Stierschutz

Statt Kühen besprang er Bullen. Das sah sein Besitzer nicht gern, Benjy sollte sterben. Doch dann kam Hilfe.

Hier steht er nun also, der so teuer Gerettete, und begreift von seinem Glück und all dem Tamtam um ihn nichts. Weiß nicht um seine weltweite, wenngleich kurzlebige Berühmtheit. Kennt nicht die Bedeutung von »schwul«. Weiß nicht einmal um seinen Namen. Er hat ja keine Ahnung, dass und wie knapp er dem Tod durch den Bolzenschuss in seinen breiten Schädel entkommen ist. Glück? Was heißt das schon. Für einen Charolais-Bullen. Glück, das ist vermutlich die Abwesenheit von Lärm, Hunger, Kälte, Schmerz. Und, über allem anderen, die Abwesenheit von Furcht. So einen Zustand nimmt er, wie er kommt. Weitgehend regungslos. Steht da, knietief im frischen Stroh. Senkt in bedächtigem Rhythmus die lockige, unversehrt gebliebene Stirn. Zieht mit rauer Zunge Büschel von Heu aus der Raufe zwischen die Zähne und mahlt sie zu verdaulichen Fetzen.

Ab und an hebt er den Kopf und sieht hinüber zu den Betrachtern jenseits des Gitters. Macht ein paar kurze Schritte auf die Absperrung zu. Im letzten Moment jeweils entscheidet er sich wieder anders, rücklings zurück zum Heu. In das Gefühl relativer Sicherheit, das ihm Futter bietet. Er ist hier noch nicht ganz zu Hause. Und vielleicht wird er es niemals sein. Vielleicht verdammen ihn die Erinnerungen seiner Reise von einer Farm im irischen County Mayo zu dieser Zuflucht im britischen Norfolk zu lebenslangem Misstrauen. Erinnerungen, die in sein Bewusstsein einschlagen wie Blitze; die Schatten, die vor seine Hufe fielen, die plötzliche Dunkelheit, Enge, das Schlagen von Metall auf Metall, das Schreien der Männer, Motorengrollen. Er fühlte die Welt unter seinen Hufen schwanken, als die Dunkelheit sich mit ihm in Bewegung setzte. Er fühlte sich ausgeliefert. Panisch. Jede Angst war ja gleich eine Todesangst. Für eine Kuh. Und einen schwulen oder auch nichtschwulen Bullen. Und nie wusste er, dass die Erinnerung nur Erinnerung war. Für ihn gab es keine Zeit als das Jetzt.

Meistgelesen diese Woche:

Im Laufstall des Tierasyls in Norfolk stehen nun tausend Kilogramm kopfloses Gefühl. Gründerin der Hillside Animal Sanctuary ist Wendy Valentine, 65, eine kleine, magere Frau mit dünner Stimme, tiefliegenden Augen und Stroh an den Kleidern und im ergrauenden Haar. Bevor Valentine Hillside eröffnete, hatte sie 1984 die Pferdestiftung »Redwings« gegründet. Mit 1500 Pferden, Ponys, Eseln und Maultieren in seiner Obhut ist Redwings das derzeit größte Asyl für Pferde und pferdeähnliche Tiere auf den britischen Inseln.

1995 verließ Valentine die Organisation und unterwarf sich der selbst gestellten Aufgabe, von nun an die oft katastrophalen Bedingungen in der Haltung und Schlachtung von Farmtieren öffentlich zu machen. Vernachlässigten und misshandelten Farmtieren ein Zuhause geben wollte sie auch, nebenher. Heute beherbergt Hillside 300 Kühe und Ochsen. 1200 Pferde. 800 Hühner, Enten und Gänse. 150 Schweine. 500 bis 600 Schafe und Ziegen, genau ist das nicht mehr zu sagen. Sechzig Hunde. Fünfzig Meerschweinchen. Kaninchen. Zwei Strauße. Und den möglicherweise schwulen Bullen.

