörenden Ohrwürmern hinunter: »Oh Marliese. The waiting almost brought me to my knees. Oh Marliese. You didnt really think I'd leave you in peace.«

Einmal erbeuteten wir ein antikes Sofa aus einem Keller und verkauften es am nächsten Tag für 200 Mark. Ein anderes Mal brachen wir in ein Trachtengeschäft ein, und dann trugen wir, Jens und ich und unsere kiffenden Gäste, eine Zeit lang Lodenmode und allerlei Gewalktes. Unglaublich zu jener Zeit. Ich erinnere mich an Schinkenhäger, Wacholderschnaps in Steinflaschen, die wir aus dem Getränkelager einer Kneipe geklaut hatten. Mit dem betranken wir uns, bevor wir ins »Voodoo« gingen. Ich arbeitete in einer Molkerei und nahm abends öfter Paletten von Joghurt mit. Wir ernährten uns größtenteils von Schinkenhäger und Joghurts. Unsere kleine WG war schmutzig, aber unglaublich idyllisch. Sie lag in der Altstadt Lüneburgs, ein ganz schmaler Turm, jedes Stockwerk ein Zimmer. Ich schlief ganz oben, dann kam die Küche, dann Jens Zimmer, dann eine alte Frau, das Klo und der Vermieter, ein alter Uhrenmacher, an dem man vorbeihuschen musste, wenn die Miete mal wieder ausständig war.

Unsere Zeit schlugen wir mit Rumhängen und Warten tot. Alle außer mir waren bekifft. Als ich einmal Laurie Anderson oder ABBA auflegte, wurde ich ausgelacht, weil es gerade gar nicht en vogue war. Mittwoch- und Sonntagnacht bekamen Jens und ich Besuch von drei Brüdern, die in einer Hippiekommune außerhalb von Lüneburg wohnten. Sie trugen mit Freude die gewalkten Lodensachen und Trachtenhüte, die wir zuvor erbeutet hatten. Als sie eines Nachts im Hinterhof Unsinn trieben, ging oben ein Fenster auf, und eine Frau fragte in norddeutschem Dialekt: »Jürgen, bissu dat?« Ich sagte in einer neutralen Tonlage, denn ich wusste ja nicht, spricht Jürgen hoch oder tief: »Ja.« Die Frau darauf: »Dann ist dat ja gut«, ich hatte also genau Jürgens Ton getroffen.

Ich wohnte später noch in anderen WGs, aber diese in Lüneburg war die prägendste. Wenn ich jetzt Marliese von Fischer Z höre, erinnere ich mich ganz genau an diese klebrige, idyllische Wohnung. Schinkenhäger habe ich nie wieder getrunken.

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Eckart von Hirschhausen 1990. Hirschhausen hat über die »Wirksamkeit einer intravenösen Immunglobulintherapie in der hyperdynamen Phase der Endotoxinämie beim Schwein« promoviert.

ECKART VON HIRSCHHAUSEN, MODERATOR UND COMEDIAN

Das klingt jetzt so ein bisschen wie »Opa erzählt vom Krieg« - aber als ich zu meiner Heidelberger Studentenzeit mehrere Jahre in einer großen WG gewohnt habe, gab es noch kein Internet. Wir hatten auch keinen Fernseher. Sonst hätte ich wohl nie von dem ungewöhnlichen Talent meiner Mitbewohnerin Bettina erfahren. Sie hatte eine unglaubliche Fantasie, gepaart mit einem fotografischen Gedächtnis. Besser gesagt, mit einem »Bewegtbild«-Gedächtnis. Sie liebte gute Filme. Und noch viel mehr liebte sie es, von diesen Filmen zu erzählen. Abendelang, nächtelang, in kleiner oder großer Runde. Echtes Kopfkino. Ohne Werbung. Ihre Erzählungen konnten länger dauern als die Filme selber. Vielleicht hatten alle Filme, die sie an uns weitergab, auch im Original Überlänge gehabt, das spielte keine Rolle, denn vor unserem geistigen Auge entstanden detailgetreue cineastische Meisterwerke. Ich weiß heute bei einigen Klassikern nicht, ob ich sie vor 25 Jahren selber gesehen habe oder sie mir nur sehr lebendig vorgestellt wurden. Wir hatten ein großes Wohnzimmer, einen großen Kühlschrank, alte Sofas zum Fläzen und Zusammenrutschen - und vor allem Zeit. Echtzeit mit Überlänge. Ach ja, studiert haben wir auch.

