Alter Glanz

Der italienische Archäologe Sebastiano Tusa hat einen legendären Schatz gehoben. Damit will er Sizilien retten – mindestens.

Es ist ganz einfach, aus der Gegenwart zu fliehen. Es ist ganz einfach, die Ängste und den Ärger hinter sich zu lassen, die ewigen Fragen: Wie sieht Italiens Zukunft aus? Was macht die Mafia? Bekomme ich jemals Rente? Stehe ich heute Abend im Stau?

Sebastiano Tusa holt tief Luft, drückt das Kinn auf die Brust und steckt den Kopf ins Wasser. Er macht eine Rolle vorwärts, schlägt einmal mit den Flossen und taucht ab ins Meer. Ist er ein paar Meter tief gesunken, gelten die Gesetze und Beschränkungen des Landlebens nicht mehr. Sebastiano Tusa spürt nicht mehr das Gewicht von Bauch und Alltag, niemand zupft ihn am Ärmel, er ist ganz bei sich. Das Meer kühlt ihm den Schädel. ­ Bleibt man an der Oberfläche der Dinge, ist Italien ein armes Land. Unter Wasser sieht man die Dinge mit anderen Augen. Wer taucht, wer den Dingen auf den Grund geht, der sieht: Italien ist reich, sagenhaft reich.

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Sebastiano Tusa, 62 Jahre alt, arbeitet als Chef der ­Soprintendenza del Mare in Palermo, er ist Denkmalschützer, Unterwasserarchäologe, Chef von mehr als 50 Mitarbeitern. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden gesunkene Schiffe samt der geladenen Fracht zu bergen. Zwei Tage pro Woche arbeitet er im Büro, die restliche Arbeits­zeit verbringt er im und auf dem Wasser.

Den größten Fund seines Lebens hat Tusa vor wenigen Wochen an der sizilianischen Südküste gemacht, in der Nähe der Stadt Gela, 300 Meter vom Strand entfernt. In drei Metern Tiefe liegt dort ein Wrack aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus. An Bord waren 39 jeweils etwa fünfzehn Zentimeter lange Barren, jeder zwei, drei Finger dick. Tusa ist ein guter Geschichtenerzähler, mit dem Gespür für Pointen und Pausen, er hat schon oft von dem Fund berichtet, und er macht das immer mit den gleichen Worten. »Am Anfang dachten wir an Gold, das wäre ja auch ganz interessant gewesen«, pflegt Tusa zu sagen, so wie jetzt. Dann wartet er ein bisschen und fügt hinzu: »Das sind Barren aus Oreichalkos.«

Nüchtern betrachtet, handelt es sich bei Oreichalkos um ein Kupfer-Zink-Gemisch, das gelb glänzt. Aber der nüchterne Blick ist ja nur eine unter vielen Möglichkeiten, auf die Welt zu sehen. Vor langer Zeit hat Oreichalkos die Menschen begeistert und galt als wertvolles Metall. Platon berichtete, das legendäre Reich ­Atlantis habe im Licht von Oreichalkos geleuchtet – bis die Insel innerhalb »eines einzigen Tages und einer unglückseligen Nacht« versunken sei. Allerdings hat bisher niemand größere Mengen des Metalls gefunden, bloß mal etwas Schmuck. »Unsere Barren sind wirklich einmalig«, sagt Tusa. Wenn man so will, hat er den Schatz von ­Atlantis geborgen. Aber darüber will er gar nicht so viel reden. Denn Tusa geht es nicht nur um alte Legenden. Dort unten am Meeresgrund ruhen ja nicht bloß die Zeugnisse einer vergangenen Epoche, Vasen, Eisenhelme, Schatztruhen. Dort unten ruht auch die Zukunft Siziliens. Tusa kann sich sowieso nicht in der goldenen Vergangenheit der Antike verkriechen. Die Gegenwart zehrt und zieht an ihm, er muss immer knappere Budgets verwalten. Tusa ist Archäologe, Berufsnostalgiker – und ein Manager des Mangels.

