Die Gewissensfrage

Die anderen unterhalten sich angeregt, nur man selbst wird plötzlich müde: Darf man eine Runde zum Aufbruch drängen, nur weil man selbst gehen möchte?

»Vor Kurzem war ich mit zwei Freundinnen abends unterwegs. Eine der beiden wurde müde und drängte sehr aufzubrechen. Die andere, mit deren Auto wir da waren, und ich hatten tief gehende Gespräche und wollten bleiben. Als Kompromiss fuhren wir alle unzufrieden nach einer halben Stunde. Hätten wir mehr Rücksicht nehmen oder hätte die Freundin ein Taxi rufen sollen?«Heike M., Mainz


Beim Versuch, Ihre Frage auf philosophischer Grundlage zu lösen, landete ich naturgemäß bei der Quelle für tiefsinnige Gespräche in geselliger Umgebung schlechthin, bei Platons Symposion, dessen Titel oft mit Das Gastmahl wiedergegeben wird, obwohl Trinkgelage die bessere Übersetzung wäre. Tatsächlich behandelt der Schluss Aufbrechen oder eben nicht Aufbrechen. Dieweil nämlich der Abend voranschritt und wegen neuer Gäste Unruhe aufkam, gingen einige der Teilnehmer. Aristodemos, der von dem Gelage berichtet, aber blieb; jedoch übermannte ihn vor Ort bald der Schlaf. Als er bei Tagesanbruch und Hahnenschrei wieder aufwachte, waren noch drei Personen wach, tranken und diskutierten: Sokrates, der Gastgeber Agathon und Aristophanes, der zuvor die berühmte Geschichte der halbierten suchenden Kugelmenschen zum Besten gegeben hatte. Sokrates überzeugte die beiden, die Verwandtschaft zwischen Tragödie und Komödie einzusehen, dann schliefen auch sie nacheinander ein. Sokrates selbst aber stand auf und ging in Begleitung von Aristodemos davon. Zunächst ins Bad, dann verbrachte er den Tag wie auch sonst, bis er am Abend endlich schlafen ging.

Was lernen wir daraus? Mehreres. Dass am Ende eines Trinkgelages oft Komödie und Tragödie sich einander annähern; dass man beim angeregten Gespräch nicht so schnell müde wird; dass der größte Denker, Sokrates, beim Trinken und Reden am längsten durchhält; und dass man, wenn man das nicht schafft, sowohl einschlafen kann als auch gehen, aber niemanden drängen muss und damit das Gespräch beenden.

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Bei unterschiedlichen Interessen würde ich immer die Lösung wählen, die allen am besten dient, und das scheint mir hier das Taxi zu sein. Das kostet zwar Geld, stellt aber ansonsten alle zufrieden. Und das, ebenso wie gute Gespräche, ist viel wert.

Literatur:

Platon, Symposion. Eine gute deutsche Übersetzung von Ute Schmidt-Berger mit Nachwort, Erläuterungen und griechischen Vasenbildern ist 1985 im Insel-Verlag, Frankfurt am Main erschienen, 2004 ebendort in einer schönen gebundenen Ausgabe.    

Wer es Sokrates gleich tun möchte und nach einem nächtlichen Gelage – oder einer Nacht ohne Schlaf aus anderem Grunde – auch den Tag noch wach bleiben möchte oder muss, dem sei der Artikel „How to Get Through a Workday on No Sleep“ von Melissa Dahl auf der Webseite SCIENCE OF US des New York Magazine mit einer Reihe von wissenschaftlich begründeten Tipps ans Herz gelegt.

Illustration: Serge Bloch