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Hannes Jaenicke 1998. Jaenicke ist nicht nur Schauspieler: Als Regisseur und Autor engagiert er sich für Tier- und Umweltschutz sowie gegen Rechtsextremismus.

HANNES JAENICKE, SCHAUSPIELER

Bis Mitte dreißig habe ich durchgehend in verschiedenen WGs gelebt. Das war immer actionreich, aber selten komfortabel. Mein erstes Zimmer bezog ich an der Schauspielschule in Wien: zu viert in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, und das rund um die Uhr. Mir machte das nichts aus, ich war mit zwei Geschwistern in einem kleinen Zimmer aufgewachsen.

Auch später war es uns schnuppe, wie unsere Wohnung aussah, ob sie geräumig war oder nicht, irgendwo unterkommen musste man halt. Wir haben uns nie sonderlich in unserem neuen Heim eingerichtet. Das Einzige, was bei keinem Umzug fehlen durfte, war meine etwa 1000 LPs umfassende Plattensammlung. Der Rest war eher improvisiert, nicht zuletzt deswegen, weil ich auch viel ins Ausland reiste. Ich war also so etwas wie der perfekte Mitbewohner.

Ich hingegen hatte nicht immer Glück mit meinen Mitbewohnern. Es kam schon mal vor, dass ich bestohlen wurde oder mit jemandem zusammenwohnte, der ständig den Kühlschrank leer gegessen hat. Daraus habe ich gelernt und bin fortan nur noch mit Kumpels oder Verwandten zusammengezogen. Die meisten waren Gleichgesinnte, also Regisseure, Kameramänner, Regieassistenten oder Schauspieler. Das hat mich inspiriert, aber auch als Mensch weitergebracht. In einer Wohngemeinschaft bespricht man ja nicht nur neue Stücke, sondern auch die eigenen Neurosen und das eigene Ego. Für die Bühne kann das sehr hilfreich sein.

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MICHAEL VESPER, POLITIKER

In einer WG zu wohnen mag in den Achtzigern für manche Teile der Gesellschaft noch ein kleiner Skandal gewesen sein, für uns Linke und Alternative war es das Normalste der Welt. Ab 1983 pendelte ich von Bielefeld nach Bonn, es war das Jahr, in dem die Grünen erstmals in den Bundestag einzogen. Damals herrschte in der linken Szene eine unglaubliche Aufbruchstimmung: Zum ersten Mal in dieser Republik sollte es gelingen, mit einer neuen politischen Kraft dauerhaft die Parlamente zu entern. Wir fühlten uns alle ein bisschen wie frisch gebackene Pioniere, ganz besonders auch in der Kirschallee 6 in Bonn, wo nach und nach eine rot-grün gefärbte WG entstand: Waltraud Schoppe, Renate Schmidt, Helga und Ulli Heide wohnten dort, und anfangs, bis er 1986 nach Niedersachsen ging, auch Gerhard Schröder, natürlich standesgemäß getrennt im eigenen Apartment im Erdgeschoss. Wir bevölkerten in wechselnder Zusammensetzung die oberen drei Stockwerke.

Besonders wichtig: die große Wohnküche im 2. Stock. Helga Heide war eine fantastisch gute Köchin und tischte am Abend oft für Gäste auf. Dann saßen wir am großen Eichentisch, tranken Bier und Wein und sprachen über unsere Vorstellung von Politik. Bei uns sollte alles anders werden, weniger abgehoben und elitär, eine »Anti-Parteien-Partei« eben. Ein Abgeordneter sollte nicht länger als zwei Jahre im Amt sein, lautete das damalige Credo, das ich als Fraktionsgeschäftsführer organisatorisch umzusetzen hatte. Eine Koalition mit der SPD war zu der Zeit undenkbar. Trotzdem hatten wir ein gemeinsames Wohnzimmer: die legendäre Kneipe »Provinz« gegenüber dem Kanzleramt. Hier kam und wuchs die rot-grüne Community zusammen und schmiedete Pläne. Schröder rüttelte am Zaun.

