Auferstanden aus Ruinen

Vor fünf Jahren wurde das Historische Archiv Köln vom Erdboden verschluckt. Damit verlor die Stadt ihr Gedächtnis. Nun sollen es Bagger, Gefriertrockner und Spatel wiederherstellen - Fetzen für Fetzen.

Die Kölner haben Sprüche für so ziemlich alle Lebenslagen. Ist etwas verlorengegangen, dann sagen sie: »Watt fott es, es fott«, und so gesehen ist Köln seit dem 3. März 2009 eine Stadt ohne Gedächtnis, denn an diesem Tag ist ihr Historisches Archiv eingestürzt. Mehr als tausend Jahre Geschichte hatten Kriege und Hochwasser überstanden, aber nun war alles unter einem gewaltigen Schuttkegel begraben und im Grundwasser versunken. Unwiederbringlich.

So schien es.

Meistgelesen diese Woche:

Herbst 2014, kurze Anfrage an den provisorischen Lesesaal des Stadtarchivs im Vorort Porz: Ob man wohl das Dokument mit dem Barcode 001139604 einsehen könne, die Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes. Kein Problem, sagt eine freundliche Dame, und dann liegt da auch schon eine graue Mappe auf dem Tisch.

Den Inhalt zu betrachten ist jetzt nicht die reine Freude, es geht schon damit los, dass Max Plassmann, der Archivar, der dazugekommen ist, darum bittet, dass man blaue Gummihandschuhe anziehen und zum Umblättern nicht die Finger benutzen möge, sondern einen Spatel.

Der Grund ist offensichtlich. Kaum ein Blatt ist heil. Fast alle Seiten sind abgerissene, fragile Fragmente, und was darauf geschrieben steht, ergibt mangels Vollständigkeit nur teilweise Sinn. Man kann das enttäuschend finden. Man kann es aber auch großartig finden, wenn man sich den Zustand dieses Dokuments in Erinnerung ruft, wie er vor vier Jahren war, am 25. November 2010. Ein triefendes, verschlammtes Etwas, ein Stück Igitt, ein Ekelklumpen aus der Unterwelt, ans Licht befördert durch die Schaufel eines Baggers.

Der 25. November ist ein grauer, kalter Wintertag, und an der Stelle in der Severinstraße, an der das Stadtarchiv gestanden hat, beginnt gerade der letzte Akt der Bergung. Den weitaus größten Teil der Bestände, 85 Prozent, hat man aus dem Schutt bereits ausgegraben, und nun geht es tief hinunter ins Nasse. Der Bagger steht elf Meter unter dem Straßenniveau und prokelt so vorsichtig wie möglich im Grundwasser herum. Kies holt er hoch, Sand, Bauschutt und immer wieder diese Klumpen, die – nur für das geschulte Auge zu erkennen – in ihrem früheren Leben mal Akten, Bücher, Protokolle, Urkunden, Fotosammlungen waren und Archivregale gefüllt haben. Ließe man das Zeug, das 19 Monate im Wasser gelegen hat, an der Luft trocknen, es würde Schimmel ansetzen und hart werden wie Zement, es wäre für immer verloren. Aber weil die Restauratoren und Archivare, die die Ausgrabungen beaufsichtigen, dies natürlich wissen, gehen sie anders vor. Es gibt eine Methode, die Nässe herauszuzwingen, ohne das Archivmaterial zu ruinieren. Die Methode ist umständlich, kompliziert, langwierig und kostspielig, aber sie funktioniert und ist verlässlich.

Erster Schritt: die geborgenen Materialien einfrieren. Dazu müssen sie zunächst einmal grob gesäubert werden. Eine Schar von Helfern ist an der Unglücksstelle versammelt worden, und deren Aufgabe ist es, jedes einzelne Fundstück vorsichtig abzuduschen und dann in Zellophan einzuschlagen. So landet Stück für Stück in bereitgestellten Boxen für den Abtransport in ein Kühlhaus.

Das Dokument, das sich als Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes, herausstellen wird, landet mit Dutzenden anderer Zellophanpakete in einer Box mit der Nummer 1526 und noch am selben Tag in einer auf minus 26 Grad heruntergekühlten Halle in Troisdorf. Zwischen Fertigpizza, Rinderhälften, Butter und Brötchen.

Gut zwei Jahre später steht an der Rampe 3 desselben Kühlhauses ein Kältetransporter der Firma Transthermos. Der ist normalerweise für Supermärkte unterwegs, nun aber steht in seinem tiefgekühlten Frachtraum die Box 1526 für die kurze Fahrt hinüber in den Kölner Stadtteil Porz. Dort ist seit 2011 in einer Lagerhalle das Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum untergebracht, eine Großwerkstatt für die Wiederaufbereitung des geborgenen Archivmaterials.

