»Politiker brauchen keine Gesetze, um mit uns zu machen, was sie wollen«

Seit Monaten blickt die Welt sorgenvoll auf Moskau. Wir haben Menschen aus der Stadt an einem Tisch versammelt, um ihre Meinung zu erfahren: über Putin, die zunehmende Abschottung Russlands - und den Zauber, dort zu leben.

Eine Viertelstunde zu Fuß vom Kreml, die Moskwa flussaufwärts, liegt eine Insel. Hier auf dem Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik Roter Oktober ist in devergangenen Jahren ein Zentrum der jungen, kreativen Moskauer Szene entstanden. Mit Clubs, Bars, Galerien und den Fernsehstudios des liberalen Senders Doschd. In der »Strelka Bar« treffen sich diejenigen, die an ein weltoffenes Moskau glauben.
Für das Stadtgespräch hat man uns den Ecktisch mit dem Sofa aus grünem Samt freigehalten. Vor dem Fenster auf der anderen Flussseite steht die Christ-Erlöser-Kathedrale, ein Symbol für das andere Russland, die Orthodoxie, die Verbindung von Staat und Kirche – und den Protest dagegen, den Pussy Riot dort aufgeführt hat. Als wir den Tisch reservieren, erkundigt sich der Geschäftsführer der Bar, worüber wir sprechen wollen. »Über Moskau«, sagen wir. In Ordnung, meint er, aber eine Auflage gebe es: »Über Politik wird nicht gesprochen.« Das ist uns nicht immer gelungen.

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Es ist kurz vor zwölf, da kommt eine SMS von Alexandra, die wir zwei Tage zuvor auf dem Marsch für den Frieden getroffen haben, als sie ein Plakat auf Ukrainisch in der Hand hielt. Sie stammt von dort, lebt aber seit acht Jahren in Moskau. Eigentlich sollte sie unser erster Gast sein, jetzt entschuldigt sie sich: »Wir leben nicht in einem freien Land. Tut mir leid.« Eine halbe Stunde später kommt Oleg Ljachowenko, 25, lange Haare, Fünftagebart, Seidenschal. Er unterrichtet Politik an der Moskauer Lomonossow-Universität. Im Sommer hat er am Seliger-Lager teilgenommen, wo sich die Putin-Jugend trifft. Höhepunkt ist traditionell eine Audienz beim Präsidenten. Ljachowenko bestellt Doradenfilet mit Granatapfelkernen.

SZ-Magazin: Guten Tag, Herr Ljachowenko. Danke, dass Sie gekommen sind, obwohl Sie nachher noch ein Seminar abhalten.

Oleg ljachowenko: Ja, es geht um Russlands Gegenwartspolitik.

Wann fängt bei Ihnen denn die Gegenwart an?
Ljachowenko: 1992. Wir analysieren, wie die Verfassung der Russischen Föderation entstand. Wir untersuchen Wahlkämpfe und die Geschichte der Parteien.

Vor ein paar Tagen fand in Moskau ein Friedensmarsch statt. Zehntausende gingen auf die Straße, um gegen Russlands Politik in der Ukraine zu protestieren. Waren Sie dort?
Ljachowenko: Nein. Mich interessiert diese Protestbewegung als Phänomen, aber an dem Trubel möchte ich mich nicht beteiligen. Das ist so ein Durcheinander, man kann diesen Überfluss an Information doch gar nicht mehr verarbeiten. Ich komme mir dann vor wie ein sensibler Chip, auf den man mit dem Hammer haut.

Dafür haben Sie dieses Jahr am Jugendlager Seliger teilgenommen.

Ljachowenko: Ja, es wurden wieder junge Akademiker, Dozenten und Forscher eingeladen, die Fragen an die Staatsmacht stellen konnten. Fragen, die auf Protestmärschen nicht gestellt werden. Es kam zu richtig guten Diskussionen.

Hatten Sie auch eine Frage an Wladimir Putin?

Ljachowenko: Ja, aber ich konnte sie nicht stellen. Wobei der Mann links und das Mädchen rechts von mir aufgerufen wurden.

Hilft ein Besuch dieser Veranstaltung Ihrer wissenschaftlichen Karriere?
Ljachowenko: Ich ahne, worauf die Frage abzielt, aber glauben Sie mir, meine Studenten können frei wählen, über welche Politiker sie forschen, über die an der Macht oder über Oppositionelle.

Sie würden also auch über Michail Chodorkowskij schreiben?
Ljachowenko: Ich verstehe nicht, warum Chodorkowskij seine ablehnende Haltung gegenüber der Staatsmacht nicht überdacht hat. Er hätte sehr viel erreichen können, wenn er sich mit Putin zusammengetan hätte. Zwei kluge Köpfe, zwei Strategen.

Wenn Putin ihn nicht ins Gefängnis geschickt hätte – ganz bestimmt.
Ljachowenko: Man kann lange darüber diskutieren, was damals passiert ist. Aber mir scheint, Chodorkowskij hatte durchaus eine Wahl. Und wenn er eine andere Entscheidung getroffen hätte, hätten viel mehr Menschen davon profitiert.

Können Sie sich mit Ihrem Dozentengehalt eine Wohnung in Moskau leisten?
Ljachowenko: Wer in Moskau nichts dazuverdient, ist stark eingeschränkt. An der Uni verdiene ich weniger als die Hälfte meines Einkommens. Nebenbei arbeite ich als Politikberater und schreibe Analysen, wenn sich ein Abgeordneter zu einem Thema ein Bild machen möchte. Ich wohne im Südwesten, brauche 45 Minuten mit der U-Bahn und dem Bus zur Arbeit. Wissen Sie, soziologisch gesehen ist Moskau ein schwarzes Loch. Es zieht Menschen aus dem ganzen Land an, und kaum einer geht zurück.

13.30 Uhr. Tatjana Melnikowa kommt. Sie hat vor mehr als 20 Jahren als Kellnerin angefangen, heute leitet sie das Restaurant »Odessa-Mama« und die Kette »Chatschapuri«, in der georgische Küche serviert wird.

Frau Melnikowa, herzlich willkommen. Wir hoffen, es gefällt Ihnen hier, Sie sind ja vom Fach.
Tatjana Melnikowa:
Ich war schon ein paar Mal hier, aber um ehrlich zu sein, ist die »Strelka Bar« nicht gerade mein Lieblingsort. Ich verbringe viel Zeit in Restaurants, deshalb bin ich sehr wählerisch.