Ich wohnte sieben Jahre in der Kirschallee. Neben politischem Kalkül lernte ich, wie man ein Schnitzel richtig brät und was Gastfreundschaft bedeutet. Mehrfach bekam ich Besuch aus Namibia, nicht für ein paar Wochen, nein, in diesem Haus waren Gäste auch für Jahre willkommen. Zuletzt war ich 2013 zu Besuch. Bis auf die Untermieter hat sich wenig verändert. Helga ist immer noch (und jetzt auch vom Alter her) eine 68erin, die Wohngemeinschaft hat sie nie ganz aufgelöst. Und damit wohl auch ein Stück politische Geschichte konserviert.

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Ulrich Wickert 1976. Im August 2006 wünschte er den Zuschauern der ARD-Tagesthemen ein letztes Mal »eine geruhsame Nacht«, dann ging er in den TV-Ruhestand. Kürzlich erschien sein Krimi »Das marokkanische Mädchen«.

ULRICH WICKERT, JOURNALIST UND AUTOR

Als ich 1963 zum Studieren in die USA ging, kannte kaum einer den Begriff »WG«. Mit Freunden zusammenzuziehen war gang und gäbe und oft auch finanziell die einzige Alternative. Das war zu einer Zeit, als man noch nicht sofort zu seiner Freundin zog. Ich arbeitete damals in einem Hotel und schaltete eine Anzeige in der New York Times für eine passende Wohnmöglichkeit. Ich zog dann mit einem schwarzen Schauspieler zusammen, der gerade an einer Theaterproduktion arbeitete. Später stellte sich heraus, dass er schwul war. Für die damalige Zeit war das ein Riesenskandal, mein Freundeskreis empfand das aber als ganz normal und sah das nicht weiter kritisch. Im Gegenzug fand es mein Genosse unglaublich spannend, mit einem weißen Mann zusammenzuwohnen. Einmal schmiss er eine Fete, es war dann hauptsächlich seine schwule Community, die vorbeikam. Er ermahnte seine Kumpels aber, mich nicht anzubaggern oder stundenlang anzuquatschen.

Meine Zeit in dieser Wohnung zeigte mir das teils noch sehr konservative Amerika von einer ganz anderen Seite. Aber wir wohnten ja auch in New York und nicht in Texas, wo man mich vermutlich durch die Straßen gejagt hätte als Mitbewohner eines schwulen schwarzen Schauspielers. »Fehlt nur noch, dass er Jude ist«, hätten die Leute wohl gesagt.

Drei Jahre später zog ich mit zwei Kumpels in eine Wohnung. Der Dritte zog nach einer Woche aus, um sich »selbst zu finden«, zahlte die Miete aber weiter, was uns sehr recht war. Der Vermieter war Arzt und hatte seine Praxis genau unter unserer Bude. Als wir einmal eine Fete schmissen, rief er wutentbrannt an und schrie in den Hörer, wir sollten doch gefälligst die Musik leiser drehen. »Wir können Sie leider nicht verstehen«, gaben wir scheinheilig zurück. Das hat unsere Mietdauer etwas verkürzt.

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Doris Dörrie 1974. Dörrie hat unter anderem in den USA studiert und unterrichtet an der Hochschule für Fernsehen und Film in München.

DORIS DÖRRIE, REGISSEURIN UND AUTORIN

Mit 19 Jahren folgte ich einem jungen Mann, in den ich mich unsterblich verliebt hatte, von Kalifornien nach New York und fand da erst heraus, dass er noch bei seinen Eltern wohnte und nicht wusste, wohin mit mir. Eine Wohnung war unbezahlbar, es gab auch nur wenige Wohngemeinschaften. Jeden Tag studierte ich mit wachsender Panik die Village Voice. Mir fiel die Annonce einer WG auf, die sich »The Insane Asylum«, das Irrenhaus, nannte. Ich fand das lustig, ich Schaf, fuhr nach Brooklyn und stellte mich vor. In der riesigen Wohnung wohnten sieben Frauen und ein Typ, Frank, dessen Gesicht man nie recht sehen konnte, weil er seine Haare vor ihm zugezogen hatte. Man nahm mich sofort, auch das hätte mich stutzig machen sollen.

