Fahrt zur Hölle

Damit sie zu frommen Muslimen bekehrt werden, werden jedes Jahr Hunderte Jugendliche nach Somalia entführt - von ihren eigenen Familien. Dies ist die erschütternde Geschichte von Amina.

Amina versteckt unter ihrem Kopftuch Musik. In den Saum des blickdichten Stoffs hat sie eine kleine Tasche eingenäht, dort sitzt der Mp3-Player, quietschgrün, klein wie eine Streichholzschachtel, von außen nicht zu erahnen. Popmusik von Rihanna ist darauf, Reggae aus Jamaika und Hip-Hop der Skandalrapper Krept and Konan aus Süd-London. Es ist der Soundtrack ihres Lebens vor der Entführung.

Am 21. Juli 2013, einem Sonntag, landet eine altersschwache Maschine vom Typ Antonow auf der staubigen Piste des internationalen Flughafens von Berbera, Somaliland. An Bord sitzen Amina und ihre Mutter. Das Flugzeug gehört der einzigen Fluglinie, die es in Somalia noch gibt, Jubba Airways, es kommt aus Abu Dhabi. Amina sieht das Land vor dem Fenster zum ersten Mal. Das türkisfarbene Wasser des Golfs von Aden. Die Dächer der Wellblechhütten, wie zufällig in das Gestrüpp der Steppe und die rotbraune Erde geworfen. Der Flug-hafen Berbera hat die längste Landebahn Afrikas, ein Überbleibsel der Interessenpolitik der USA, ein Trumm Beton von vier Kilometern Länge, von 1980 bis 1991 hielten die Amerikaner es als Notlandebahn für ihr Spaceshuttle in Bereitschaft. Ein Raumschiff ist hier aber noch nie gelandet, von Urlaubsfliegern mit lustigen Touristen an Bord ganz zu schweigen.

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Amina freut sich auf die Sommerferien. Zu Anfang der Reise, in Birmingham, verpassten Mutter und Tochter das Flugzeug. Ohne zu zögern kaufte die Mutter neue Tickets zum vollen Preis. Das hätte sie stutzig machen müssen, sagt Amina später. Aber sie sei nicht auf die Idee gekommen, dass die Mutter sie allein lassen würde. »Mum und ich«, sagt sie, als hätte es die Entführung nicht gegeben, »können über alles sprechen, wir sind wie Schwestern.«

In jener Maschine nach Abu Dhabi legen Mutter und Tochter ihre Kopftücher an. In England hat Amina das Kopftuch nur getragen, wenn sie es wollte. In den Vereinigten Arabischen Emiraten ist es Pflicht. »Oh Prophet!«, heißt es in Sure 33,59 des Korans, »sprich zu deinen Gattinnen und zu deinen Töchtern und den Weibern der Gläubigen, dass sie sich in ihren Überwurf verhüllen. So werden sie eher erkannt als ehrbare Frauen und werden nicht belästigt.«

Amina ist 16 Jahre alt, aufgewachsen ist sie in England, und sie ist, als wir sie zum ersten Mal treffen, seit Monaten in einem der gefährlichsten Länder der Welt auf der Flucht. Ihre Mutter hat sie aus ihrer Heimat England in die Staatenruine Somalia gebracht und dort ihrem Schicksal überlassen. In Wirklichkeit heißt sie nicht Amina.

Jedes Jahr zur Ferienzeit werden Hunderte Jugendliche aus Europa und Nordamerika nach Somalia deportiert, damit aus ihnen fromme Moslems werden. »Dhaqan Celis« heißt das drakonische Erziehungsmodell auf Somalisch: »Zurück zur Kultur«. Es ist ein Millionengeschäft – in einem völlig verarmten Land.

Nach mehr als 25 Jahren Bürgerkrieg gibt es in Somalia keine stabile Regierung mehr, keinen Rechtsstaat, kaum westliche Botschaften. Endlose Clan-Fehden haben das Land tief gespalten, es gilt als Brut-stätte für Terrorismus und Piraterie. Und ausgerechnet hier sollen verwirrte Teenager auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden.

Aminas Mutter flüchtete 1995 vor dem Bürgerkrieg in Somalia in die Niederlande. Am 30. Juni 1997 kam Amina in Almelo in der Provinz Overijssel auf die Welt. Kurze Zeit später trennten sich Aminas Eltern, die Mutter zog mit Amina und ihrer älteren Schwester nach Birmingham, England, heute arbeitet sie dort in einem Krankenhaus als Kinderkrankenschwester.