Touristen beklagen oft, dass man in Moskau als Gast so selten angelächelt wird. Woran liegt das?
Melnikowa: In der russischen Mentalität ist es nicht vorgesehen, einen Fremden anzulächeln. Wenn Sie ein Unbekannter anlächelt, will er entweder was von Ihnen oder er hat nicht alle Tassen im Schrank. Dafür ist der Service bei uns viel besser als in Europa. Die Aufmerksamkeit, die einem Gast gewidmet wird, ist in Moskau viel größer. In Europa gilt es ja als normal, dass man in einem Restaurant sitzt, und weit und breit ist kein Kellner zu sehen. Wenn bei uns jemand einen Gast anschnauzt, wird er sofort entlassen. Lieber räume ich die Tische selbst ab.

13.45 Uhr. Irina Boganzewa kommt, ganz Schuldirektorin: Kostüm, strenge Brille. Anfang der Neunzigerjahre hat die Historikerin für den Moskauer Bürgermeister gearbeitet. Sie bestellt einen Cocktail mit frisch gepresstem Orangen- und Bananensaft und einen Salat mit Mozzarella.

Frau Boganzewa, das ist Tatjana Melnikowa, ihr gehören die »Chatschapuri«-Restaurants.
Irina Boganzewa: »Chatschapuri«? Kenne ich. Gehe ich manchmal hin.
Melnikowa: Was machen Sie denn beruflich?
Boganzewa: Ich leite eine Privatschule. Sie heißt Europäisches Gymnasium.
Melnikowa: Ah, kenne ich. Ich habe drei Kinder

Und das ist Oleg Ljachowenko, Politologe und Seliger-Teilnehmer.
Boganzewa: Seliger? Eine Irrenanstalt! Die meisten meiner Altersgenossen teilen die kommunistischen Ansichten ihrer Eltern. Ich bin da anders. Ich war am Wochenende auf dem Friedensmarsch und habe mein Plakat »Mütter gegen Krieg« hochgehalten, zusammen mit drei ehemaligen Kommilitonen aus der Uni. Der Rest aus unserem Jahrgang vertritt andere Ansichten. Ich finde das traurig, denn wenn ein Mensch so denkt, der keine Bücher gelesen und die Welt nicht gesehen hat, kann ich das verstehen. Aber wenn ein promovierter Historiker den Krieg in der Ukraine befürwortet, ist das traurig.
Ljachowenko: Der Dekan unserer Ökonomischen Fakultät hat mal gesagt: »Die Studenten werden meine politischen Ansichten nie erfahren.« Ich finde, genau so sollte es sein. Ich vertrete auch keine Ideologie, dafür bin ich zu sehr Wissenschaftler.

Eine Frage an Sie beide: Was antworten Sie Ihren Schülern und Studenten, wenn die Sie nach der Krim fragen?
Boganzewa: Sagen wir so, ich dränge meine persönliche Meinung niemandem auf, aber ich verstecke sie auch nicht. Ich bin bei Facebook und viele meiner Schüler und deren Eltern sind es auch. Ich habe Bilder vom Friedensmarsch gepostet, würde aber nie in der Schule mit Plakaten rumlaufen. In meinem Büro hängt auch kein Porträt von Wladimir Putin. Es hing nie eins von Dmitrij Medwedew. Und nie eins von Boris Jelzin. Bei mir im Zimmer hängt das Bild eines Robbenbabys. Es hat eine schwarze Nase und traurige Augen.

Warum eine Robbe?
Boganzewa: Staatschefs kommen und gehen, aber dieses Robbenbaby bleibt. Was fühlt man, wenn man ein Robbenbaby sieht? Man will es beschützen und aufpäppeln. Genau das ist meine Aufgabe als Schulleiterin.

Warum können Sie es sich erlauben, kein Putin-Porträt aufzuhängen? Weil Sie Direktorin einer Privatschule sind?

Boganzewa: Überhaupt nicht. Gerade ich habe viel mehr zu verlieren als staatliche Schulleiter. Glauben Sie mir, ich werde von der Feuerwehr, dem Gesundheitsamt und dem Verbraucherschutz regelrecht verfolgt. Es ist nicht so, dass wir frei sind. Aber politische Einflussnahme auf die Kinder lasse ich nicht zu. Genauso wie ich es nicht zulasse, dass fromme Lehrer Ikonen in ihren Klassenzimmern aufhängen.

Und wie sieht es an den Moskauer Hochschulen mit der Meinungsvielfalt aus?
Ljachowenko: Es gibt eine bunte Palette an Meinungen.
Boganzewa: Moment, die Sache mit der Krim will ich noch zu Ende erzählen. Ich habe gehört, dass von ganz oben die Anweisung gekommen ist, Schulkinder in Sachen Krim aufzuklären. Mich hat diese Anweisung noch nicht erreicht, wahrscheinlich, weil ich eine private Schule leite, ich wollte aber auch nicht abwarten und habe schon mal einen Kolumnisten der liberalen Zeitung Wedomosti eingeladen. Er hat den Schülern die Geschichte der Krim erzählt – ganz neutral. Denn leider vergessen wir sehr schnell. Was gestern war, liegt weit zurück, und was vorgestern war …
Ljachowenko: … hat nie stattgefunden. Das sehe ich ähnlich. Man sollte aufklären, aber nicht ideologisch auf die Trommel hauen.
Boganzewa: Auf dem Friedensmarsch fragte mich ein Mann, ob ich nicht Angst habe, dass meine Schule geschlossen wird, weil ich dieses Plakat in der Hand hielt. Ja, vielleicht muss ich eines Tages für meine Ansichten bezahlen. Aber wenn ich sie verschweige, bin ich doch heute schon nicht mehr ich selbst.

»Leider verstehe ich wenig davon, wie man Richter besticht.«



Halten Sie Moskau für eine europäische Stadt?
Boganzewa: Natürlich. Europäische Städte sind ja nicht alle gleich, jede ist auf ihre Art einzigartig, ob Bukarest, Paris oder Moskau.
Melnikowa: Moskau ist nicht richtig Europa, es ist anders. Hier gibt es nicht diese Ruhe und Ordnung. Europa, das ist dieses gemütliche alte Mütterchen. Bei uns herrscht Unruhe, die Stadt ist ständig in Bewegung.

Sie haben eine erfolgreiche Kette von vier Restaurants mit georgischer Küche aufgebaut. Wie plant man in so einer unberechenbaren Stadt?
Melnikowa Business kann man hier unmöglich planen. Wie denn auch? Da machst du einen schönen Plan, und dann kommt ein Importverbot für Lebensmittel.