Die Frauen, jetzt acht mit mir, kochten reihum, und jede hatte nun, da es mich gab, einen Tag in der Woche frei. Deshalb mochten sie mich. Sie sahen allesamt umwerfend aus, hatten ellenlange Haare, trugen weite Kleider und Fußkettchen und hatten Hunde, die Bandanas um den Hals trugen. Ständig wurden Cookies gebacken. Tagsüber schliefen alle, aber nachts verwandelte sich die große, düstere Wohnung in einen Taubenschlag. Die Besucher rannten in Franks Zimmer, aber ich sah nie, was dort geschah. Ausschließlich lief Musik von The Grateful Dead. Es gab mindestens vier Briefwaagen, aber - nie sah ich jemanden Briefe schreiben. Frank war launisch und gab den Frauen ab und an Taschengeld. Mit mir sprach er kein einziges Wort. Beim Essen saß er am Kopfende des Tisches wie ein Patriarch. Eines Nachts kam die Polizei und nahm alle fest. Außer mir. Ein riesiger, 150 Kilo schwerer Polizist glaubte mir tatsächlich, dass ich von den Drogengeschäften der Bande keine Ahnung gehabt hatte.

Ich zog um nach Manhattan in die winzig kleine Wohnung einer jungen Lehrerin. Mäuse kämpften sich durch den versifften Flokati, Küchenschaben bewohnten in Ermangelung einer Küche das Bad. Mein Freund, der mich kein einziges Mal im »Irrenhaus« besucht hatte, zog zu mir in mein acht Quadratmeter großes Zimmer. Die Lehrerin war ein wenig labil und bedrohte uns mehrmals nachts mit dem Messer, weil sie der Meinung war, ich hätte aus Europa die Sünde mitgebracht. Eines Nachts warf sie ihren Fernseher aus dem Fenster, stellte sich auf das Fensterbrett im zehnten Stock und predigte der ganzen Stadt Keuschheit und Tugend. Wir holten sie vom Fensterbrett und ich sang ihr Der Mond Ist Aufgegangen zur Beruhigung vor. Wir lebten fast ein halbes Jahr zusammen, dann ging ich nach München, und alle weiteren Wohngemeinschaften dort kamen mir ein wenig blass vor.

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ALIN COEN, SÄNGERIN

Wohngemeinschaften liegen bei uns wohl in der Familie. Schon als Kind hat sich mein Elternhaus wie eine WG angefühlt – wir hatten ständig neue Mitbewohner: Pflegekinder, Au-Pairs, Studenten. Als ich 2003 für's Studium nach Weimar ging, kam sowieso nur eine WG für mich in Frage. Der Hauptmieter unserer Sechserer-WG hob den Altersdurchschnitt um einige Jahre, er war 41, machte sich am Telefon jedoch drei Jahre jünger. Für uns war er einfach ein Erwachsener mit einem erwachsenen Job als Beamter. Einmal kriegte er sich in die Haare mit einem Mitbewohner, weil der laut Elvis-Musik hörte. Es ging so weit, dass die Polizei bei uns in der Wohnung stand. Die Polizisten schauten in die Personalausweise, und schüttelten die Köpfe darüber, dass zwei erwachsene Menschen für so eine Kleinigkeit die Polizei gerufen hatten.

Bei uns gab es eigentlich nur eine Regel: Sich in der WG zu verlieben war ein No-Go. Wir verknallten uns natürlich trotzdem. Manchmal waren wir auch Rüpel: Einer meiner Mitbewohner erschreckte gern Kommilitonen, die an unserem Fenster vorbeigingen, mit einem Kübel Wasser. Einmal schmiss er meine Turnschuhe aus dem Fenster, ich konterte mit seinem Pullover.

Irgendwann wurde es dann richtig eng in unserer WG: Der Hauptmieter kam verheiratet aus seinem Kambodscha-Urlaub zurück und wohnte fortan mit seiner Frau bei uns. Zum Ärger des Elvis-Fans kochte sie ihr Essen manchmal ohne Pfanne direkt auf der Kochplatte.

