Der Tod kommt mit dem Wind

Die Sojabohne half Argentinien aus der Krise. Doch nun sind verdächtig viele Einheimische krank oder gestorben - vermutlich wegen der Spritzgifte. Die Soja-Industrie will davon nichts wissen.

Niemand kann sagen, warum die kleine Aixa, die wir auf dem Titelbild dieses Magazins zeigen, am ganzen Körper schwarze Flecken hat und am Rücken Geschwüre. Keiner kann mit Bestimmtheit erklären, weshalb die junge Nadia schief im Rollstuhl sitzt und einen nur starr anblickt. Wieso Gonzalo mit Hirnschäden geboren wurde und später genauso starb wie kurz nach ihrer Geburt Sofias Tochter. Da sind all die merkwürdigen Tode, Behinderungen und Krebsfälle in argentinischen Orten wie Aviá Terai und Ituzaingó, umringt von grünen und braunen Feldern. Aber Patienten, Angehörige und Aktivisten ahnen, dass diese Plantagen vor ihrer Haustür der Grund sein könnten. Soja. Und el veneno, das Gift.

Die Pflanzen kommen aus dem Labor, und sie werden auf riesigen Flächen angebaut. Sie werden gesät, geerntet und in ferne Länder abtransportiert. Zwischendurch werden sie aus Flugzeugen und Fahrzeugen besprüht. Die Flüssigkeiten kommen von Unternehmen mit Namen wie Monsanto, Bayer, DuPont, BASF, Dow oder Syngenta, es waren oder sind Substanzen wie Glyphosat, 2,4-D, Endosulfat, Acetochlor, Picloram, Atrazin. Sie sollen Unkraut und Schädlinge töten – und den Ertrag steigern. Manche Argentinier sind froh über dieses gentechnisch verwandelte Soja und das Gift, es füllt ihre Konten. Andere fürchten beides wie die Pest.

Meistgelesen diese Woche:

Das Gewächs aus der Unterfamilie der Schmetterlingsblütler ist an sich harmlos. Glycine max, Sojabohne. Langstielige Stauden mit weißen Blüten. Keine Laktose, kein Gluten, kein Cholesterin. Die Hülsenfrüchte enthalten viel Eiweiß, sie werden zu Tofu und Sprossen, zu Margarine und Lecithin, zu Sojaöl, Sojamilch oder Sojaburgern. In Hunderten Esswaren ist Soja vertreten. In Keksen, Eis, Schokolade, Toastbrot, Pudding. Gensoja aus Südamerika landet in den Mägen von Menschen und Tieren von Peking bis Paderborn. Selbst dem Biosprit wird Destillat aus Gensoja beigemischt.

Gensoja sättigt hier – und verwüstet dort. Es verändert Landschaften, Bewohner, Bilanzen. Es stützt Regierungen und schadet Menschen. Deshalb ist dies eine Geschichte von Opfern und Tätern, Müttern und Kindern, von Gier und Wut, Angst und Mut. Man könnte sie auch aus Brasilien erzählen, aus Paraguay und Bolivien, all diese Länder sind wie eine riesige, grenzübergreifende, unersättliche Soja-Republik. Gensoja wächst inzwischen sogar an den Ausläufern des Amazonas. Aber kein Land hat sich durch diese Züchtung so verwandelt wie Argentinien, die Kornkammer von einst, das Reich der glücklichen Kühe und saftigen Steaks.

1996 ließ der damalige Präsident Carlos Menem genmanipuliertes Saatgut für Soja und Mais genehmigen. Das Gutachten umfasste 136 Seiten, von denen offenbar zahlreiche der Hersteller Monsanto praktischerweise selbst verfasst hatte. Der US-Konzern aus St. Louis hat Sorten kreiert, die das Breitbandherbizid Glyphosat überstehen. Samen und Insektenvernichtung als Kombination aus einem Haus, ein brillanter Deal. Der Markenname des Sprühmittels: Roundup.

Bald würden neun Milliarden Menschen die Erde bevölkern, argumentieren Produzenten und Profiteure. Genmanipulation schien die Lösung zu sein, um sie alle mit Lebensmitteln zu versorgen. Das aufstrebende Asien werde immer hungriger, außerdem bekam die Welt Angst vor BSE alias Rinderwahn. Scharen deutscher Schweine, Hühner und Kühe in Massentierhaltung werden mit Millionen Tonnen Sojaschrot gemästet statt wie vorher mit Tiermehl. Das Fleisch soll ja möglichst billig im Supermarkt liegen. Die Aussaat genveränderter Sojapflanzen ist in vielen EU-Ländern verboten, der Import genveränderter Bohnen dagegen nicht.