Amina spricht kaum Somalisch. Zu Hause sprach die Familie Englisch, das ist Aminas Muttersprache. Sie hat im Sommer 2013 das GCSE-Examen am Joseph Chamberlain College in Birmingham gemacht, einen ersten berufsqualifizierenden Schulabschluss. »Sie war eine gute Schülerin. Etwas verschlossen, aber das ist wohl normal in dem Alter«, sagt eine ihrer Lehrerinnen, die im Gespräch mit dem SZ-Magazin anonym bleiben will.

Nach ihrer Ankuft holen Verwandte Amina und ihre Mutter in Somaliland ab und bringen sie in die Stadt Burao, in die Region Togdheer, der Subclan der Mutter stammt von hier. Wie fast alle der etwa 1,1 Millionen Somalis, die vor dem Bürgerkrieg ins Ausland geflüchtet sind, hat die Mutter monatlich Geld zurückgeschickt, ansonsten hat sie seit zwanzig Jahren nur wenig Kontakt.

Was ein Mensch im Leben erreichen kann, wer Freund und wer Feind ist – all das definiert sich in Somalia über den Clan. Aminas Mutter gehört zu den Isaaq, dem dominanten Clan in Somaliland. Aminas Vater hingegen – und auf den kommt es für eine Frau an – gehört dem Clan der Hawiye an, die haben die Region um die Hauptstadt Mogadischu in der Hand. Egal, wo auf der Welt Somalis sich treffen, beten sie zunächst lautstark ihre Ahnenkette herunter, wenn nötig bis hinunter zu Mohammed, dem großen Propheten. Das kann sehr lange dauern, ist aber von elementarer Bedeutung: Es ist der Clan, der darüber entscheidet, ob die Chemie zwischen Somalis stimmt.

Amina trägt bei ihrer Ankunft in Burao ein schlichtes Band aus Leder um den Hals, daran ein Amulett aus Holz. Es ist ein Geschenk von ihrem ersten Freund, einem Jamaikaner muslimischen Glaubens, älter als sie, nennen wir ihn Malik, er hat es ihr zum Abschied gegeben, pass auf dich auf, bis nach den Sommerferien. Ja, bis bald.

Mit Malik hat Amina Reggae gehört, sie hat auch zum ersten Mal mit ihm gekifft. Mit glasigen Augen und weit nach der vereinbarten Zeit kam sie nach Hause. Sie fläzte sich auf das Sofa, sie lachte, lachte, lachte.

Der neue Mann der Mutter, ein Araber, den Amina nicht mag, verprügelte sie dafür. Die Mutter weinte und sagte, er solle aufhören. Irgendwann, sagt Amina, sei die Mutter vor die Tür gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Eigentlich hätte sie mit dem Rauchen längst aufgehört.

Sure 4,34 des Korans regelt die Bestrafungen, die Frauen im Islam zuteilwerden können: »Die rechtschaffenen Frauen sind Allah demütig ergeben und achten mit Allahs Hilfe auf das, was verborgen ist. Und wenn ihr fürchtet, dass sie sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett, schlagt sie!«

Mit Malik, sagt Amina, habe sie auch geschlafen, ihr erstes Mal. Sie zerrt den schwarzen Stoff ihres Kopftuchs vor ihren Mund und beißt mit den Zähnen darauf, wenn sie davon spricht, ihre Hände verknoten sich, es ist ihr peinlich. »Malik hat mir gesagt, er nehme die Pille für den Mann.« Kurze Zeit später war Amina schwanger.

»In der somalischen Kultur werden Zustände, die in der westlichen Psychologie und Psychiatrie als Krankheiten gelten, auf böse Geister oder Hexenwerk zurückgeführt.«


Die Mutter, sagt Amina, habe nur noch im Garten gestanden und geraucht, der Araber habe getobt, er habe sie beschimpft und geschlagen. Amina war erst 15, sie ging noch zur Schule. Sie brachte das Kind nicht auf die Welt. »Ich hätte das alles nicht tun dürfen«, sagt Amina, »ich habe gesündigt. Was danach kam, war eine Strafe von Gott.«

Durchschnittlich 200 Dollar pro Monat kostet die Unterbringung in einer somalischen Gastfamilie für ein Kind, das in Europa auf die vermeintlich schiefe Bahn gekommen ist. Einige der Kinder kommen in Koranschulen unter, andere bei Verwandten. In einem Land, in dem das monatliche Durchschnittseinkommen bei zwanzig Euro liegt, sind 200 Dollar ein Vermögen.