Heute pendle ich zwischen drei Städten hin und her. Wenn ich in Hamburg bin, wohne ich in der Wohngemeinschaft meiner Mutter. Sie wohnt mit ihrem neuen Mann, ihrem Ex-Mann (mein Vater), einem deutsch-indischen Paar mit Neugeborenem, und einer jungen Journalistin in einer Wohnung. Da musste sie sich erst gar nicht jünger machen wie mein Hauptmieter damals, denn in meiner Familie ist es wohl eine Ausnahme, nicht in einer WG zu wohnen.

Roger Willemsen im Jahr 1980

ROGER WILLEMSEN, PUBLIZIST

Als Student im dritten Semester kam ich nach Florenz, lernte auf der Straße eine Amerikanerin kennen und zog in das freie Zimmer ihrer WG - mit zwei Amerikanerinnen, einer Argentinierin und einem Türken. Anna-Maria, die Argentinierin, war die größte und schönste Frau, die ich je gesehen hatte. In ihrem Zimmer nebenan liebte sie zu Ravels Bolero Luigi, einen älteren, halbhohen Neapolitaner. Die Höhepunkte fielen immer zusammen, immer. Es war einschüchternd. Monate später fand Anna-Maria heraus, dass Luigi Frau und Kinder in Neapel hatte. Danach verlor sie ihre Schönheit, strandete unter den Dealern am Ponte Vecchio, und da der Vermieter uns den Strom abdrehte, zogen wir in alle Himmelsrichtungen, ohne die letzte Miete zu begleichen. Ich erst in das Kloster von Settignano, dann nach München.

Dort lernte ich zwei Männer kennen, die sich auf Wohnungssuche begegnet waren, eine Familienwohnung an der Ingolstädter Straße gemietet hatten und nun einen dritten Mann im Bunde brauchten. So fanden wir zueinander: ein Astrophysiker, er untersuchte die Ozonschicht, von der ich erstmals hörte, ein Informatiker, welcher bei Nixdorf programmierte und immer mit einem Bein in der Zukunft stand, und ich, ein Germanist. Ich kochte nach Mitternacht Vanillepudding, was die anderen befremdlich fanden. Andererseits abonnierte der eine ohne Begründung eine Lokalzeitung aus Bünde, der Zweite fand, der »mit Abstand« schönste Männername sei Bruno. Anders gesagt, wir waren die glücklichste Gemeinschaft dreier Männer ohne Gemeinsamkeiten.

Unsere Feste wurden legendär. Menschen aus allen möglichen Ländern übernachteten bei uns. Wir teilten Anfälle von Fernweh, Attacken von Liebeskummer und spielten manchmal Flipper in der Bahnhofsgegend. Sogar zu Pferderennen nach Daglfing gingen wir zusammen. Ich sehe den Balkon noch, auf dem ich 500 Seiten meiner Tagebücher verbrannte, weil ich sie plötzlich peinlich fand. Der Bruder des Informatikers ist noch heute mein Steuerberater. Der Sohn des Astrophysikers heißt nicht Bruno, und mein letzter Vanillepudding ist lange her.

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URSELA MONN, SCHAUSPIELERIN

Meine erste WG war eine Altbauwohnung in Wien die wir zu Dritt bezogen. Der einzige Haken daran war, dass die Badewanne, hinter einem Vorhang versteckt, in meinem Zimmer stand. Die Absprache, wer wann badet klappte aber ganz gut. Später bekam ich dann ein Einzelzimmer in einem Art Wohnheim für Studenten des Max-Reinhard-Seminars. Ein Zimmer lag neben dem anderen, waschen musste man sich im Hof mit fließendem, aber kaltem Wasser. Das große Doppelzimmer vorne am Eingang gehörte Bettina, dort fand fast jeden Abend eine Party statt.