In der Box 1526 sieht es aus, als wären tiefgefrorene Fische darin, kalte Brocken, die sich während ihrer Eiszeit aneinander festgehakt haben und sich nur mit Mühe und Kraft wieder als Einzelteile herauslösen lassen. Was nun bevorsteht, zweiter Schritt, ist ein spezielles Verfahren, das sich Gefriertrocknung nennt. Man kennt es aus der Lebensmittelindustrie, zum Beispiel von der Herstellung von Tütensuppen: Etwas Gefrorenes soll trocknen, aber es soll keine Nässe dabei entstehen, die flüssige Phase soll gleichsam übersprungen werden.

Die Gefriertrocknungsanlage (Spezialanfertigung, Kosten: mehr als 100 000 Euro) sieht aus wie ein Brutkasten, nur dass sie hier keine Frühchen nachbrüten, sondern Dokumente wieder in einen dokumentenähnlichen Zustand verwandeln wollen. Ein paar Dutzend Stücke fasst das Gerät, ohne die Zellophanhülle werden sie eingefüllt. Es dauert eine Woche, bei dickeren Schwarten auch länger, und wenn dann die Tür geöffnet wird, ist es, als stünde man wieder neben dem Bagger am Grundwasser: Der Kloakengeruch hat sich erhalten.

Nichts wird ergänzt, nichts verändert, ein Archiv hat für Authentizität zu bürgen.

Was herausgeholt wird aus dem Gerät, macht freilich wenig Hoffnung, dass daraus jemals wieder brauchbares Archivgut werden könnte. Trocken ist es geworden, das ja, trocken, spröde und brüchig wie Herbstlaub, auch so leicht. Aber sonst? Es sind eher unförmige Knäuel ineinander verbackenen Papiers. Zerrissene, verschmutzte, verknitterte Blätter, zusammengepresst zu einer Art Pappmaché, staubig, sandig, Altpapier der übelsten Sorte, lesbar nur einzelne Worte.

Katharina Weiler, die Restauratorin, hat schon viele Härtefälle gesehen in ihrem beruflichen Leben, aber das, was aus dem Grundwasser kommt, sagt sie, sei »mit das Schlimmste, das wir haben«. Das Dokument, das sich als Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes, herausstellen wird, ist leider keine Ausnahme. Katharina Weiler hat eine erste Einschätzung vorgenommen, und die liest sich deprimierend. Risse: stark, Knicke: stark, Stauchungen: stark, Verblockung: stark, Verschmutzung: stark, Oberflächenverletzungen: mittel, Verfärbungen: mittel, Lesbarkeit: eingeschränkt. Sie nennt es ein Puzzle-Fragment mit stark abgebauter Papiersubstanz, was auch daran liegt, dass Papier, seit es Massenware wurde, meistens nur noch von bescheidener Beschaffenheit ist.

Im Mittelalter wurde Papier aus Leinen und Flachsfasern hergestellt, manchmal auch aus Lumpen, das Ganze vermischt mit Kalk, und das Ergebnis war ein Qualitätsprodukt. Heute besteht es aus Holzpartikeln und Leim und ist ungleich anfälliger für Beschädigungen – und eine viel größere Herausforderung für die junge Frau, die jetzt daran geht, eine erste Ordnung in das papierene Stück Chaos zu bringen.

Die Frau heißt Katharina Steinhüser, ist 24 Jahre alt und wird demnächst ein Studium für Restaurierung und Konservierung von Schriftgut aufnehmen. Hier ist sie Helferin und kann schon mal praktische Erfahrung sammeln. Mit einem Spatel geht sie in die Zwischenräume, um die verblockten Seiten voneinander zu trennen. Was sie aus dem verknäulten Etwas herauslöst und übereinander stapelt, mag aussehen wie Fetzen, verknittert, abgerissen, aber es sind die Seiten eines Dokuments. Und die Seiten lassen sich nun mit Pinsel und Schwamm vom Baustaub befreien.

Hört sich einfach an, aber Katharina Steinhüser an ihrer Werkbank muss mit größter Vorsicht und Behutsamkeit arbeiten, denn was sie vor sich hat, ist mürbe und kann leicht reißen. Erst wenn der Staubfilm beseitigt ist, können die Seiten Feuchtigkeit aufnehmen und langsam wieder an Festigkeit gewinnen.