Wer wegen angeblicher psychischer Auffälligkeiten oder Drogen dorthin geschickt wird, hat die schlechteste Aussicht auf Rückkehr. Der freie Wille wird ihm abgesprochen. So kann die Geldquelle aus dem Westen in Somalia lange sprudeln. »In der somalischen Kultur«, schreibt die finnische Soziologin Marja Tiilikainen, die zu »Dhaqan Celis« geforscht hat, »werden Zustände, die in der westlichen Psychologie und Psychiatrie als Krankheiten gelten, auf böse Geister oder Hexenwerk zurückgeführt.«

Entsprechend werden die Erkrankten behandelt. In Bosaso treffen wir Ahmed, 32 Jahre alt, aus den Niederlanden, Trainingsjacke von Ajax Amsterdam, Liebhaber von eingelegtem Matjes, Ex-Junkie. Ahmed wurde 2011 bei einem Fluchtversuch am Flughafen von Bosaso, der Piratenhochburg in der Provinz Puntland, von Soldaten ins Bein geschossen.

Er verbringt seine Tage seither streng bewacht und im Nebel des Khat. So werden die Äste des gleichnamigen Strauches genannt, deren narkotisierende Wirkung auf Dauer das Gehirn zerstört. An jeder Straßenecke sitzen Männer in den Überresten der abgekauten Zweige und starren ins Nichts. Einige schreien irgendwas in ihrem Rausch, andere weinen still vor sich hin, »ninki waalan« ist ein geflügeltes Wort, »verrückter Mann«. Umgerechnet vier Euro kostet ein Bündel Khat, aus Äthiopien und dem Jemen wird es jeden Morgen erntefrisch eingeflogen. Somalia, das traumatisierte Land, kaut sich in eine schönere Welt.

Aminas Mutter bleibt zwei Wochen mit ihrer Tochter in Burao, dann verabschiedet sie sich von ihrem Kind. Amina sagt, zum Abschied habe die Mutter gelächelt. »Du bleibst für immer hier«, habe sie gesagt, »wir haben deinen Pass verbrannt, find dich damit ab. Sei stark und mach ein anständiges Leben daraus.«

Amina schreit und tobt. Sie klammert sich am Arm der Mutter fest. Dann wird sie in einen dunklen Raum gesperrt. »Von da an haben sie gesagt, ich sei verrückt. Ich durfte Mum nicht mal mehr anrufen.« Das Klappen der Türen des Jeeps, der die Mutter zum Flughafen bringt, wird Amina nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Das ist am Mittwoch, dem 7. August 2013.

Die Familie in Burao lebt bescheiden. Das Klo ist ein stinkendes Loch auf dem Hof, das Haus ein Block aus Beton, weißer Anstrich gegen die sengende Sonne. Zu essen gibt es oft Ziege oder Hammel, Kichererbsen, Kamelmilch oder Baasto, also Nudeln – im Westen des Landes waren einst die Italiener die Kolonialherren. Die Familie hockt dann um einen Topf herum und greift mit den bloßen Händen in die Nudeln. Der Fernseher läuft den ganzen Tag, er ist der Stolz der Familie. Gebetet wird fünfmal am Tag. Amina spricht immer noch kaum Somalisch.

Amina sagt, sie sei nicht respektiert worden, weil ihr Vater den Hawiye und nicht den Isaaq angehöre. »Ich war der Feind, mit dem sie ihr Haus teilen mussten. Sie wollten nur das Geld.« Um sie an der Flucht zu hindern, wird Amina angekettet. »Ich hatte nur einen alten Spiegel, in dem ich mich mit meinem Spiegelbild unterhalten konnte.« Stundenlang bekommt sie kein Wasser.

