Die Gewissensfrage

Ein Bekannter erzählt ständig unwahre Geschichten. Soll man ihm die Meinung sagen?

»Ein guter alter Bekannter erfindet laufend Geschichten und erwartet, dass man sie ihm glaubt, obschon sie offensichtlich erflunkert sind. Wenn ich ihn auf Widersprüche hinweise, reagiert er verärgert. Soll ich mich darauf einlassen, ›belogen‹ zu werden, oder ihm klipp und klar sagen, dass ich nicht länger dulden kann, genasführt zu werden?« Norbert J., Nürnberg

Welche Art von Geschichten erzählt Ihr Bekannter? Sagt er Ihnen im Vertrauen, dass er Zugriff auf ein verwaistes nigerianisches Konto mit vielen Millionen Dollar habe, an denen er Sie teilhaben lassen möchte, wenn Sie sich an den Kosten beteiligen, die leider vorab anfallen? Oder erzählt Ihr Bekannter Geschichten eher dergestalt, dass er als Fünfkämpfer auf der Insel Rhodos weiter gesprungen sei, als es sonst Olympiateilnehmer schaffen? Schilderungen, wie er sich selbst am Schopf aus dem Sumpf gezogen hat?

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Der große Unterschied dieser zwei Arten von Geschichten ist, dass mit der aus Spam-Mails bekannten Konto-Geschichte jemand betrogen werden soll, mit den beiden anderen aber nicht. Gegen diese Art von Geschichten spricht daher wenig. Im Gegenteil, sie haben einen gewissen Unterhaltungswert.

Deshalb stoße ich mich auch an dem Wort »genasführt«. Ihr Bekannter führt Sie doch gar nicht an der Nase herum, wenn Sie bemerken, dass er die Geschichten erfunden hat. Er erzählt etwas, und Sie erkennen, dass es nicht stimmt. Und überweisen hoffentlich kein Geld nach Nigeria. Niemand wird geschädigt, und damit wäre das Feld eröffnet für einen für mich zentralen Punkt: Man sollte Menschen so nehmen, wie sie sind. Wenn Sie von einem »guten alten Bekannten« schreiben, mögen Sie ihn offensichtlich. Dann akzeptieren Sie doch einfach, dass er gerne den Münchhausen gibt. Vielleicht ist das ein Fehler, aber in erster Linie ist er ein Mensch mit diesem Fehler – oder dieser Eigenschaft. Wenn Sie das stört, sagen Sie es ihm; höflich, aber durchaus klipp und klar.

Wenn er dennoch weitermacht und Sie damit nicht zurechtkommen, müssen Sie zugeben, dass er zwar ein alter Bekannter ist, aber kein guter; und Sie können den Umgang reduzieren oder einstellen. Ansonsten gilt: Nehmen Sie ihn so, wie er ist.

Literatur:    

In der Fabel „Der Fünfkämpfer als Prahlhans“ von Äsop behauptet ein Fünfkämpfer, der wegen seiner Misserfolge kritisiert wurde, er habe auf Rhodos einen Sprung getan, den kein Olympionike erreichen könne. Daraufhin wurde er aufgefordert den Wahrheitsbeweis anzutreten, indem er hier auf der Stelle springen soll. In der lateinischen Übersetzung wurde der Spruch dann geflügeltes Wort und häufig wieder verwendet: „Hic Rhodus, hic salta! Hier ist Rhodos, springe hier!“  

Die Fabeln gibt es in vielen Ausgaben, zum Beispiel in einer griechisch/deutschen im Reclam Verlag, Stuttgart 2005  

Online kann man die Fabel vom Fünfkämpfer als Prahlhans im griechischen Original und in deutscher Übersetzung nachlesen    

Gottfried August Bürger, Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, Göttingen 1786 Die Stelle an der Münchhausen berichtet, sich selbst mitsamt seinem Pferd am Schopf aus dem Sumpf gezogen hat, kann man hier online nachlesen (am Ende der Seite)

Illustration: Serge Bloch