Nach der argentinischen Staatspleite 2001/2002 ging es richtig los. Nicht zuletzt dank der rasch wachsenden Ressource Soja befreiten sich die Regierungen von Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner zunächst schnell aus der Wirtschaftskrise. Mittlerweile sind mehr als zwanzig Millionen Hektar in Argentinien mit Soja bepflanzt, überwiegend mit Gensoja. Die Sträucher bedecken zirka sechzig Prozent der Anbaufläche in Argentinien, halb Deutschland würde hineinpassen.

57 Millionen Tonnen Soja kommen während der Erntesaison 2014 zusammen, das bringt trotz gefallener Preise mindes-tens 25 Milliarden Dollar in die Kassen. Die Gewinne richten sich nach den Kursen an den Getreidebörsen in Chicago und in Rosario, wo gewaltige Silos am Ufer des Río Paraná stehen und die Frachter Richtung Río de la Plata und Atlantik ablegen. Konzerne, Agrarpools, Fonds und Landwirte haben enorme Ländereien gekauft oder gepachtet. Sie säen Soja, Soja, Soja, fast alles davon wird exportiert. Man braucht viel weniger Arbeiter und verdient viel mehr als mit Weidevieh, deshalb leben in Argentinien 2014 sechs Millionen Kühe weniger als 2007.

Die Monokulturen verdrängen den Urwald und die Ureinwohner. Mancherorts werden vor allem indigene Einheimische regelrecht gejagt. Die Böden werden ausgelaugt. Und weil der Sojaanbau immer weitergeht und sich Unkraut und Insekten an die chemischen Mittel gewöhnen, wird immer mehr und in immer neuen Kombinationen verspritzt. 1990 waren es 34 Millionen Liter Herbizide, Pestizide und Fungizide in Argentinien, im vergangenen Jahr 317 Millionen Liter. Sie benetzen außer Gensoja auch Genmais und Genreis. Aus den Giftküchen zweier Anbieter, Monsanto und Dow Chemical, stammten bereits Napalm und Agent Orange. Diese Stoffe haben Tausende Vietnamesen getötet. Zu den Bestandteilen von Agent Orange gehört 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, kurz 2,4-D, das heutzutage in der Landwirtschaft zum Einsatz kommt. Diesmal sind die Feinde nicht der Dschungel und der Vietcong – besiegt werden sollen winzige Lebewesen, die Soja gefährlich werden könnten. Aber es sieht so aus, als würde es erneut auch Menschen treffen. Am Ende der Kette stehen Verbraucher in Asien und Europa. Am Anfang stehen Arbeiter und Anwohner in Orten wie Aviá Terai und Ituzaingó.

Aviá Terai liegt an einer schnurgeraden Nationalstraße, die Argentiniens nördliche Provinz Chaco durchschneidet. In dieser flachen Region lebt ungefähr jeder Fünfte in Armut, 15 000 Kinder sind unterernährt, vier von zehn Einwohnern haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Dabei hat sich das große Geschäft auch hierher ausgeweitet, manche Silos sind höher als Kirchen. Dreißig Kilometer hinter der Stadt Sáenz Peña gedeihen auf beiden Seiten der Fahrbahn Soja und Baumwolle, nahezu ausnahmslos Produkte der Gentechnik. Auf Transparenten sind Namen zu lesen wie »Dow Agrosciences« und »Campo experimental«, Versuchsfeld. Rechterhand kurz vor der Ortseinfahrt stehen Gebäude von Bayer, der Monsanto-Tochter Genética Mandiyú und des Agrarriesen Bunge. Ein Stück weiter parkt eine gelbe Propellermaschine eines Unternehmens für die Bekämpfung von Insekten und Mikrobien. Sie versprüht den Inhalt jener weißen, braunen und grünen Kanister und Kübel, die sich daneben stapeln. Coadyuvante Bayer. Panzer Gold. Roundup. Evergreen. Lorsban 48 E. Cuidado, steht darauf, Vorsicht. Und nocivo, gesundheitsschädlich.