Die Barren haben Tusa und seine Kollegen längst geborgen. Heute ist Tusa tauchen gegangen, um heraus­zubekommen, wie sich das Wrack am besten heben ließe. So könnte man ermitteln, woher das Schiff stammte. An diesem Tag aber kommt Tusa nicht weiter. Zu viele Wellen, zu viel aufgewirbelter Sand, unter Wasser sieht er kaum einen Meter weit. Nach wenigen Minuten steht er wieder an Deck und gibt den Befehl zur Rückfahrt. Besonders traurig sieht er nicht aus. »Als Archäologe ist man Enttäuschungen gewohnt. Man gräbt und gräbt und findet nichts.«

Tusa steht breitbeinig auf dem Schiff. Er macht das nicht nur, weil das Schiff heftig schlingert. Er steht auch einfach so gern breitbeinig da. Den knallengen Taucheranzug hat er immer noch an. Seinen Bauch streckt er so stolz heraus, als hätte er darin ein paar Edelmetallbarren verstaut. Von Menschen, die nach Höherem streben, scheint ja oft eine Art Leuchten auszugehen. Bei Tusa ist das auch buchstäblich so. Erst vor Kurzem hat er sich die Haare am Kopf abrasiert, die Haut an seinem Schädel ist weiß, viel heller als die in seinem Gesicht. Sein Kopf glänzt in der Sonne. Oben im Himmel verbrennen sie heute Diamanten, so grell ist das Licht an diesem Vormittag. Tusa breitet die Arme aus, er umarmt die Luft und das Meer und einfach die ganze Welt und sagt: »Habe ich nicht den allerbesten Job?«

Athen ist nur 800 Kilometer entfernt, das große, untergegangene Karthago etwa 350 Kilometer. Das Mittelmeer ist winzig klein. Aber auf der hellblauen Leinwand dieses Gewässers hat die Menschheit einige ihrer schönsten Geschichten geschrieben. Die drei großen Weltreligionen sind rund um das Mittelmeer entstanden. Die Araber entwickelten die moderne Medizin. Die Griechen erfanden Demokratie und Sinnsuche. Und die Karthager sollen im fünften oder sechsten Jahrhundert vor Christus auf der Suche nach Zinn bis nach England gefahren sein. Das Mittelmeer schien den Menschen ­damals der Mittelpunkt der Welt zu sein, und Sizilien bildete die Mitte dieses Mittelpunkts, ein Paradies aus Tempeln, Olivenhainen und zehn Sonnenstunden am Tag. Tusa fragt sich manchmal, wieso heute eigentlich die Kapitalisten aus dem Norden über die Erde regieren, mit ihrer seltsamen Vorliebe für Butter und Zweck-Mittel-Relationen. Warum bringt man die Länder des Mittelmeers nur noch mit korrupten Politikern in Verbindung, mit Schulden, mit islamischem Terrorismus? Eine gute Antwort hat Tusa darauf nicht. Er starrt vor sich hin und meint: »Wir müssen uns eben ­arrangieren.«

»Es genügt aber nicht nur, dass wir Wissenschaftler das diskutieren. Auch die ganz normalen Menschen müssen das wissen.«

Hat Tusa genug Geld, setzt er schon mal Tauchroboter und U-Boote ein. Am Wrack vor Gela taucht er aber meistens nur mit Brille und Schnorchel, das ist billiger. Die Denkmalschutzbehörde in Palermo verfügt über ­eigene Boote. Aber es ist aufwendig und teuer, sie an die Südküste kommen zu lassen. Also lässt sich Tusa ent­weder von der Küstenwache oder von der Guardia di ­Finanza chauffieren. Sowohl die Lebensretter als auch die Polizisten glauben, die besten Seemänner der Insel zu sein. Diese Konkurrenz scheint Tusa mit ein paar Bemerkungen zusätzlich angeheizt zu haben, also prügeln sich die Beamten schon fast darum, Tusa an Bord nehmen zu dürfen.