Aber immerhin: Was in nassem Zustand niemals möglich gewesen wäre, so geht es. Immer höher wird der Stapel, und man kann nun erkennen, um was für ein Dokument es sich handelt. Katharina Steinhüser hat schon Klassenbücher bearbeitet, Schadensmeldungen für Versicherungen, das Tagebuch eines Schuljungen, eine Akte zu Zwangssterilisierungen – dies hier ist ein Schriftwechsel mit dem Amt für öffentliche Ordnung.

»Bitte ich«, heißt es auf einer mit der Schreibmaschine beschriebenen Seite, die an den Seiten stark eingerissen und deshalb nur teilweise lesbar ist, »um die V … eines Schalterbetriebes aus dem Haus … rstr. 54 (Kiosk), um Erteilung der Erlau … ne beschränkte Schankwirtschaft mit de … hank von alkoholfreien Getränken, einen Kleinhandel mit Brantwein, in versch … Flaschen.« Scheint eine Konzessionsakte zu sein, sagt Katharina Weiler.

Jeder Privathaushalt steht irgendwann vor der Frage: Was behalte ich? Was schmeiße ich weg? Der Typ Wegschmeißer überlegt nicht lange, was er tun soll mit den alten Zeitungen und Zeitschriften, mit den verblichenen Briefen und den Klamotten, die er schon lange nicht mehr anzieht, er entsorgt sie leichten Herzens. Der Typ Aufbewahrer dagegen faltet Kartons auseinander, packt alles hinein und stapelt sie im Keller: Man kann nie wissen, vielleicht interessiert manches die Kinder ja doch.

Mit Stadtverwaltungen ist es ähnlich. Da sind ständig bergeweise Dokumente zu vernichten, doch bevor es dazu kommt, müssen die Ämter in Köln ihre Sachen dem Stadtarchiv anbieten, und das muss sich dann entscheiden: Was kann weg? Was ist erhaltenswert? Was könnte künftigen Generationen helfen, die Kultur der Heutigen zu lesen, was ihnen Aufschluss geben über deren Sitten und Gewohnheiten?

Heute staunt man über Urkunden aus dem Mittelalter, die zu ihrer Zeit oft nur gewöhnliche Gebrauchsdokumente aus der Alltagskultur waren. Verschiebt man die Zeitleiste um zwei-, dreihundert Jahre in die Zukunft, könnten die Menschen möglicherweise wieder staunen – zum Beispiel über etwas, was man in einer Stadt namens Köln »Büdchen« nannte. Putzige Dinger an Straßenecken, wo sich Menschen trafen, um zu trinken, zu rauchen und zu quatschen oder Flaschen mit einem Getränk namens Bier in Taschen zu verstauen und nach Hause zu tragen. Angst vor dem Banalen also wird er nicht gehabt haben, der Kölner Archivar, der vor ein paar Jahrzehnten die Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes, für erhaltenswert befand.

Nach knapp drei Stunden hat Katharina Steinhüser alle Seiten gelöst, gesäubert und unter einen Beschwerer gelegt, hat auch die kleinsten Fitzelchen eingesammelt und zur Aufbewahrung zwischen die beiden Hälften eines gefalteten Blattes mit der Aufschrift »Achtung, lose Kleinteile« gegeben. Es geht voran, das erkennt man auch daran, dass das Dokument jetzt wieder zu einem nummerierten Archivkarton gehört. Und es hat einen Barcode bekommen, der es im Computer identifizierbar macht.

Nicht schlecht für ein Stück Dreck aus der Kloake. Aber noch hat man nichts, was im Lesesaal einem Interessenten vorgelegt werden könnte. Noch viel zu fragil das Ganze. Ein zweites Mal müssen Helferinnen ran. Das Papier, das im Wasser viel Leim verloren hat, muss nachgeleimt werden. Das entspannt das Papier, es festigt ausgefranste Ecken, und es schafft Gelegenheit, Risse durch das Aufdrücken von schmalen Streifen Japanpapier zu schließen. Aber: Nichts wird ergänzt, nichts verändert, ein Archiv hat für Authentizität zu bürgen.

»Et es, wie et es.«

Es gibt allerdings auch einen praktischen Grund, warum nichts verändert wird. Was beim Zusammenbruch des Stadtarchivs von den Seiten der Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes, abgerissen wurde, ist höchstwahrscheinlich ebenfalls gefunden worden. Gefunden, aber noch nicht identifiziert als die Puzzleteile, die fehlen, um das Dokument Schankerlaubnis wieder zu komplettieren. Deshalb dürfen die krumm und schief gezackten Ränder nicht begradigt werden, sondern müssen so bleiben, damit man irgendwann später anstückeln kann, was dort hingehört.