Nach dem Georgien-Krieg 2008 durften jahrelang kein Mineralwasser und kein Wein aus Georgien nach Russland eingeführt werden.
Melnikowa: Auf das georgische Embargo waren wir vorbereitet. Als wir unsere Restaurants aufgemacht haben, war es bereits in Kraft. Aber die neuen Sanktionen sind wie Schnee auf uns herabgerieselt. Ich bin meine Liste mit 120 Produkten durchgegangen, und zum Glück waren nur drei aus Europa dabei: Lachs, Zucker und Sellerie. Das gibt es alles auch aus russischer Produktion. Es geht aber um was anderes: Schon am nächsten Morgen hatte ich mein Postfach voll mit Listen, was aus dem Angebot verschwindet und was teurer wird. Nicht ein Zulieferer hat die Gelegenheit verstreichen lassen, die Preise anzuheben. Die Champignons, die immer schon aus Russland kamen, kosten plötzlich nicht mehr 160 Rubel (3,20 Euro) pro Kilogramm, sondern 250 (5 Euro).

Sind Restaurantbesuche in Moskau bald wieder ein Luxus?
Melnikowa: In meinen Restaurants sind die Preise gleich geblieben, aber die Krise ist überall zu spüren. Heute kriege ich in der Woche 20 Lokale angeboten, für die ich früher sofort den Computer zugeklappt hätte und zur Besichtigung gefahren wäre, mit der Anzahlung in der Tasche. Die Preise werden pro Quadratmeter im Jahr verhandelt, und zwar in Dollar. Heute zischen wir: »Für anderthalbtausend? Nehme ich nicht.« In einer Woche bieten sie es für tausend an und irgendwann für fünfhundert. Für uns ist das gut, wenn Arbeitskräfte und Immobilien frei werden, aber die Schwachen werden aus dem Markt gedrängt.

Vor einem Jahr haben Sie ein Lokal verloren. Was war da los?

Melnikowa: Wir hatten einen Mietvertrag über mehrere Jahre, wasserdicht bis in alle Einzelheiten. Und wie das manchmal in Russland eben vorkommt, taucht plötzlich ein Mann wie aus dem Nichts auf, zufällig ein ehemaliger Minister, und sagt: »In Wahrheit gehört das alles mir. Wir machen jetzt einen neuen Vertrag, und ihr zahlt anderthalb Mal so viel.« Ein halbes Jahr lang haben wir uns verteidigt. Er hat uns das Gas abgestellt, den Strom und schließlich das Wasser. Wir haben trotzdem
weitergearbeitet, mit Generator und Wassertank. Schließlich sind fünfzig kräftige Kerle vom Kaukasus mit Knüppeln angerückt und haben unserem Wachmann auf den Schädel gedroschen. Das war um fünf Uhr früh. Die Polizei ist gegen Mittag vorbeispaziert.

Wie kann man sein Unternehmen vor solchen Attacken schützen?
Melnikowa: Keine Ahnung. Wir streiten jetzt vor Gericht. Aber ich glaube, das wird noch neunzig Jahre dauern. So ein Prozess kostet viel Kraft. Und wer weiß, vielleicht gewinnen wir ja? Leider verstehe ich wenig davon, wie man Richter besticht. Und was mich ein wenig beunruhigt, ist dieses Foto unseres Gegners zusammen mit Bürgermeister Sobjanin auf der Jagd.

Haben Sie denn keine Schutzmacht?
Melnikowa: Das, was man in Russland ein »Dach« nennt, gab es in den Neunzigerjahren, also Schutzgeld dafür zu bezahlen, dass man nicht überfallen wird. Die erste Bar, in der ich gearbeitet habe, hieß einfach nur »Bar«, weil sie die einzige in dem kleinen Ort war, aus dem ich komme. Ich weiß noch, wie am dritten Tag nach der Eröffnung Leute kamen, mich mit Handschellen an den Herd fesselten und dem Chef drohten: »Wenn du uns nicht sofort Geld gibst, setzen wir sie mit dem Hintern auf die Herdplatte.« Das waren Banditen, aber so was gibt es heute nicht mehr. Mittlerweile kommt der Druck von der Sanitäraufsicht, der Feuerwehr, der Migrationsbehörde, der Steuerpolizei.

14.30 Uhr. Während sich Oleg Ljachowenko verabschiedet, steht plötzlich Anton Nossik am Tisch, etwas gebeugt an einem Gehstock mit silbernem Griff. Der Blogger gilt als Vater des russischen Internets, er hat Nachrichtenseiten wie gazeta.ru und lenta.ru gegründet, die professionell und kritisch berichtet haben, bis neue Eigentümer die Redaktionen auf Kreml-Linie brachten. Er trägt eine Kippa auf dem Kopf und ein Sweatshirt mit den Flaggen Russlands und Israels.

Irina Boganzewa hat gerade vom Friedensmarsch erzählt. Auf einem Video im Internet war zu sehen, wie Sie dort angepöbelt wurden. Fühlen Sie sich bedroht?
Anton Nossik: Im Internet haben sich die Anhänger der »Donezker Volksrepublik« verabredet, um die sogenannten Vaterlandsverräter auf dem Friedensmarsch zu attackieren. Diejenigen, die demonstrieren wollten, hat das offenbar nicht beeindruckt, dafür aber die Moskauer Polizei. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich auf dieser Demonstration erlebt, dass die Polizei wirklich darum bemüht war, Angriffe auf uns zu verhindern. Die Attacken waren ganz offensichtlich organisiert.Melnikowa Warum organisiert? Das kann doch auch spontan sein. Viele melden sich freiwillig, um in der Ukraine zu kämpfen. Ich habe das selbst erlebt. Ein Mitarbeiter hat mich gebeten: »Schicken Sie mich in den Donbass.«

Wie haben Sie darauf reagiert?
Melnikowa: Ich habe gesagt: »Du bist Klempner, ich kann dich höchstens in den Keller schicken, damit du dein Werkzeug in Ordnung bringst.«

Herr Nossik, Sie halten morgen das Seminar »Theorie und Praxis der Emigration«. Denken heute wieder viele daran, das Land zu verlassen?

Nossik: Zumindest ist das Interesse groß, mehr über Emigration zu erfahren. Und es wird mit jedem Tag größer, an dem über neue Verbote diskutiert wird.