Fünf der kostbaren Barren aus dem Wrack in Gela ­bewahrt Tusa in seinem Büro in Palermo auf. Er lagert den Atlantis-Schatz nicht in einem Thermo-Safe, son­dern in einem Bücherregal. Italien hat viele Kunstschätze, dadurch ist der Umgang mit ihnen zuweilen lässig. Die Barren hat Tusa in die Zeitung von vorgestern ge­wickelt. In der Zeitung steht, dass die Regierung von ­Sizilien nun Ministerienbüros zusammenlege, dadurch würden drei Millionen Euro gespart. Tusa packt die ­Barren aus, so aufgeregt wie ein Kind am Geburtstagstisch. Im Grunde trägt er immer den gleichen Gesichtsausdruck: vergnügt und ein bisschen verwundert. Wenn der Kellner im ­Restaurant um ihn herum ein Stone­henge aus Weinflaschen, Gläsern und Antipasti-Tellern errichtet. Wenn er mit der Vespa durch den Straßen­verkehr Palermos kurvt und umgestürzten Mülltonnen und entgegenkommenden Autos ausweicht. Wenn er mit einem Zahnarztbohrer die Oreichalkos-Barren von ­Algen und Öl reinigt, über das schreckliche Geräusch ­erschrickt, das dabei entsteht, und dann erst recht weitermacht. Vielleicht halten die Zeitreisen jung, die er unternimmt, das Schwimmen und Tauchen im Meer. Vielleicht ist er ein Kind geblieben. Kinder interessieren sich ja für versunkene Universen, für Welten mit ­eigenen Gesetzen, für Ritter und für den Tyrannosaurus Rex.

Schon sein Vater, Vincenzo Tusa, war ein bekannter Archäologe. Sebastiano wuchs auf Ausgrabungsstätten auf und spielte nicht mit Puppen, sondern mit antiken Vasenscherben. Vincenzo Tusa hat die berühmten ­Tempel von Selinunt restaurieren lassen. Er kämpfte gegen die Mafia, die zwischen den Tempeln ein Hotel errichten wollte. Eine Zeitlang wurde Sebastiano auf dem Schulweg von Polizisten begleitet. Für ihn war das nur ein weite­res Abenteuer. Wie die Tauchwettbewerbe mit seinen Klassenkameraden, tiefer und immer tiefer, in Unterwasserhöhlen, wo selbst das Mittelmeer dunkel ist und kalt. Tusa will mit seiner Begeisterung anstecken. Das Kupfer in den Oreichalkos-Barren kommt vermutlich aus Minen in der heutigen Türkei. Die Wasserkrüge, die Tusa bei dem Wrack fand, stammen wohl aus Korinth. Tusa glaubt, dass das Oreichalkos für Gela bestimmt war. Griechische Siedler haben die Stadt im siebten Jahrhundert vor Christus gegründet. Tusa will beweisen, dass die Stadt ein Business-Knotenpunkt war. »Es genügt aber nicht nur, dass wir Wissenschaftler das diskutieren«, sagt Tusa. »Auch die ganz normalen Menschen müssen das wissen.«

Alle Fundstücke, die Tusa birgt, untersucht er nur für kurze Zeit in seinem Büro und an der Universität von Palermo. Dann gibt er sie an die Städte zurück, vor deren Küste die Schätze gefunden wurden. 34 der 39 Oreich­al­kos-Barren hat er sofort wieder nach Gela schicken lassen. Das örtliche Archäologiemuseum veranstaltet mit ihnen eine Sonderausstellung. Am Tag der Eröffnung reist Tusa am frühen Morgen aus Palermo an. Gela ist keine schöne italienische Altstadt, sondern eine Ansammlung aus Abfall, Ruinen von Ölraffinerien und Häusern, die aus Sperrholz gebaut scheinen. Vielleicht hat sich Tusa deswegen so herausgeputzt. Er trägt eine kreisrunde, gelbe Brille. Außerdem hat er sich eine Krawatte umge­bun­den. Auf der Krawatte sind kleine Delfine zu sehen, jeder von ihnen trägt einen Jüngling auf den Rücken. Es ist eine männlich-maritime ­Variation des berühmten Bildes der Göttin Europa, die auf dem Stier reitet. Tusas braune Lederschuhe ­scheinen immun gegen den Schmutz und den Staub zu sein. Eigentlich soll die Ausstellung um zehn Uhr eröffnet werden, aber Tusa ist der Einzige, der pünktlich ist. Er strahlt und reibt sich die Hände.