Aixa Cano und ihre Eltern und Geschwister kennen das fliegende Spritzgerät, es flog oft über das Soja hinter ihrem Haus und über ihre Köpfe. Aus den Düsen quillt Nebel, dessen Gestank schwindlig macht. Oder das Zeug schießt aus einem »Moskito«, so werden Traktoren mit ihren langen Sprüharmen genannt. Die Familie lebt in einer Siedlung kahler Sozialwohnungen zwischen Lehmstraße und Sojaplantage, an einer anderen Sojaplantage in der Nähe kam Aixa Cano vor sechs Jahren zur Welt. Sie war von Geburt an am ganzen Körper mit Muttermalen gesprenkelt, viele davon haarig und groß.

»Es gibt hier so viele Kinder mit Problemen. Aber die meisten haben Angst, das anzuzeigen.«


Aixa trägt ein rosa Kleid und die schwarzen Haare zum Zopf gebunden. Sie blättert in einem Modekatalog voller Bilder blonder Kinder mit makellosem Teint, im Haus läuft der Fernseher. Aixas Hautveränderungen nennen sich eigentlich Nävi, ihre extreme Ausprägung konnte ihr bisher niemand erklären. Die Ärzte können ihr nicht einmal sagen, ob ihre Tumoren operiert werden müssen. »Warum habe ich das?«, fragt sie manchmal. Ihre Mutter Silvia Ponce de Cano hat den Verdacht, dass die Giftspritzerei während ihrer Schwangerschaft damit zu tun haben könnte.

Silvia Ponce de Cano ist 27 Jahre alt. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahrzehnten in dieser Gegend vor allem Bäume standen, Rinder grasten und Sonnenblumen wuchsen. Ihr Mann Ángel Cano bewirtschaftet noch einen kleinen Gemüseacker, aber Glyphosat und andere Herbizide machen außer Soja die meisten Pflanzen kaputt. Mittlerweile verbrennt Ángel hauptsächlich Holz zu Kohle, der mickrige Erlös und staatliche Hilfe sind ihre Einkünfte. Die Kinder spielen im für sie fast schulterhohen Soja, dessen Blätter eine feine, weiße Chemieschicht überzieht, danach juckt ihnen die Haut. Viele Einwohner von Aviá Terai lagern sogar ihr Trinkwasser aus dem Gemeindebrunnen in leeren Sojagift-Behältern, auf den Etiketten steht »Roundup« oder »Panzer Gold«. Die Aufschrift »Nach dem Gebrauch zerstören« ignorieren sie. Aixa Cano? Nur ein rätselhafter Fall. Ihre Mutter Silvia Ponce sagt: »Es gibt hier so viele Kinder mit Problemen. Aber die meisten haben Angst, das anzuzeigen.«

Eine Nachbarin heißt Camila Verón, geboren mit diversen Organschäden und hervorquellenden Augäpfeln. Ein paar Ecken weiter schaut Nadja Leguizamón aus dunklen Augen, die dünnen Beine und Arme verkrümmt. Mit zwei begannen die Krampfanfälle, seit ihrem vierten Lebensjahr muss sie im Rollstuhl angeschnallt werden. Jetzt ist sie 14, kann nicht mehr sprechen und sich kaum bewegen. »Wir wissen nicht, was das für eine Krankheit ist«, sagt ihre Mutter Viviana, aber sie ahnt etwas: »Es wurde viel gesprüht, als ich schwanger war.« Vor dem Haus dient als Blumentopf ein Eimer mit der Aufschrift »Glyphosat«. Eine andere Frau erzählt, ihr Mann sei binnen acht Monaten einem Lymphom erlegen, sie lebt ebenfalls direkt am Sojafeld. Man hört, dass ein Säugling in dieser Gegend an der mütterlichen Brust zu atmen aufgehört habe, dass nach Giftflügen Ziegen verendet seien und ein Papagei tot zu Boden fiel, dass es kaum mehr Bienen gebe und Frösche. Es gibt so viele Geschichten.

Der Intensivmedizinerin María del Carmen Seveso fiel vor ihrer Pensionierung im Krankenhaus der Kreisstadt Sáenz Peña über Jahre hinweg auf, wie Geschwüre, Abgänge, Fehlgeburten, Hirnschäden und Gaumenspalten häufiger wurden. Umfragen ergaben, dass jede dritte Familie in Aviá Terai einen Krebskranken in der engsten Verwandtschaft hat. In Ortschaften von Viehwirten sind es nur drei Prozent. Nicht besser ist die Bilanz in La Leonesa oder Pampa del Indio, wo auf dem Besitz eines argentinischen Krösus Zehntausende Hektar Gensoja gepflanzt und bespritzt werden. »Der Tod kommt mit dem Wind«, sagen die Leute. Sie nennen den Niederschlag »toxischer Regen«, er geht auch auf Tausende Dorfschulen nieder – trotz der Gesetze über den Mindestabstand zu Wohngebieten. »Es trifft die Ärmsten und Ungebildetsten, sie sind Versuchskaninchen«, sagt Seveso, die sich in den Selbsthilfevereinigungen »Ärzte besprühter Dörfer« und »Red Popular Ramón Carrillo« engagiert. »Das ist eine Zeitbombe. Ein Genozid.«