Im Moment ist es bereits so, dass Angestellte von Polizei, Justiz und etlicher Behörden nur noch mit Genehmigung ihres obersten Vorgesetzten ausreisen dürfen. Manche fürchten sogar die Rückkehr von Ausreise-Visa.
Nossik: Die Menschen nehmen es eben wahr, wenn einem Geschäftsmann sein Unternehmen abgenommen wird oder Andersdenkende im Fernsehen angegriffen werden. Aber wer weggeht, löst damit auch keine Probleme. Für manche fangen sie damit erst richtig an. Emigration im eigentlichen Sinne gibt es ja heute kaum noch. Im Großen und Ganzen leben wir in einer offenen Welt, jeder entscheidet selbst, wo er wie lange lebt. Noch sind die Grenzen offen.

Gerade hat die Staatsduma ein Gesetz verabschiedet, das die Beteiligung von Ausländern an russischen Medien massiv einschränkt. Das betrifft auch Menschen mit einer zweiten Staatsangehörigkeit. Ist das gegen Leute wie Sie gerichtet?

Nossik: Unter anderem, ja.

Bedroht das Ihre Existenz?
Nossik:
Sagen wir so, ich muss jetzt informeller vorgehen. Ich kann kein Massenmedium mehr offiziell registrieren lassen, so wie das vom Gesetz vorgesehen ist. Aber mein Gott, dann arbeite ich eben ohne Registrierung weiter.

Das heißt, Sie schreiben weiter, was Sie immer geschrieben haben?
Nossik: Natürlich, natürlich …

… und warten ab, bis jemand vorbeikommt?
Nossik: Wenn einer kommt, dann kommt er eben. Die russischen Gesetze sind dafür bekannt, dass sie niemanden zu irgendetwas verpflichten. Es gibt diesen alten Spruch aus der Zarenzeit: »Die Strenge der russischen Gesetze wird kompensiert durch die Nachlässigkeit bei ihrer Anwendung.«
Boganzewa: Wissen Sie, man muss sich über solche Dinge nicht den Kopf zerbrechen, weil sie genauso gut ohne Gesetz kommen können. Die Politiker sind wirklich fast rührend mit ihren Gesetzen. Sie produzieren eins nach dem anderen, während gleichzeitig totale Gesetzlosigkeit herrscht. Die Wahrheit ist, sie brauchen kein Gesetz, um mit uns zu machen, was sie wollen.
Nossik: Dass sie ein Gesetz verabschieden, das mir verbietet, den Mund aufzumachen, und ich halte wirklich den Mund – diese Möglichkeit ziehe ich nicht in Betracht. Ich mache den Mund auf und sage ihnen, wohin sie sich ihre Gesetze stecken können. Melnikowa Entschuldigung, aber ich dachte, ich bin hier zu einem Gespräch über Moskau eingeladen. Jetzt geht es ja doch um Politik. Ich glaube, ich gehe jetzt besser, bevor mir noch was rausrutscht.

Melnikowa verlässt die Runde.

Herr Nossik, zurzeit kursiert die Angst, dass Russland vom Internet abgeschnitten werden könnte. Wie real ist so ein Szenario?
Nossik: Technisch wäre es kein Problem. Mubarak hat es geschafft, Ägypten innerhalb von 24 Stunden vom Internet zu isolieren. Die Frage ist nur, wie sinnvoll so ein Schritt politisch wäre. Nordkoreanische Verhältnisse hätten gravierende Folgen für die Wirtschaft und die öffentliche Meinung.

»Leider verstehe ich wenig davon, wie man Richter besticht.«


15.10 Uhr. Irina Boganzewa verabschiedet sich, Aidan Salachowa kommt und bestellt einen New York Cheese Cake. Zehn Minuten später erscheint die Ballettschülerin Natalja Filina mit ihrer Mutter. Nach kurzer Beratung bestellt sie einen grünen Salat mit drei Streifen Roastbeef.

Natalja, Sie sind mit Ihrer Mutter gekommen. Wohnen Sie noch zu Hause bei Ihrer Familie?
Natalja Filina: Nein, ich würde zu viel Zeit verlieren, wenn ich morgens eine Stunde durch den Verkehr in die Schule fahren müsste. Wir fangen früh an und sind oft erst spät am Abend fertig. Alle, die viel trainieren, wohnen im Internat. Die Schule sorgt sehr gut für uns.

Klassisches Ballett ist eine eher konservative Kunst. Ist Moskau eine konservative Stadt?

Filina: In Petersburg achten sie viel stärker auf Tradition. Dort werden die ganz alten Choreografien von Maja Plissezkaja eingeübt. In Moskau ist das Ballett moderner. Das Theater entwickelt sich mit der Stadt mit.

Wie wird man auf die berühmte Ballettschule des Bolschoi aufgenommen?
Filina: Erst prüfen sie die physische Eignung, heben dein Bein hoch, ziehen an dir. Dann kommt ein medizinischer Test, Augen und Wirbelsäule werden untersucht. Und schließlich soll man einen kleinen Tanz vorbereiten. Eigentlich ist es gar nicht so schwer, aber danach wird im Unterricht gnadenlos ausgesiebt.

Frau Salachowa, Sie haben 1992 die erste private Galerie in Moskau eröffnet. Inzwischen ist sie geschlossen. Warum?
Aidan Salachowa Ich wollte mehr Zeit für mich als Künstlerin haben. Seitdem meine Arbeiten auf der Biennale in Venedig zensiert wurden, sind die Preise für meine Kunst erheblich gestiegen. (Salachowas Familie stammt aus Aserbaidschan. Das aserbaidschanische Kulturministerium bestand darauf, dass auf der Biennale 2011 zwei von Salachowas Arbeiten verhüllt werden: Die Statue einer von Kopf bis Fuß verschleierten Frau und eine Skulptur, die den Schwarzen Stein von Mekka in einer vaginaähnlichen Marmorhülle zeigt).

Ist Moskau eine gute Stadt, um Künstler zu sein?
Salachowa: Das Bildungssystem ist schlecht. Ich unterrichte seit 14 Jahren am Surikow-Institut. Das Monatsgehalt eines Dozenten liegt bei 10 500 Rubel (etwa 200 Euro), das reicht gerade mal für die Pinsel. Ich versuche meine Studenten zu unterstützen, organisiere für sie Ausstellungen, bringe ihre Arbeiten an den Käufer. Bildung ist für mich eine Art Wohltätigkeit.

Gibt es in der Kunst eine Moskauer Schule?

Salachowa: In den Fünfzigerjahren wurde eine Moskauer Malerschule etabliert, an die man sich heute noch klammert. Leider bringt man den Studenten dort nur das Malen, nicht das Denken bei.