Meine zweite WG-Erfahrung liegt noch gar nicht so lange zurück, fand allerdings nur vor der Kamera statt: Ich spielte Erica, die eine Alten-WG mit Gary (Ilja Richter) gründet. Privat würde ich das wohl nicht mehr machen, finde die Wohnform aber prinzipiell gut: ein Haus voll mit befreundeten Paaren, die sich gegenseitig unterstützen, in dem aber jede Familie trotzdem autonom für sich lebt; so wie bei Henning Scherf in Bremen. Im Alter wird auch die Nachbarschaftshilfe immer wichtiger. Es ist schön, wenn man füreinander da ist und sich auch mal bei kleinen Arbeiten hilft. Da fällt mir ein, die Frau mit dem kleinen Hund vorne an der Ecke habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Morgen werde ich bei ihr klingen und fragen, ob alles okay ist.

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Foto: Nina Stiller

FIVA, RAPPERIN UND MODERATORIN

Ich wohne noch immer in meiner alten WG in München, allerdings alleine, weil meine alten Mitbewohner inzwischen ausgezogen sind. Sie haben nichts zurück gelassen bis auf eine Menge Korkenzieher – dafür haben sie meinen Föhn mitgenommen. Wenn man aus einer WG auszieht, oder wenn die Mitbewohner ausziehen, dann hat man das erste Mal im Leben dieses Erwachsenen-Gefühl. Bei mir machte sich das insofern bemerkbar, als ich mir einen großen Esstisch anschaffte. Ich dachte mir, ich würde meine Freunde zum Essen einladen oder meiner Mutter dort etwas Selbstgekochtes servieren. Am Ende stand der Tisch ungedeckt und nagelneu in der Ecke und meine Besucher lungerten wie eh und je auf meiner alten Couch herum.

Meine alte WG war damals eine Art Katzenretterhaushalt. Das lag an »Micky«, dem Haustier unserer Nachbarin, die sich hingebungsvoll um sie kümmerte. Das hinderte »Micky« aber nicht daran, regelmäßig die Flucht zu ergreifen. Meistens versteckte sie sich auf den Balkonen aller Nachbarn und schrie jämmerlich. Kurz darauf klingelte es bereits an unserer Wohnungstüre und das ganze Stockwerk half mit, die Katze zu finden. Irgendwann ist sie weggelaufen und das wöchentliche Ritual fand ein trauriges Ende.

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SUSANNE BORMANN, SCHAUSPIELERIN

Nach dem Abitur 1999 habe ich noch kurz bei meinen Eltern gelebt, pendelte aber die meiste Zeit nach Berlin zu meinen Freunden. Irgendwann erschien mir eine Wohnung in der Hauptstadt dann als notwendig. Die Suche hatte ich mir um einiges einfacher vorgestellt: Die WGs, die ich mir anschaute, waren entweder wahnsinnig spießig oder die totale Anarchie. Oft gab es so strenge Regeln, dass einem die Lust am Leben verging, und dann kam ich wieder in WGs, wo sich niemand um irgendetwas kümmerte. Ich erinnere mich an eine Wohnung, die komplett verdunkelt und gruselig war. Einmal wurde mir ein Acht-Quadratmeter-Zimmer angeboten, mit Blick auf eine Backsteinmauer. Ich dachte mir: »Wenn ich hier länger als eine Woche lebe, werde ich depressiv.«

Ich zog dann mit dem Ex-Freund meiner Schwester, einem zwanzig Jahre älteren Fotografen, in eine Wohnung in der Simon-Dach-Straße in Berlin-Friedrichshain. Heute geht dort die Party ab, damals, vor 15 Jahren, war noch nicht ganz so viel los. Genau unter meinem Zimmer stand allerdings eine Parkbank, an der sich die betrunkenen Barbesucher gerne zum Grölen trafen.

Die legendärsten Partys fanden aber in WGs in Kreuzberg statt. In einer lebten mehrere Musiker zusammen und spielten oft Konzerte in ihrem Wohnzimmer. Die waren besser als jeder Clubbesuch, so richtig mit Springen und Tanzen. Wie die Nachbarn das ausgehalten haben, ist eine andere Frage. Einmal kam eine alte Frau hoch und meinte, bis vier Uhr Morgens wäre es ja noch okay, aber um fünf, da würde sie dann gerne langsam schlafen gehen.

(Fotos: InterTopics; ddp images; dpa; privat)