Dann lernt sie einen Cousin kennen, zwanzig Jahre älter als sie, der spricht ein paar Worte Englisch. Er bringt ihr Somalisch bei und unternimmt Ausflüge mit ihr. Sie verstehen sich gut. Einmal fährt Amina mit ihm im Jeep vor die Tore der Stadt. Auf einer Anhöhe macht er die Zündung aus und versucht, sie zu küssen. Sie lässt ihn gewähren, »obwohl er gelbe Zähne hatte vom Khat und eine große Narbe aus dem Krieg quer über den Kopf«. Die Sanktionen lockern sich, die Familie glaubt, Amina hätte sich in ihr Schicksal gefügt.

Amina stimmt einer Hochzeit mit dem Cousin zu. »Sie haben geglaubt, dass ich mich anpasse, sie haben mir gesagt, Mum sei mit mir zufrieden.« Ende November 2013 beginnen die Vorbereitungen auf die Hochzeit, die schon Anfang Januar 2014 stattfinden soll. Kurz vor dem Fest glückt Amina die Flucht. An einem Dienstagmorgen im Januar, kurz vor fünf Uhr morgens, nach fast fünf Monaten in Gefangenschaft. Der Vater hat aus Versehen die Tür offengelassen, er versorgt früh am Morgen, wenn die Sonne noch nicht vom Himmel brennt, die Kamele.

Auf Flip-Flops stiehlt Amina sich nach draußen. Ihr Ziel ist die etwa 220 Kilometer von Burao entfernte Hauptstadt von Somaliland, Hargeisa. Wenn überhaupt, würde es ihr in Hargeisa gelingen, Hilfe zu bekommen, es gibt hier Ausländer und internationale Organisationen. Zur Not würde sie nach Äthiopien fliehen, in die Hauptstadt Addis Abeba, Zentrum der Afrikanischen Union. Da ist eine britische Botschaft.

Amina hastet zu dem Ort, an dem die Taxis abfahren, uralte Kombis, in denen ein gutes Dutzend Menschen Platz findet. Sie belügt den Taxifahrer, erzählt ihm, der Fahrpreis von sieben Dollar werde in Hargeisa von ihrer Familie entrichtet. Kurz hinter dem ersten Militär-Checkpoint von Hargeisa rennt Amina bei einer Rast weg. Und lebt danach auf der Straße.

Wer die Flucht aus den Gastfamilien schafft, landet irgendwann in Hargeisa. So wie Joey, 19, und Abdi Aziz, 16 Jahre alt, beide aus London. Gemeinsam fahren sie in einem weißen Toyota mit dicken Beulen im sonnenverbrannten Blech über die Straßen, kauen Khat, vertrödeln ihre Jugend. Der eine hat in Europa mit leichten Drogen gedealt, der andere die Schule geschwänzt. Beide haben nur einen Wunsch: zurück nach Hause.

Als »beschmutzt und beschmutzend zugleich«, meint die Anthropologin Nathalie Peutz von der New York University, würden die aus dem Westen deportierten Jugendlichen in Somalia wahrgenommen, moralisch verdorben von der Dekadenz des Westens, von dem es heißt, er bringe ohnehin nicht viel mehr als Elektroschrott in das unterentwickelte Afrika. Oder Fässer mit giftigem Atommüll, die, wie die Piraten glauben, jahrelang vor den ungesicherten Küsten von
Somalia verklappt wurden.

Diesen Hass, gemischt mit Minderwertigkeitskomplexen, sieht man am Körper von Abdi Aziz, einem baumlangen Jugendlichen mit verträumten Augen, der mal Theaterstücke schreiben will. Eines Nachts schlugen ihn sechs Männer in Hargeisa auf offener Straße zusammen, der Knochen seiner Hand ist schief zusammengewachsen, sie gleicht jetzt einer Kralle. Auf seinen Armen drückten seine Peiniger Zigaretten aus. »Sie merken sofort, dass du nicht von hier kommst. Sie riechen es«, sagt er. »Dann fällt dieses Schimpfwort, ›Dhaqan Celis‹, und dann verprügeln sie dich. Sie meinen, dass du ein Krimineller bist, ein verwöhnter und undankbarer Mensch, der in Europa lieber auf der faulen Haut gelegen hat, als Geld zu verdienen und es zurück zum Clan nach Somalia zu schicken.«

In Hargeisa findet Amina Zuflucht bei der Nichtregierungsorganisation »Office for Development and Humanitarian Affairs«, kurz ODHA. In dem von Bougainvilleen bewachsenen Haus am Rande der Innenstadt kümmert sich die Politikerin Fatima Saeed um die stetig wachsende Zahl der deportierten Jugendlichen aus dem Westen. Es gibt ein Basketballfeld und Billardtische. Manchmal organisiert Saeed für die Kinder Fahrten ans Meer.