Kann man in Moskau als junger Künstler überhaupt überleben?
Salachowa: Sagen wir so, es entsteht gerade ein Vakuum, das es nicht mal zur Sowjetzeit gab. Damals gab es regen internationalen Austausch, trotz des Kalten Krieges. Heute sagen westliche Institutionen Ausstellungen russischer Künstler wegen der Ukraine-Krise ab.

15.30 Uhr. Elwina Juwakajewa kommt. Sie hat im Februar die Russian Open Games organisiert, einen internationalen Sportwettkampf für Lesben und Schwule.

Guten Tag, Frau Juwakajewa, erzählen Sie doch gleich mal, wie die Russian Open Games so gelaufen sind.
Elwina Juwakajewa: Die Open Games sollten in der Zeit zwischen den Olympischen Spielen und den Paralympics stattfinden. Aber sie wurden vom Staat sabotiert.

Das heißt, sie haben nicht stattgefunden?

Juwakajewa: Doch, aber wir mussten dauernd neue Sportplätze organisieren und uns
vor angeblichen Bombendrohungen retten. Es hat sogar jemand eine Rauchbombe gezündet. Trotzdem haben wir es geschafft, etwa 70 Prozent der Wettkämpfe durchzuführen. Seltsamerweise verlief immer dann alles ruhig, wenn wir prominente Gäste aus dem Ausland hatten. Als der niederländische Sportminister die Fußballmeisterschaft besuchte, war alles okay, aber kaum hatten die Diplomaten den Veranstaltungsort verlassen, musste das Gebäude wegen einer Bombendrohung evakuiert werden.

Ist Moskau wirklich eine so gefährliche Stadt?
Juwakajewa: Vielleicht hatten wir einfach Pech und haben alle Bombendrohungen abgekriegt. Ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass wir abgehört wurden. Als wir zum Beispiel kurzfristig versucht haben, ein Schwimmbad zu organisieren, bekamen wir erst eine Zusage, aber schon 15 Minuten später rief jemand an und sagte: »Tut uns leid, es geht leider doch nicht.« Das ist mehrere Male passiert. Irgendwann haben wir aufgehört, übers Telefon zu planen.
Nossik: Sie müssen für jedes Gespräch eine neue SIM-Karte verwenden.
Juwakajewa: Aber es kann doch nicht sein, dass wir so sehr stören, dass der Staat unseretwegen so einen Aufwand betreibt.
Nossik: Der Staat hat kein Geld für Gesundheit, Bildung und Straßen. Aber um euch zu verfolgen, gibt es immer Geld.

Aber Putin gilt doch als großer Sportfan, immerhin hat er die Olympischen Spiele und die Fußball-Weltmeisterschaft nach Russland geholt.
Juwakajewa: Grundsätzlich finde ich das ja gut, aber was mich irritiert, ist die Wiedereinführung des Wehrsports. Im Sommer hat Putin das Programm GTO wiederbelebt, das es in der Sowjetunion an Schulen, Universitäten und in den Betrieben gab. Übersetzt heißt das »Bereit zur Arbeit und Verteidigung«. In unserer momentanen politischen Situation wirkt das beunruhigend: Wehrsport, starke Menschen, die nationale Idee, der russische Sonderweg.

Sie sind in Petersburg geboren und aufgewachsen. Was hat Sie nach Moskau gelockt?
Juwakajewa:
Jugendlicher Überschwang. Ich kann nicht sagen, welche Stadt mir näher ist. Sankt Petersburg ist meine Heimat, gemütlich und angenehm, aber Moskau liebe ich für seine Vitalität.
Salachowa: Moskau ist die beste Stadt, um sich zu vergnügen. Hier gibt es die besten Clubs der Welt. Wir ziehen von einem zum anderen: Erst in die »Simatschev Bar«, dann in den »Gipsy Club«, um drei ins »Vanilny Ninza«, um fünf ins »Kryscha Mira«. Um neun Uhr morgens Frühstück im »Puschkin«.
Filina: Also ich ziehe nirgends hin, ich sitze zu Hause.

Das sagen Sie nur, weil Ihre Mutter neben Ihnen sitzt.

Filina: Im Ernst, ich trainiere jeden Tag bis neun Uhr abends. Aber ich weiß schon, was Sie meinen. Wenn nach Einbruch der Dunkelheit die vielen Laternen angehen, ist Moskau die schönste Stadt der Welt.
Juwakajewa: Stimmt, Petersburg musste lange bei der Beleuchtung sparen. Als 1998 meine Freunde aus Moskau zu Besuch kamen, meinten die nur: »Bei euch ist es so dunkel wie auf dem Dorf.« Da habe ich gesagt: »Schaut doch, wie hübsch die Brücke angestrahlt wird.« Aber als ich dann vor 18 Jahren zur großen 850-Jahr-Feier nach Moskau gekommen bin, verstand ich, was sie meinten.
Salachowa: Was mich im Westen fertigmacht, ist, dass die Geschäfte so früh schließen. In Moskau kann man rund um die Uhr einkaufen und essen gehen.
Juwakajewa: Wir hatten vor einigen Jahren eine Feier zu Hause bei einem Kollegen, der aus Amerika kommt. Er wohnt bei Tschistyje Prudy am Boulevardring, direkt am Teich. Wir haben gefeiert und gefeiert und irgendwann hat jemand aus dem Fenster geschaut und gerufen: »Oh, ein Teich! Wollen wir eine Runde Schlittschuh laufen?« Leider gab es keinen Verleih. Und wissen Sie was? Eine halbe Stunde später hatten wir für alle Gäste Schlittschuhe besorgt, weil auch nachts mehrere Sportgeschäfte aufhaben.
Salachowa: In dieser Hinsicht gibt es keine bequemere Stadt als Moskau. Wenn ich in Italien meine Zigaretten nicht rechtzeitig kaufe, habe ich ein Problem. Neulich war ich in Brüssel. Eigentlich wollte ich fünf Tage bleiben, aber ich musste nach dreien wieder abreisen, weil ich es nicht ausgehalten habe. Ich hätte mich am liebsten aufgehängt. Ich habe alle Schwulen nach einem Gayclub gefragt, weil da meistens was los ist, aber nichts, es gab keinen. Alle beklagen, dass man in Russland schlecht mit Schwulen umgeht, dabei haben wir den besten Gayclub der Welt, »Central Station«, richtig nobel.

»Leider verstehe ich wenig davon, wie man Richter besticht.«

16.40 Uhr. Der Regisseur Andreij Swjaginzew kommt. Sein neuer Film »Leviathan« wurde gerade auf sämtlichen Festivals weltweit gefeiert, nur in Russland müssen die Flüche rausgeschnitten werden, bevor er in den Verleih gehen darf. Trotzdem hat Russland »Leviathan« jetzt ins Rennen um den Oscar in der Kategorie »Bester ausländischer Film« geschickt.