In einem Hotel in Córdoba ungefähr 600 Kilometer südwestlich von Aviá Terai sitzt Sofía Gatica. Sie ist die Stimme der »Mütter von Ituzaingó«, die 2011 einen ersten Prozess gegen die Giftspritzer gewannen. Ituzaingó liegt am Rande der Millionenstadt Córdoba, das Dorf war ebenfalls umzingelt von besprühtem Gensoja. Sofia Gaticas Tochter starb drei Tage nach der Geburt an Nierenversagen. In der Umgebung fielen ihr andere Kindersärge auf. Und Nachbarn, die Mundschutz trugen – und Kopftücher, wegen des Haarausfalls. Sofía Gatica, eine Hausfrau, und Mitstreiterinnen organisierten sich, informierten sich über Toxikologie und Paragrafen und untersuchten mit Spezialisten das Viertel. Sie stellten fest, dass die Krebsrate in Ituzaingó um ein Vielfaches über dem Durchschnitt liegt, ebenso die Zahl der Fehlgeburten, neurologischen Defekte und Atemwegsinfektionen. »Das ist ein Geschäft mit der Gesundheit«, sagt Sofía Gatica. »Noch viele andere werden an diesem Zeug sterben.«

In einem Präzedenzfall stützte ein Gericht 2011 ihre These, dass die Herbizide für das Gensoja viel zu nah vor den Häusern von Ituzaingó verwendet wurden. Die Kläger hatten die Blutwerte von 114 Kindern mit Spuren von Agrochemikalien präsentiert. Die Angeklagten, ein Sojabauer und ein Giftpilot, wurden zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. »Historisch«, schrieb die Lokalzeitung La Voz. Sofía Gatica bekam den bedeutenden Goldman Prize für Umweltschutz, dotiert mit 150 000 Dollar. Sie war zu Vorträgen in Brüssel und Berlin, in Stuttgart und Ulm – und warnte vor den Folgen des gespritzten Gensojas aus Argentinien in europäischem Mastfutter. Forscher der Universität Leipzig entdeckten Glyphosat im Urin von Kühen, das Bundesinstitut für Risikobewertung sah allerdings »keine neuen Erkenntnisse«. Sofía Gatica sagt: »Ihr werdet auch vergiftet. Oder glaubt ihr Europäer, ihr werdet von dem Gift nicht krank?«

Héctor René Pallares schaut spöttisch hinter seinem Schreibtisch hervor. Er ist seit Jahrzehnten Bürgermeister von Aviá Terai und – wie etliche Politiker und Investoren – sojero, Sojabauer. »Es gibt so viele Versionen«, sagt Pallares in seinem Büro mit Plastikblumen und lacht. »Die Leute sind ignorant. Ich lebe seit zwanzig Jahren mit dem Glyphosat, und mir ist noch nie was passiert. Wir spritzen jeden Tag.« Er berichtet von seinen 500 Hektar Soja, andere versichern, ihm gehörten 2000 Hektar. Damit lässt sich ein Vermögen verdienen. Wegen der Sojaflut wurden sogar die Schienen der vorher brachliegenden Eisenbahn renoviert, die Züge transportieren die Ernte aus Aviá Terai zum Hafen von Rosario. Wenn man Herrn Pallares darauf hinweist, dass manche seiner Bürger von Drohungen aus dem Rathaus sprechen, damit sie den Mund halten, dann springt er zornbebend auf und schmeißt einen auf der Stelle hinaus: »Gehen Sie!«

Die Macht der milliardenschweren Agrarlobby ist gewaltig. Das hochgiftige Endosulfan von Bayer wurde in den meisten Ländern längst verboten, in Argentinien jedoch durften gewaltige Restbestände bis zuletzt aufgebraucht werden. 2,4-D wird wie gehabt verwendet, Dioxine hin oder her. Glyphosat alias Roundup ist sowieso ein Verkaufsschlager. Der Fabrikant Monsanto beruhigt stets, es sei bei korrekter Anwendung unbedenklich, die Behörden in Argentinien, den USA und auch Deutschland sehen das genauso. »Glyphosat ist so gefährlich wie Salzwasser«, verkündete der argentinische Wissenschaftsminister Lino Barañao. Selbst wenn man ein ganzen Glas davon trinken würde, würde einen das nicht umbringen.