John Watson, 46, ehemals Steuereintreiber für die britische Krone und seit fünf Jahren Spendeneintreiber für Hillside, sagt: »Andere Tierschutzorganisationen setzen sich ein Limit, sie nehmen 100 oder 200 Tiere auf. Dann erklären sie sich für ausgelastet.« Aber ist das nicht etwas Gutes? Wenn einer sein Limit erkennt und respektiert? Watson zögert. Sagt: »Doch, natürlich. Aber wir setzen uns kein Limit. Wir expandieren. Wir strapazieren Grenzen. Wir mieten immer und immer noch ein paar Hektar Weidefläche dazu.« Im vergangenen Jahr waren es 500 Hektar, in diesem werden es wenigstens 800 sein. Als die britische Schwulenorganisation TheGayUK Hillside bat, Benjy »ein sicheres Zuhause auf ewig« zu geben, sagten Valentine und Watson ohne Zögern zu.

»Das Erscheinungsbild des Bullen soll ausgesprochen männlich sein. Er soll so ausgestattet sein, dass er seine ausschlaggebenden reproduktiven Aufgaben erfüllen kann. Er sollte zwei große Hoden haben, und sein Körperbau muss ihm ermöglichen, sich frei in seiner Kuhherde zu bewegen.« So ist der Rassestandard der Züchtervereinigung formuliert, der Benjys Farmer in Mayo angehört. Und der Farmer sah den Standard in Benjy erfüllt. Er kaufte den Bullen als Kälbererzeuger, Fleischproduzenten, Geldvermehrer. Und Benjy bewegte sich unter den Kühen freier als jeder andere Bulle. Denn die Kühe waren ihm egal.

Er zeugte nicht ein einziges Kalb. Der Farmer ließ das Sperma des Bullen testen. Das Sperma war prächtig. Nur wusste Benjy offenbar nicht, oder weigerte sich, es fleischproduzierender- und geldmehrenderweise zur Verfügung zu stellen. Statt Kühen besprang er Bullen.

»Es ist lebenswichtig, dass wir genug Geld für die Versorgung unserer Tiere beschaffen. Die Alternative ist undenkbar.«

Der zu Hilfe gerufene Tierarzt wagte den Befund »schwul«. Möglicherweise augenzwinkernd, eine Art Herrenwitz. Auf jeden Fall trug der Farmer ihn weiter. Er kam einer rotwangigen Reporterin zu Ohren, kurz darauf stand in der Lokalzeitung zu lesen: »Schwuler Bulle soll zum Schlachter!« Sein Sperma von Menschenhand in die Kühe zu pumpen, war eine Lösung, die ihres Aufwands und der Kosten wegen keine Lösung war. Der Farmer hatte längst einen neuen Bullen.

Die Schlagzeile traf den irischen Tierschutzrecken John Carmody ins Herz. Er rief im Internet zur Rettung »Klein-Benjys« und zu Spenden für »den unschuldigen Jungen« auf: »Als schwuler Mann weiß ich zu gut, wie es ist, gleichgültig behandelt zu werden! Darum hoffe ich, wir können Benjy eine zweite Chance geben und auf die Probleme aufmerksam machen, denen alle Schwulen auf der Welt gegenüberstehen.« Die britische Schwulenorganisation TheGayUK stimmte ein: »Der arme Benjy soll geschlachtet werden, nur weil er schwul ist. Wo bleibt die Akzeptanz?«

Wendy Valentine jongliert mit schwindelerregenden Zahlen. Heubedarf pro Woche: 5000 Ballen, Kosten: 26 000 Euro. Tierarztkosten: durchschnittlich 6500 Euro pro Woche. Unterhaltskosten für Hillside insgesamt: 65 000 Euro. In jeder Woche. Das sind knapp 3,5 Millionen Euro im Jahr, die Valentine erbettelt. Von ihren Anhängern und solchen, in denen sie auch nur entfernt einen möglichen Anhänger wittert. Valentine ruft sie an, schreibt E-Mails, versendet Rundschreiben. Letzteren liegt je ein zusammenfaltbarer Pappstall bei, mit ringsum aufgedruckten Tieren und Geldschlitz im Dach: Der Empfänger möge ihn bitte im Haus aufstellen, mit entbehrlichen Münzen füllen und zurücksenden. Die Tiere danken! Valentine lässt Videos drehen und stellt sie auf Youtube. Filme von kahlen Hühnern, die auf wunden Füßen über Drahtgitter taumeln. Filme von dürren, hohläugigen Pferden und Kühen, die bis zu den Bäuchen in Schlamm und in Scheiße stehen. Und wenn es noch nicht die Bilder sind, die den Betrachter zu Tränen treiben, dann besorgt das spätestens die Musik.