Offiziell ist das Büro von ODHA ein Freizeittreffpunkt, auf der Internetseite gibt es keinen Hinweis auf »Dhaqan Celis«. Fatima Saeed kehrt ihr Engagement für die entführten Jugendlichen nicht heraus. Sie will in die nächste Regierung gewählt werden. Als Frau ist das ohnehin schon schwer.

»Ich will den Kulturschock ein wenig dämpfen«


»Ich will den Kulturschock ein wenig dämpfen«, sagt Saeed, die selbst aus Somaliland stammt und lange in England gelebt hat. »Insbesondere will ich verhindern, dass die Kinder in die Fänge religiöser Fundamentalisten kommen oder sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.« Von sexuellen Übergriffen sind vor allem die Mädchen bedroht. Nach Zahlen der Kindernothilfe sind 98 Prozent der Frauen in Somaliland beschnitten. Vielen wird auch die Vagina zugenäht, damit sie als Jungfrauen in die Ehe gehen. Ein Mädchen, das diese Behandlung nicht erdulden musste, gilt als Freiwild, als allzeit willige Hure.

»›Dhaqan Celis‹ ist der tragische Ausdruck einer kulturellen Heimatlosigkeit«, sagt Saeed. »Die Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, sie verkennen aber, dass sie von der somalischen Gesellschaft längst viel zu weit entfernt sind.«

Fatima Saeed vereinbart für Amina einen Termin mit der britischen Botschaft, 25. März 2014. Amina ist glücklich. Eine Stunde vor dem Termin sitzt sie im Büro von ODHA und wartet auf den lang ersehnten Besuch der Diplomaten. »Hebamme oder Fotomodell werde ich, wenn ich zurück bin«, sagt sie voller Zuversicht. Sie hofft darauf, dass man ihr einen neuen Reisepass besorgt. Sie erwartet, schon bald abreisen zu können.

Der britische Staat erscheint in Gestalt einer zierlichen jungen Frau, blonde Haare und Bluejeans, vorsichtshalber Kopftuch. Begleitet wird die Diplomatin von zwei Personenschützern mit kugelsicheren Westen: britische Soldaten. Aber sie hat schlechte Nachrichten. »Du bist Niederländerin und keine britische Staatsbürgerin«, sagt sie, »ich kann nur versuchen, für dich Kontakt mit den Holländern aufzunehmen.« Amina weint. Sie hat in England gewohnt, seit sie denken kann, in den Niederlanden ist sie nur geboren. »Zuständig ist die niederländische Botschaft in Nairobi«, sagt die Diplomatin.

Zwischen Nairobi und Hargeisa erstrecken sich mehr als zweitausend Kilometer. Dazwischen liegen Mogadischu, das wohl bekannteste Flüchtlingslager der Welt namens Dadaab sowie die kenia-nische Grenze. Seit dem Attentat auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi durch somalische Terroristen der Al-Shabaab im September 2013 ist hier für Menschen aus Somalia kaum ein Durchkommen mehr. Erst recht nicht, wenn man keinen Pass hat, wie Amina.

Wenn ein EU-Bürger in einem Land der Welt in Not gerät, in dem es keine Botschaften seines Heimatlandes gibt, sind auch die Vertretungen anderer EU-Länder für ihn zuständig. So bestimmt es das Europarecht. Das gilt aber nicht in einem nicht anerkannten Staat wie Somaliland. Die Diplomatin, die Amina getroffen hat, vertritt den britischen Staat hier heimlich – weswegen wir ihren Namen hier nicht nennen. Nur wenige Tage im Monat fliegt sie von Addis Abeba nach Hargeisa, in einem mit Betonblöcken gesicherten Hotel nahe des Flughafens betreibt sie dann ein inoffizielles Büro in der ehemaligen britischen Kolonie von Somaliland. Jedes Auto, das auf das Gelände will, wird in einer langwierigen Prozedur von unten mit Spiegeln auf Sprengstoff untersucht.

