Die Gewissensfrage

Gebietet es die Gastfreundschaft, einen Freund, der ein paar Tage zu Besuch ist, auch noch zu jeder Mahlzeit einladen?

»Wir haben einen guten Bekannten eingeladen, uns für ein paar Tage zu besuchen und natürlich bei uns zu wohnen. Jetzt ist es so, dass er - ein netter, lustiger, verlässlicher Kerl - nichts dagegen hat, wenn man in Kneipen seine Rechnung begleicht, aber nur seltenst für sein Gegenüber mitbezahlt. Erfordert es die Gastfreundschaft, ihn durchgehend freizuhalten?«Gert H., Bremen

Es geht hier um Gastfreundschaft, genauer gesagt um ihr Ausmaß, und es scheint mir, als wenn man dabei zwei grundsätzliche Modelle unterscheiden kann: ein klassisch-archaisches und ein modernes. Beim klassisch-archaischen Modell ist der Gast vollständig Gast.

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Er wird ganz besonders behandelt und bewirtet, der Gastgeber sorgt über
die gesamte Zeit des Besuches für ihn, treibt großen Aufwand – man denke an ein klassisches Festmahl oder ein Besuchsprogramm – und begleicht alle Rechnungen für den Gast. Wer je persönlicher Gast in einem südlichen Land war, kennt diese Form der Gastfreundschaft. Ein Ausgleich, wenn es ihn überhaupt gibt, findet bei einem Gegenbesuch statt oder indirekt, indem der Gast bei sich zu Hause einen Dritten genauso großzügig empfängt.

Dem gegenüber steht das moderne Modell. Man empfängt den Gast, nimmt ihn freundlich bei sich auf, aber der Gast erweist sich erkenntlich: Er bringt ein Gastgeschenk mit, versucht möglichst wenig Umstände zu bereiten, am besten sich nützlich zu machen. Häufig lädt er die Gastgeber vor Ort ein, indem er im Restaurant oder in der Bar die Zeche übernimmt. Ein Großteil des Ausgleichs findet sofort beim Besuch statt. Man kann das als Verlust gegenüber dem alten Modell empfinden, jedoch entspricht es nicht nur der Geschwindigkeit des modernen Lebens, sondern passt auch zu der Tatsache, dass die Menschen heute wesentlich häufiger reisen. Und es entsteht nicht so leicht eine Schieflage zwischen Bewohnern von beliebten Reisezielen wie etwa München oder Berlin und denen von vielleicht genauso schönen, aber seltener aufgesuchten Gegenden.

Es ist Ihre Entscheidung, welchem Modell Sie den Vorzug geben wollen. Schöner ist sicherlich das klassische Modell, praktikabler und wohl konfliktärmer aber das moderne.

Literatur:

D. Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. 2. Auflage F.A. Brockhaus, Leipzig 1833, 2. Band, F – M, Gastrecht, S. 122  

„Die Bewirthung des Fremden (Aufnahme in’s Haus und freie Verköstigung) ist aber kein Gegenstand des Rechts, sondern des guten Willens, der Menschlichkeit, oder auch der persönlichen Zuneigung. Darauf gründete sich auch die alte Sitte der Gastfreiheit oder Gastfreundschaft im engeren Sinne – eine allerdings löbliche Sitte, die bei den rohen Völkern, wie bei den heuten Arabern, noch besteht, aber auf unsern Culturstand (außerordentliche Fälle ausgenommen) nicht mehr anwendbar ist, indem bei uns überall Häuser sich finden, welche ein besonderes Gastrecht üben und daher jedem Reisenden Tag und Nacht offen stehen. Wo nur Wenige reisen, kann man leicht einen Fremden aufnehmen und frei bewirthen; wo aber alle Welt auf den Straßen sich umhertreibt, wäre das nicht nur eine kostspielige, sondern auch höchst gefährliche Sache.“  

G.S.A. Mellin, Wörterbuch der Kritischen Philosophie, Friedrich Frommann, Jena und Leipzig 1799, II. Band, II. Abtheil, S. 710f.  

„Gastrecht   Unter dem Gastrecht versteht man das Recht, sich auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen eines andern zu manchen. Dieses Recht war z. bei den alten Völkern gebräuchlich, da ein Fremdling, wenn er in eine Stadt oder ein Land kam, wo er nicht für gewöhnlich wohnte, von einem Hausvater gebeten wurde, sich eine Zeitlang zum Hausgenossen der Familie des Hausvaters zu machen. Die Bitte des Hausvaters, und die Annahme des Anerbietens von Seiten des Fremdlings, war also ein wohltätiger Vertrag. Ein wohltätiger Vertrag (pactum gratuitum) ist nehmlich ein solcher Vertrag, durch welchen nur eine von den beiden, die ihn schließen etwas erwirbt. Denn nur der Fremdling, der zum Hausgenossen, auf eine Zeit hindurch aufgenommen wird, erlangt hier einen Vortheil, wofür der nichts erwirbt, der ihn aufnimmt. ... 2. Dieses Gastrecht war in jenen Zeiten durchaus nothwendig, wo man noch nichts von Wirtshäusern und Gasthöfen wußte, dergleichen man z.B. in Rom nicht hatte, wo doch zu allen Zeiten ein großer Zufluß von Fremden aus den Provinzen war, welche in der Hauptstadt des Reichs ihrer Geschäfte wegen auf einige Zeit zugegen sein mussten. Diejenigen, welche mit einander in einer solchen Verbindung standen, dass sie einander und die Angehörigen wechselseitig bei sich aufnahmen, hießen Gastfreunde (hospites). Es war sogar gebräuchlich, dass eine ganze Stadt einem Fremden, den sie ehren wollte, das Gastrecht gab. Der Vertrag zwischen zwei Personen, wodurch beide das Gastrecht erhielten, hieß die Gastfreundschaft (hospitium), und kann schon zu den belästigenden Verträgen, d.i. zu denen gerechnet werden, durch welche beide Parteien erwerben.“    

D. Klement, Hospitalität, in: in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 3 G–H, Verlag Schwabe & Co. Basel 1974, Spalte 1212 – 1216.    

Jaques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Passagen Verlag Wien, 2. Auflage 2007

Burkhard Liebsch, Für eine Kultur der Gastlichkeit, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau, 2008

Illustration: Serge Bloch