»Wendy ist dreist«, sagt John Watson. »Wendy wagt sich so weit vor wie sonst keiner.« Sie ist grenzenlos. Beim Einsammeln von Tieren und beim Eintreiben von Geld. »Manchmal wird es den Anhängern zu viel. Kann man verstehen.« Andererseits, wie sollen sie den Tieren helfen, wenn nicht mit Hilfe aller? Und helfen müssen sie, dazu sehen sie keine Alternative. Der griechische Philosoph Plato verglich die Seele des Menschen mit einer Kutsche: Der menschliche Geist ist der Fahrer, der zwei Pferde lenkt, ein ruhiges, folgsames, das die Vernunft repräsentiert, und ein wildes, ungebärdiges, das für Triebe und Gefühle steht. Das Leben, schloss Plato, ist ein ständiger Kampf, letztere unter Kontrolle zu halten. Anders riskiert man, dass sie einen über das Ziel hinaus ins Verderben reißen. Bisweilen nimmt Hillside Tiere von Asylen auf, die ihre Kräfte und finanziellen Mittel überschätzten. Was, wenn Hillside selbst eines Tages den Kampf mit den Zahlen verliert? »Es ist lebenswichtig, dass wir genug Geld für die Versorgung unserer Tiere beschaffen«, sagt Watson. »Die Alternative ist undenkbar.«

Für Benjys Rettung erbettelte Hillside zusammen mit TheGayUK umgerechnet 6000 Euro. Innerhalb von 28 Tagen. Sam Simon, der inzwischen an Krebs verstorbene Autor der Comicserie Die Simpsons, gab noch einmal so viel. Rund 3000 Euro kostete Benjys Transport. Wie viel steckte der irische Farmer ein? Watson und Valentine wollen es nicht wissen. Ein Schlachter in Irland, wo jeder alles über jeden wissen will, brüllte: »5000 Euro hat dieser Hund für das Vieh bekommen! Für eine nutzlose Kreatur! 800 hätte dem ein Metzger gezahlt, mit Glück.«

Es tut gut, den einst zum Tode Verurteilten hier im frischen Stroh waten zu sehen. Ist das ein Wohlgefühl, das sich vom Bullen auf den Betrachter überträgt? Oder ist Benjy zu diesem Grad des Fühlens nicht fähig? Fühlt sich der Mensch, der um seine Geschichte weiß, stellvertretend wohl für ihn? Neurologen der Emory Universität in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia fanden heraus, dass in den Gehirnen von Testpersonen, die anderen halfen, dieselben Areale aktiviert wurden, die aktiv waren, wenn die Personen eine Belohnung erhielten oder generell Behagen empfanden.

Vielleicht ist es das, was den Menschen in Hillside die Kraft gibt, immer weiterzumachen. Oder ist es umgekehrt, erschöpft sich ihr Hochgefühl bald nach erfolgter Rettung, und ist darum das Retten von immer neuen, immer mehr Tieren ein Muss? Ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Geretteten das geschenkte Leben hinnehmen, ist ihr Mangel an Dankbarkeit für ihre Retter enttäuschend? Watson lacht, als seien das blödsinnige Fragen.

In irischen Schlachthäusern sterben jährlich 1,55 Millionen Rinder allein für den menschlichen Verzehr. Das britische Königreich tötet in jedem Jahr 2,6 Millionen Rinder, Deutschland 3,2 Millionen. In den drei Ländern zusammen werden pro Tag mehr als 20 000 Kühe geschlachtet. Die meisten von ihnen, davon darf man ausgehen, sind heterosexuell. Und hier steht und mampft mit entmutigender Selbstverständlichkeit dieser eine Gerettete. Ist das Erfolg? Ist es vernünftig? Am Ende hat dieser Kerl da im Stroh, ohne Gestern, ohne Morgen, ohne Schuld, und über die einfachsten aller Bedürfnisse hinaus anspruchslos, vor allen anderen das Glück begriffen.

(Nachtrag: Wie die BBC am 30. Mai berichtete, hat Benjy vor kurzem nun doch Kühe bestiegen. Die Gründerin der Hillside Animal Sanctuary, Wendy Valentine, sagt dazu: »Wir wissen nicht, ob er schwul ist oder nicht. Aber die Tatsache, dass jemand dachte, er sei es, hat ihm das Leben gerettet und ihn vor der Schlachtbank bewahrt.«) 

Fotos: Philipp Ebeling