Herr Swjaginzew, Frau Salachowa, Sie sind beide viel in der Welt unterwegs, trotzdem leben Sie in Moskau. Brauchen Sie die Stadt als Inspirationsquelle?
Salachowa: Es gibt Orte, die ich sehr mag, wo mir aber kein einziger Gedanke in den Sinn kommt, zum Beispiel Dubai, Paris, New York. Kreativ denken kann ich nur in Moskau und in Carrara in der Toskana. Es ist seltsam, ich weiß nicht, woran das liegt. Moskau ist eine komplizierte Stadt, in der einem komplizierte Gedanken kommen.
Andreij Swjaginzew: Ich habe mein Leben in Russland verbracht, aber zu Moskau habe ich ein schwieriges Verhältnis, ich schaffe es irgendwie nie, mich von dieser Stadt inspirieren zu lassen.

Ihren neuen Film Leviathan haben Sie in der Provinz gedreht, in einem kleinen Ort namens Teriberka an der Barentssee, hinter dem Polarkreis.

Swjaginzew: Wenn ich drehe, bin ich auf der Suche nach Natur, nach Kulissen. Da bekomme ich den Alltag oft nicht mit. Mit Leviathan war es aber so, dass wir unmittelbar mitbekamen, wie viel die Menschen da oben trinken. Wenn mir unser Kulturminister nun sagt, Menschen in Russland würden nicht so viel trinken wie bei uns im Film, sollte er mal für ein paar Monate nach Teriberka fahren.

Trinkt man in Moskau weniger?
Swjaginzew: Moskau ist nicht Russland. Es ist ein Staat an sich, ein eigenes Gebilde. Ich glaube, Russland verfolgt mit Hass und Neid, was hier in Moskau abgeht. Wenn Sie einen durchschnittlichen Bürger der Russischen Föderation an diesen Tisch bringen und ihm diese Speisekarte zeigen, Doradenfilet für 20 Euro, eine Flasche Gewürztraminer aus dem Elsass für 83 Euro, dann wird er erst vom Hocker fallen und dann fragen, was sich hier für Marsmenschen versammelt haben.
Salachowa: Teilweise ist Moskau schon wahnsinnig konservativ. Im Jahr 2000 habe ich angefangen, an der Kunsthochschule zu unterrichten, an der ich selbst 1986 meinen Abschluss gemacht habe. Und wissen Sie, was? Seitdem hatte sich dort überhaupt nichts verändert. Ich kam mir vor, als hätte mich eine Zeitmaschine in die Vergangenheit gebeamt. Sie hatten immer noch diese Lehrpläne aus den Fünfzigern. Wir, die wir hier sitzen, glauben, es hätte sich viel verändert, aber das stimmt nicht. Für 95 Prozent hat sich in dieser Stadt, in diesem Land seit der Sowjetzeit überhaupt nichts verändert.

16.40 Uhr. Natalja Filina verabschiedet sich. Sie muss zum Training.

In Ihrem Film gibt es die Figur eines Moskauer Rechtsanwalts, der den Lokalbeamten Angst einjagt, indem er Namen hoher Tiere aus Moskau erwähnt.
Swjaginzew: Ja, man nennt das Telefonrecht, so leben wir immer noch. Man schützt sich, indem man irgendwelche Leute anruft oder vortäuscht, dass man sie anrufen könnte. Der Anwalt in unserem Film sammelt kompromittierendes Material über den Bürgermeister, weil er weiß, dass er mit den Mitteln des Rechtsstaats allein gegen die Stadtverwaltung nichts ausrichten kann. Wussten Sie eigentlich, dass wir die härtesten Schimpfwörter aus dem Film schneiden mussten?

Ja, aber warum?
Swjaginzew: Ein Gesetz verbietet neuerdings Flüche in Medien, Filmen und Theaterstücken. Ich musste mich entscheiden: Bleibe ich stur, kann man den Film nur auf DVD sehen. Mir ist es aber wichtig, dass das ganze Land ihn im Kino sehen kann.

Setzt nach so einer Erfahrung die Selbstzensur ein?
Swjaginzew:
Nein. Ich werde meinen nächsten Film wieder genauso drehen, wie ich es für richtig halte. Leviathan wurde in 50 Länder verkauft. Ich werde doch nicht wegen dieses dummen Gesetzes in einem Land einen Film anders drehen.

Aber Mat versteht man doch nur hier, oder? (Mat ist der russische Mutterfluch. Er basiert auf vier Wörtern: Schwanz, Fotze, Nutte und ficken, die kreativ kombiniert und eingesetzt werden, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen.)
Swjaginzew: Ich glaube, das versteht man auch im Ausland. Ich war gerade in der Schweiz zur Premiere in Genf und Lausanne. Ich kam mir vor wie auf einer russischen Party.
Salachowa: Mat ist das Beste, was es in unserem Land gibt.

Warum wird in Leviathan dauernd geflucht? Weil das Leben in der Provinz so ist?
Swjaginzew: Nicht, weil das Leben so ist, sondern weil es ein Teil der Sprache ist.
Salachowa: »Pisdez« (abgeleitet von »Fotze«) kann sowohl Entzücken ausdrücken als auch Ärger.

Wenn Mat ein Teil der Kultur ist, bedeutet das Verbot ja eine Einschränkung der Identität?
Swjaginzew: Dem Volk ist so ein Gesetz total egal. Für die Menschen ist das ein Missverständnis. Wie bitte soll man Sprache verbieten? Wer kann das überhaupt? Eine unglaublich komische Situation!
Salachowa: Mat ist unsere wahre geistige Klammer.
Swjaginzew: Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass ich einmal Flüche verteidigen muss. Aber es geht hier nicht um das Fluchen, es geht um Freiheit. Es geht darum, dass jemand für dich entscheidet, was sein soll und was nicht. Das regt mich auf.

16.50 Uhr. Eda Kirca kommt. Sie ist vor zehn Jahren aus der Türkei nach Moskau eingewandert und hat eine Ausbildung als Vorschulpädagogin. Sie ist erkältet und bestellt grünen Tee
.
Eda Kirca: Mat? Was ist das?
Swjaginzew: Sie kennen Mat nicht? Russische Flüche?
Kirca: Wahrscheinlich werde ich bald neue Schimpfwörter kennenlernen. Meine Tochter ist gerade in die Schule gekommen.

