Genau abgewogen

Ist es okay, im Supermarkt grundsätzlich nur Tomaten ohne Strunk zu kaufen, damit dieser beim Abwiegen nicht den Preis in die Höhe treibt?

»Ich ärgere mich, dass ich bei den sogenannten ›Rispentomaten‹ eigentlich Abfall zum Tomatenpreis kaufen soll. Daher suche ich im Supermarkt immer nach Tomaten, die schon vom Strunk abgefallen sind. Manchmal, wenn die Menge nicht reicht, löse ich ein oder zwei Tomaten selbst vom Strunk; so wiege und bezahle ich nur Tomaten, wie es ja auch ausgelobt wird. Richtig?« Jürgen R., München

Zu den interessanten Themen der modernen Moralphilosophie gehört die empirische Moralforschung, in der moralische Fragen mit Hilfe von empirischen, wissenschaftlichen Methoden bearbeitet werden. Da möchte ich in dieser Kolumne natürlich nicht hintanstehen. Deshalb habe ich Rispentomaten gekauft und gewogen. Das Ergebnis: Der Anteil der Strünke betrug zwischen 0,11 und 0,68 Prozent. Das scheint mir nicht wirklich viel.

Für interessanter halte ich allerdings die moralphilosophische Bewertung. Und da würde ich gerne wieder einmal die Tugendethik heranziehen. Der zufolge soll man sich verhalten wie ein tugendhafter Mensch. Das klingt ein wenig nach einem Zirkelschluss, ist es aber nicht, wie man hier sehen kann. Es geht nämlich um die Haltung. Es mag zulässig sein – oder zumindest nicht falsch –, sich bei Selbstbedienung die Tomaten und nicht die Strünke zu nehmen. Obwohl viel dafür spricht, dass der Preis für »Rispentomaten« die Rispen umfasst, also Strunk und Tomaten. Man könnte sich auch vorstellen, dass alle das täten, vermutlich könnte es sogar allgemeines Gesetz werden. Wenn auch mit der absehbaren Folge, dass die Preise dann um 0,11 bis 0,68 Prozent angehoben werden.

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Aber – das ist die entscheidende Frage – kann man jemanden als tugendhaft, also gut ansehen, der so auf seinen Vorteil achtet, dass er die letzten Bruchteile eines Prozents für sich herausholen will? Nicht im Hinblick auf das, was er konkret tut, also die einzelne Handlung, sondern wie er als Mensch ist? Tugend ist laut Aristoteles die Eigenschaft der Mitte zwischen zwei Extremen. Und etwas Extremeres, als in diesem Ausmaß auf seinen Vorteil zu achten, kann ich mir kaum vorstellen. Sollte das wirklich eine erstrebenswerte Haltung sein? Möchte man in einer Welt leben, in der alle Menschen so sind? Ich nicht.

Literatur:
Aristoteles, Nikomachische Ethik, insbesondere II. Buch Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und Ursula Wolf im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2006

Das Kapitel „Tugendethik“ in der auch sonst empfehlenswerten Einführung in die Ethik von Herlinde Pauer Studer, facultas WUV/UTB, Wien 2. Auflage 2010

Eine Sammlung von modernen Texten zu diesem Thema: Tugendethik, herausgegeben von Klaus Peter Rippe und Peter Schaber, Reclam Verlag, Suttgart 1998

Das Kapitel „Tugendethik und moralische Motivation“ einschließlich einer Einleitung in Texte zur Ethik, herausgegeben von Detlef Horster, Reclam Verlag, Stuttgart 2012

Illustration: Serge Bloch