Nach vielen Jahren des Chaos und der Gewalt ist erst seit Mitte 2011 ein wenig Frieden in Mogadischu eingekehrt. Die Übergangsregierung beharrt – wie schon der ehemalige Diktator Siad Barre –immer noch auf der Idee eines Groß-Somalias, zu dem auch das nach Autonomie strebende Somaliland gehören soll. Die Nachricht, dass die Briten in Hargeisa auch nur ein Generalkonsulat betrieben, könnte den Friedensprozess erneut ins Wanken bringen. »Mir sind die Hände gebunden«, sagt die Vertreterin der britischen Botschaft, »auch deshalb, weil sich in vielen Fällen herausstellt, dass die Jugendlichen den Rechtskreisen anderer europäischer oder amerikanischer Staaten angehören.«

Ob sich die Eltern mit einer Deportation im Herkunftsland strafbar machen, ob ein neuer Pass ausgestellt werden kann, wie die diplomatischen Gepflogenheiten in solchen Fällen aussehen, wie die Kinder, die zurückkehren, vor den eigenen Eltern geschützt werden können – all das richtet sich nach dem Recht des Heimatstaates. Die britische Diplomatin fordert eine europäische Initiative, um das Problem der deportierten Jugendlichen zu lösen. Denn es sind die Folgen der Staatenlosigkeit, die es so einfach machen, einen jungen Menschen in Somalia verschwinden zu lassen.

Im Februar 2014 kommt Amina bei einer Putzfrau von ODHA unter. Freunde von Fatima Saeed kümmern sich darum, dass sie genug zu essen hat. Sie hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Nach einigen Wochen glaubt sie einmal, auf der Straße einen ihrer Onkel zu sehen, sie flüchtet sich in einen Hinterhof.

Vielleicht hat es daran gelegen, dass die niederländischen Behörden der Mutter von Amina mit einer Anzeige gedroht haben. Vielleicht hat auch Fatima Saeed mehr für Amina getan, als sie zugeben möchte. Vielleicht liegt es sogar an den wiederholten Anfragen des SZ-Magazins bei der niederländischen Botschaft in Nairobi, genau lässt sich das nicht mehr klären. Jedenfalls bekommt Amina ihren Pass zurück, die Mutter hat ihn nicht verbrannt, er lag in einem Versteck bei den Verwandten in Burao.

6. April, Amina sitzt im »Summertime«, einem der wenigen Restaurants in Hargeisa, das auch Ausländer besuchen. Neongirlanden, Plastikstühle, eisgekühlte Kamelmilch, ölige Pizza. Amina hält stolz ein Flugticket für den 9. April in der Hand. Die Mutter, sagt sie, habe dem Druck der Behörden nachgeben müssen, sie habe ihr Geld für die Rückreise geschickt. Sie dürfe nun endlich zurück nach Hause.

Ob sie irgendetwas Gutes an ihrem Aufenthalt in Somalia sieht? Amina denkt lange nach, sie schlägt die Augen nieder. »Nein«, sagt sie. »Das Einzige, was ich gelernt habe, ist, dass meine Leute Tiere sind.« Ob sie der Mutter wieder vertrauen kann? »Ich weiß es noch nicht. Sie ist kein böser Mensch.«

Die Reporter reisen am 7. April zurück nach Berlin. Der Kontakt zu Amina bricht ab. Sie antwortet nicht mehr auf E-Mails. Ihr Handy ist seit jenem 7. April ausgeschaltet, zwei Tage vor ihrem planmäßigen Flug in die Freiheit.

An einem verregneten Sommerabend Anfang Juni vibriert das Handy, es ist schon spät, kurz vor ein Uhr nachts. Die Vorwahl 00252 leuchtet auf dem Display auf. Somalia.

»Das kleine Flittchen ist tot«, sagt ein Mann auf Englisch, und: »We own these kids.« Dann knackt es in der Leitung; die Verbindung nach Somalia ist gekappt.
Wenige Tage später teilt ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft African Express telefonisch mit, dass der Platz von Amina auf dem Flug von Berbera nach Dubai am 9. April 2014 leer geblieben ist.

Das niederländische Außenministerium hat zum Vorgehen der Niederlande in Aminas Fall generell jede Auskunft verweigert. Die zuständige britische Diplomatin erklärte am 13. November gegenüber dem SZ-Magazin, nach wie vor nichts über Aminas weiteres Schicksal zu wissen.

Fotos: Yannick Tylle