Um Punkt elf bricht das Chaos aus. Polizeiwagen ­fahren mit quietschenden Reifen und mit Blaulicht vor. Eine Abordnung der Gebirgsjäger erscheint, die Männer tragen Filzhüte mit riesigen Federn. Eine Schulklasse nach der anderen marschiert die Straße hinunter, die Leh­rer brüllen Anweisungen ins Mikrofon, Konfetti­kano­nen explodieren. Riesige Freude. Am Ende quetscht sich auch noch der Ehrengast durch die Menge. Es ist Lucia Lotti, eine Staatsanwältin, die gegen die örtliche Mafia kämpft. Die Staatsanwältin ist hager und angestrengt. Tusa begrüßt sie mit Küssen und sagt: »Es ist so wichtig, dass du heute da bist.«

Die Schüler werden nacheinander in kleinen Gruppen von je zwanzig in das Museum gelassen, für mehr auf einmal ist kein Platz. Niemand meckert, obwohl insgesamt mehr als 1000 Schüler gekommen sind. Tusa hält keine Rede, wie er es eigentlich vorhatte, denn dafür ist es einfach zu laut, er steht neben der Vitrine mit den Oreichalkos-Barren und hofft darauf, dass die Kunst und die Geschichte für sich selbst sprechen. Die Schüler machen Selfies vor den Barren, die höchste Form der Anerkennung. Ein Junge will schon nach ein paar Sekun­den wieder gehen, Tusa stellt sich ihm entgegen. Der Junge versucht auszuweichen, aber Tusa macht die Bewegungen mit, irgendwann versteht der Junge und geht wieder zurück an seinen Platz an der Vitrine.

Gela gilt als der Mülleimer Italiens – und als Hochburg der Mafia. Schon Elfjährige wurden hier zu Killern ausgebildet. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über fünfzig Prozent. Tusa will die Menschen davon überzeugen, dass das nicht ihr Schicksal ist. Die Archäologie war schon immer eine politische Wissenschaft. Schon im sechsten Jahrhundert vor Christus ließ Nabonid, König von Babylon, einen alten Tempel wieder ausgraben. So wollte er demonstrieren, dass seine Ahnen schon vor Urzeiten geherrscht hatten und seine Macht unantastbar sei. Nabonid gilt als der erste Archäologe der Menschheit.

Tusa hat ein Programm, das gleichzeitig bescheidener und wahnsinniger ist. Tusa ist sicherlich ein eitler Mann, aber ihm geht es nicht um die eigene Größe, ihm geht es um die Größe Siziliens. Er sagt: »Ich will, dass die Menschen verstehen, dass nicht alles klein und schäbig sein muss.« Er weiß nicht genau, woher die vielen Arbeitsplätze kommen sollen. Würde sich Sizilien besser um seine Kulturschätze kümmern, kämen auch mehr Touristen, glaubt er. Aber es geht ihm auch um etwas Grundsätzlicheres. Die Männer, die die Oreichalkos- Barren nach Gela transportierten, liefen in einem Sturm auf Grund, glaubt Tusa. Niemand weiß, ob sie überlebt ­haben. Sicher ist, dass sie mutig waren und auf sich vertrauten. Tusa sagt: »Es wäre doch schön, wenn auch die jungen Sizilianer wieder an ihre Zukunft glauben würden.« Tusa ist natürlich klar, dass sich die Dinge nicht so schnell und nicht so einfach zum Besseren wenden ­lassen. Aber als Archäologe ist er es gewohnt, in ­langen Zeiträumen zu denken. Drei Minuten kann er unter Wasser bleiben, ohne Luft zu holen. Er weiß, wie wichtig ein langer Atem ist.

Fotos: Urban Zintel