Aber auch unvollendet, sagt Max Plassmann, der Archivar, habe die Akte durchaus Aussagekraft. Wenn die Restauratoren ihre Arbeit getan haben, kommt der Archivar für die, wie sie das nennen, Bergungserfassung. Da geht es dann um Details, um den Umfang der Akte, um ihre Herkunft, ihr Alter, und wenn zum Beispiel kein Datum zu finden ist, dann wird es eben ermittelt anhand des verwendeten Papiers, der Art des Formulars oder der Schreibmaschinentypen. Die Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes, macht es Max Plassmann schwer und leicht zugleich.

An zwei Stellen ist das Jahr 1970 eingetragen, aber was fehlt, ist die Nummer, die vergeben wird, wenn ein neues Dokument ins Archiv kommt. Hätte man sie, ließe sich das Dokument eindeutig zuordnen, man wüsste sogar, wo es gestanden hat. Es hilft nichts, es muss eine provisorische Nummer vergeben werden. Der Computer schlägt A 95 vor – das 95. Stück vom Amt für öffentliche Ordnung, das nicht zugeordnet werden kann. Noch nicht. Es stehen ja noch Puzzleteile aus, und die könnten die Originalnummer enthalten.

Aus einem zerstörten Archiv wieder ein heiles Archiv zu machen, das Gedächtnis einer Stadt wieder zu wecken, den Informationsspeicher wieder nutzbar zu machen für Wissen und Forschung – es ist offensichtlich ein detektivisches Geduldsspiel. Dass von den dreißig Regalkilometern Archivbeständen inzwischen bis auf fünf Prozent alles geborgen ist – schön und gut. Bis aber alle Schäden beseitigt sind und das Kölner Stadtarchiv wieder voll funktionsfähig ist, werden wohl mindestens dreißig, vielleicht mehr als vierzig Jahre vergehen. Ein neues Gebäude soll es bis dahin geben, noch ist allerdings der Baubeschluss nicht ergangen, und in Köln weiß man nie.

Das Dokument Schankerlaubnis Kiosk Kempener Straße 54, Köln-Nippes, ist so weit bereit. Es ist das erste restaurierte Dokument aus der Grundwasserbergung, nicht vollständig, nicht perfekt, aber auch dafür haben sie natürlich einen Spruch in Köln: »Et es, wie et es.« Man kann es nutzen. Man kann es anfordern als Digitalisat, man kann es aber auch im provisorischen Lesesaal studieren und sich zusammen mit Max Plassmann darüber Gedanken machen, wer sich dafür interessieren könnte und zu welchem Zweck.

Der Archivar muss nicht lange nachdenken. Es könnte, sagt Max Plassmann, ein Familienforscher sein, ein Nachkomme des Mannes, der 1970 das Büdchen von einem anderen übernommen hat und deshalb die Schankkonzession neu beantragen musste. Es könnte einer sein, der die Kölner Veedelskultur untersucht, die Kultur der Stadtviertel und die Rolle, die die Büdchen darin spielen. Es könnte um Wirtschaftsgeschichte gehen, um Einkaufsmöglichkeiten, um die Geschichte des Alkoholkonsums, um Besitzerwechsel von Kleinbetrieben.

Es könnte auch eine Betrachtung des großen bürokratischen Aufwands sein, der um eine simple Schankerlaubnis getrieben wird. Da wird nämlich geprüft, ob strafrechtlich gegen den Antragsteller etwas vorliegt, ob er Steuerrückstände hat, ob sich in der Nachbarschaft womöglich eine Kirche oder ein Pfarrhaus befindet – und die Größe des Schiebefensters ist auch zu bedenken. Vielleicht könnte das Büdchen auch Anlass sein für eine Arbeit über Migration und Integration und den offenbar wachsenden Einfluss der Migranten im Kölner Büdchenwesen.

Das freilich ist keine Anregung, die man im Lesesaal bekommen hat, sie ist mehr der Neugier geschuldet. Wenn es schon eine Adresse und Hausnummer gibt, warum nicht nachgucken, ob das Büdchen, mit dem man sich so lange beschäftigt hat, noch existiert? Ein kleiner Ausflug nach Nippes also, in die Kempener Straße 54. Hinter dem Schiebefenster steht eine freundliche Türkin, die zusammen mit ihrem Sohn das Büdchen betreibt. Wasser mit Kohlensäure? Aber klar doch. Sie sagt, sie hätte das Büdchen vor 18 Jahren übernommen – von einer Türkin.

Fotos: Bruno Wicca