Haben Sie sich willkommen gefühlt, als Sie nach Moskau gezogen sind?
Kirca: Mein erster Eindruck damals war, dass es kalt ist, dass alles gleich aussieht und alle mürrisch sind. In den ersten Wochen konnte ich nicht mal am Kiosk Wasser kaufen. Ich sagte: »Guten Tag, Wasser, bitte!« Als Antwort kamen irgendwelche unverständlichen Worte, dann wurde vor meiner Nase das Fenster geschlossen. Seitdem gehe ich nur noch in den Supermarkt.

17.10 Uhr. Aidan Salachowa verabschiedet sich: »Vielen Dank, es war ›ochujenno‹« (heißt so viel wie: ›schwanzgeil‹). Dmitrij Enteo kommt. Er trägt eine Trecking-Hose, eine Art Kaftan und einen Vollbart. Seine Gruppe »Wille Gottes« hat in der Vergangenheit Theateraufführungen gestürmt und Veranstaltungen von Homosexuellen angegriffen. Er bestellt einen Fruchtpunsch mit Zimt.

Swjaginzew: Ich habe das alles auch schon 1986 gespürt, als ich nach Moskau gekommen bin, diese Entfremdung, diese Isoliertheit, jeder lebt in seiner Welt. In Nowosibirsk, wo ich herkomme, ließen wir nachts die Wohnungstür offen. In Moskau wäre so was nie möglich. In Moskau dreht sich sehr viel um Geld.
Dmitrij Enteo: Ich weiß, was Sie meinen. Die Atmosphäre in Moskau ist aggressiv. Man begegnet jeden Tag so vielen Menschen, in der Metro kommt man einander sehr nahe, aber gleichzeitig sind die Menschen sehr verschlossen. Ich glaube, das liegt am sowjetischen Erbe. Wir haben die UdSSR in unseren Köpfen noch nicht überwunden. Ich glaube, es gibt wichtigere Werte als Stolz auf seinen Staat. Werte, die Menschen vereinen sollen, und in erster Linie sind es religiöse Werte.

Haben diese Werte in Moskau eine andere Bedeutung als in der russischen Provinz?
Enteo: Der Kaukasus ist nun wirklich weit entfernt von Stabilität, trotzdem sind die Menschen dort offener. Bei uns in Moskau hat die Stalin-Zeit viel geprägt. Menschen, die einander nicht vertrauen, die einander verpetzen, die nachts nicht ruhig schlafen. Die Menschen fangen erst jetzt an, aufzutauen. Was vereint uns denn? Sport und Kriegerdenkmäler. Es gibt Städte, in denen das öffentliche Leben mit Religion zu tun hat, in denen Kreuzprozessionen stattfinden. Das ist das andere Russland, Städte wie Orel, Wladimir, Pereslawl-Salesski.

Ist Moskau eine orthodoxe Stadt?
Enteo: Eben nicht. Sie waren bestimmt schon am Roten Platz spazieren. Da steht ein Zikkurat, in dem ein Mensch begraben liegt, der versucht hat, die orthodoxe Kirche zu vernichten. Auf den Türmen unseres Kremls sind rote Sterne und nicht byzantinische Adler, unsere U-Bahn trägt den Namen Lenins.

»In den Fünfzigerjahren wurde eine Moskauer Malerschule etabliert, an die man sich heute noch klammert. Leider bringt man den Studenten dort nur das Malen, nicht das Denken bei.«

Dafür sehen wir hier vor dem Fenster eine riesige neue Kathedrale.
Enteo: Ja, das ist der große Widerspruch. Einerseits gibt es Menschen, die eine UdSSR 2.0 aufbauen wollen, andererseits erleben wir eine Wiederauferstehung des Religiösen.

Ist das Pluralismus?
Enteo: Das ist Schizophrenie.
Swjaginzew: Erlauben Sie mir eine Frage. Erkennen Sie die Freiheit an, dass der Mensch wählen kann, ob er fromm oder ein Atheist sein will, dass man also auch ein Mensch mit moralischen Werten sein kann, ohne in die Angelegenheiten der Kirche involviert zu sein?
Enteo:
Selbstverständlich.
Swjaginzew:
Dieses Land ist groß. 140 Millionen Menschen. Sie wollen, dass alle 140 Millionen so denken wie Sie, oder? Nein, warten Sie. Ich will Sie direkt fragen. Sie
waren doch an dieser Aktion im Tschechow-Theater beteiligt, wo eine Aufführung nach Oscar Wilde gestört wurde. Das waren doch Sie, oder?
Enteo: Ja.
Swjaginzew: Nun sehe ich endlich Ihr Gesicht. Welches Recht haben Sie, so etwas zu tun? Ein Theater ist keine Kirche. Das Publikum kann frei entscheiden, ob es das Stück sehen will oder nicht.
Enteo: Aber ich weiß nun mal, welch enormen Einfluss Kunst auf die öffentliche Meinung hat. Deswegen dulden wir es nicht, wenn unsere Rechte und Freiheiten im öffentlichen Raum mit Füßen getreten werden.
Swjaginzew: Sie sind doch derjenige, der unsere Freiheiten mit Füßen tritt.
Enteo: Das Universum gehört Gott. Gott ist jedermanns Schöpfer, aber Vater ist er nur für orthodoxe Christen. Wir sind ein Volk Gottes. Und wir sind im Besitz der absoluten Wahrheit.
Swjaginzew: Ist Ihnen klar, was Sie da von sich geben?
Enteo: In diesem Theaterstück betet ein pädophiler Priester eine nackte Frau an, die tut, als wäre sie wie Jesus gekreuzigt. Diese Menschen sind absolut unbegabt und kaschieren ihre Unfähigkeit, indem sie unsere Werte für ihre Zwecke instrumentalisieren und dadurch Aufmerksamkeit erzeugen. Wir werden niemandem je erlauben, sich öffentlich über Jesus Christus lustig zu machen. Ich bin der Meinung, dass Gotteslästerung mit dem Tod bestraft werden soll.

Wie viele Menschen teilen in Moskau Ihre Ansichten?

Enteo: Nicht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Aber diese zehn Prozent sind bereit, ihre Ansicht radikal zu verteidigen.
Swjaginzew: Ich muss zugeben, ich reg mich gerade ziemlich auf.

17.30 Uhr. Alexander Winokurow setzt sich an den Tisch. Der Investor ist zu Fuß gekommen, ohne Personenschutz. Den habe er nie gehabt, sagt er, auch nicht, als er noch in der Bank gearbeitet habe – damals verdiente er mehrere Hundert Millionen Dollar.