Von wegen, meinen Kritiker wie Medardo Ávila, Kinderarzt in einer Klinik in Córdoba und Sprecher der »Ärzte besprühter Dörfer«. »Es wird vielleicht nie eine Beweiskette Ursache–Effekt geben«, sagt er, »aber der Schaden ist eindeutig: Die chronische Zufuhr von Glyphosat zerstört DNA.« Oft zeige die Agrochemie ihre Folgen deshalb erst nach Jahren oder in der nächsten Generation. Besonders schnell ging es bei dem Hilfsarbeiter Fabián Tomasi aus Basavilbaso in der Provinz Entre Ríos, einem Symbol der Tragödie. Er betankte jahrelang Sprühflugzeuge mit Glyphosat, Endo-sulfan, 2,4-D und DDT. Er ist 47 Jahre, abgemagert bis auf die Knochen, ein lebendes Skelett.

Nur langsam wuchsen Bewusstsein und Widerstand. Der Molekularbiologe Andrés Carrasco von der Universität Buenos Aires injizierte Embryonen von Amphibien winzige Spuren von Glyphosat und zeigte, wie sich das Erbgut verändert: Die Föten der Tiere waren belastet bis entstellt. Die Studie erschien 2009 in der renommierten US-Zeitschrift Chemical Research in Toxicology. Verteidiger der Gensoja- und Sprühmittelbranchen kanzelten den Verfasser ab, Carrasco wurde sogar bedroht. Er erlag im Mai 2014 einem Krebsleiden. Argentiniens Staatschefin Fernández de Kirchner berief dann angesichts der zunehmenden Sorgen wegen des Sojaexzesses eine Untersuchungskommission ein, heraus kam wenig. Doch die Herausforderer geben nicht auf. Ihr Slogan steht auf Plakaten, Transparenten, Flugblättern oder auf Facebook: Paren de fumigar. Hört auf zu sprühen.

Die Mütter von Ituzaingó machen weiter. In einem Haus vor dem ehemaligen Sojafeld ihres Wohnviertels zeichnet eine der Frauen eine deprimierende Skizze: Da vorne und da drüben habe jemand Brustkrebs, erzählt sie, schräg gegen-über und um die Ecke hätten zwei Leukämie, hinten Lupus, eine Querstraße weiter wohne ein behindertes Kind und in der Parallelstraße noch eines. Auch Depressionen und Selbstmorde hätten zugenommen. Auf dem verlassenen Giftboden bauen unterdessen Siedler ihre Häuser und Hütten, ein Irrsinn. Sofía Gatica und andere Demonstranten wehren sich nun gegen eine Gensaatfabrik von Monsanto in der Kleinstadt Malvinas Argentinas einige Kilometer weiter. Manche campen vor den Zäunen der Anlage, manche bezogen bei ihren Blockaden Prügel, Sofía Gatica braucht wegen Drohungen einen Leibwächter.

»Das Gift ist überall. In der Erde. Im Wasser. In den Menschen.« Raúl Montenegro schaut einen in seinem Haus in Córdoba traurig an, ein 65-jähriger Biologe mit graumelierter Mähne. Er hat 2004 den Right Livelihood Award bekommen, den alternativen Nobelpreis, er ist das ökologische Gewissen Argentiniens. Montenegro malt Kurven auf ein Papier und spricht von zerstörten Ökosystemen. Gensoja habe den Raubbau nur verstärkt. »Wir spielen mit der Genesis. Die Gen-Industrie ist ein gefährliches Experiment. Die wahren Konsequenzen werden wir in zwei, drei Generationen spüren.« Besucher führt er gern auf die Sojafelder der Umgebung und fragt sie, was ihnen zuerst auffällt. Das Grün? Die Weite? Der Gestank der Schädlingsbekämpfung aus den Flugzeugen und Moskitos? »Die Stille«, sagt Raúl Montenegro: Zwischen den Giftpflanzen überlebt kaum eine Grille, Wespe oder Mücke. Es ist eine Totenstille.

Fotos: Marco Vernaschi