Herr Winokurow, Sie investieren unter anderem in die Klinik-Kette Tschaika und den liberalen Fernsehsender Doschd, der nur noch über das Internet zu empfangen ist. Was braucht Russland dringender: eine bessere Gesundheitsversorgung oder bessere Medien?
Alexander Winokurow: Ich finde unser Fernsehen nicht viel schlechter als das in Europa oder Amerika. Unsere Gesundheitsversorgung dagegen hinkt hinterher. Aber egal, unser Land braucht natürlich beides.
Swjaginzew: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ein einziges Mal in eine Klinik gegangen wäre. Als meine Kinder auf die Welt kamen, haben wir über Freunde einen Doktor gefunden, der uns zu Hause besucht, einen richtigen Hausarzt.
Kirca: Wenn die Tochter meiner Freundin krank wird, ruft sie auch eine Ärztin. Die arbeitet in einem staatlichen Krankenhaus, sie bezahlen sie aber privat.
Swjaginzew: Das hat viel mit dem sowjetischen Erbe zu tun, mit dem Unbehagen, auf diese Pförtner, Pfleger und Krankenschwestern zu treffen, die einen grimmig anschauen.
Winokurow: Allein die Überschuhe, die man anziehen muss, wenn man in die Klinik geht. Wenn du reinkommst, musst du dich erst mal verbeugen. Da hängt keine Ikone oder so, aber du verbeugst dich. Es ist kein Geheimnis, dass die Patienten ihrem Doktor mit zusätzlichen Zuwendungen danken. Mir scheint, das wird gar nicht mehr als Korruption wahrgenommen, obwohl es genau das ist.
Swjaginzew: Leider funktioniert unsere Gesellschaft so, dass die Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur angenehm leben können. Und diejenigen, die sie bedienen, auch noch einigermaßen. Aber die anderen, ehrlich, ich kann mir gar nicht vorstellen, wovon die leben. Ich spreche von einfachen Menschen, die weniger als das Mindesteinkommen verdienen, die sozial nicht abgesichert sind. In Moskau müssen diese Menschen wie Wölfe herumstreunen auf der Suche nach einem sicheren Ort. Das sind Getriebene.

Eben erst wurde Moskau als ein Ort gepriesen, der niemals schläft.
Swjaginzew: Und wissen Sie, warum? Weil die Leute hier bereit sind, Tag und Nacht zu arbeiten, um sich ein Stück Brot zu verdienen und es abends in diese Einzimmerwohnung im Außenbezirk zu schaffen, wo man sich mit einem anderen Gastarbeiter das Bett teilt.
Winokurow: Trotzdem gibt es auch Lichtblicke. Alle behaupten, in unserer Stadt würde sich nichts ändern, aber das stimmt nicht. Noch vor vier Jahren ist niemand in den Gorki-Park gegangen. Seit er umgestaltet wurde, trifft man dort wieder Leute, ich weiß gar nicht, wo die früher alle waren.

Stimmt, es gibt jetzt Beachvolleyball-Felder, kostenlose Yogakurse und WLAN.
Winokurow: Wenn man es immer wieder versucht, lässt sich auch was bewegen, sogar mit Unterstützung der Stadt. In den vergangenen drei Jahren hat sich Moskau sehr positiv entwickelt.

Verändert das auch die Menschen?

Winokurow: Da bin ich mir ganz sicher. Solange du zu Hause sitzt, glaubst du wirklich, dass alle so niederträchtig sind, wie du in irgendeiner schlimmen Zeitung gelesen hast. Aber wenn du den Menschen begegnest, verstehst du, dass auch die Leute aus anderen Kulturen mit ihrer Freundin im Park spazieren gehen und nicht dauernd nur Hammel schlachten, wie manche erzählen. Wissen Sie, der Maidan in Kiew ist aus der Ausweglosigkeit entstanden. Bei uns will doch niemand, dass es nach dem Motto abläuft: Lasst uns über die Kremlmauer klettern, und wer es als Erster in dieses eine Zimmer schafft, wird Präsident. In Moskau will das keiner, da bin ich mir ziemlich sicher.

Aber was wollen Sie dann?
Winokurow: Mir fehlen vor allem Wahlen. Gerade gab es welche. Die Kommunalwahlen Mitte September. Aber in Wahrheit waren das keine. Einen ganzen Monat lang habe ich allen Bekannten gesagt: Geht wählen, wählen, wählen! Aber dann war klar, dass unabhängige Kandidaten keine Chance hatten.

Sie haben also doch nicht abgestimmt?
Winokurow: Zu meinem großen Bedauern nicht. Ich will keinen revolutionären Umsturz, ich habe Kinder. Und ich denke, die Mehrheit wünscht sich, dass Veränderungen sanft und vorhersagbar kommen. Wahlen sind dafür das beste Instrument. Aber sie haben uns die Wahlen weggenommen, indem sie hohe Hürden eingeführt haben, bevor sich die Kandidaten überhaupt registrieren konnten.
Swjaginzew: Glauben Sie denn, dass es in unserem Land überhaupt faire Wahlen geben kann?
Winokurow: Absolut. Ich bezweifle nur, dass ich das noch erleben werde. Faire Wahlen gibt es in Ländern, die Jahrhunderte darum gekämpft haben.
Juwakajewa: Ich glaube an die Theorie der kleinen Schritte. Die Demonstrationen haben gezeigt, dass sich die Gesellschaft verändert, es entsteht ein Bürger-Bewusstsein.
Swjaginzew: Glauben Sie wirklich, dass Sie an diesem System etwas ändern können, in dem die Figuren, die alles entscheiden, einfach ernannt werden?
Winokurow: Warum, glauben Sie, leben wir anders als, sagen wir mal, die Holländer? Unterscheiden wir uns genetisch? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass wir uns kulturell unterscheiden. Und Kultur wächst aus der richtigen Erfahrung.

Als Dmitrij Enteo sich von der Runde verabschiedet, reicht er Elwina Juwakajewa nicht die Hand. Andreij Swjaginzew wiederum will Enteos Hand nicht schütteln: »Ich werde Ihnen auch nicht alles Gute wünschen.« Enteo sagt dazu: »Aber ich wünsche Ihnen alles Gute. Machen Sie es alle gut.« Swjaginzew und Juwakajewa bleiben noch bis tief in die Nacht. Swjaginzew trinkt Weißwein, mit dem Rücken zur beleuchteten Christ-Erlöser-Kathedrale im Fenster. Juwakajewa sagt, sie will Enteo noch mal treffen: »Man muss seine Feinde kennen.«

Fotos: Frank Herfort