»Ich hätte gerufen: Erschieß mich zuerst!«

Anders Behring Breivik tötete 77 Menschen. Jens Breivik spricht nun über die Frage, was seinen Sohn zu den Taten geführt haben kann – und warum er ihn wohl nie im Gefängnis besuchen wird.

Manche Medien warfen Jens Breivik vor, sich vor ihnen zu verstecken, weil er in den Tagen nach dem 22. Juli 2011 sein Haus nicht verließ, ja auf Händen und Füßen darin umherkroch, damit ihn die Reporter auch durch die Fenster nicht sahen. Die Welt wollte wissen: Wie ist es, der Vater von Anders Behring Breivik zu sein, des Mörders von 77 Menschen? Nur, was sollte Jens Breivik dazu sagen? Er gab dann ein paar Interviews, fühlte sich aber oft missverstanden.

Dass sein Haus sehr abgeschieden liegt, hat aber nichts mit den Reportern zu tun, dort lebte er schon länger. Auf der Fahrt zu seiner Adresse in Südfrankreich, eine Autostunde von Toulouse entfernt, passiert man etliche sandige Kleinstdörfer. Von Breiviks Wohnzimmer ist der Blick weit, seine Frau und die vier Katzen halten sich im Hintergrund.

Jens Breivik ist vor wenigen Wochen achtzig Jahre alt geworden. Ein höflicher, verbindlicher Mann, sein Berufsleben verbrachte er als Diplomat des Königreichs Norwegen. 1979 kam Anders Behring Breivik zur Welt, der im Alter von 32 Jahren eine Bombe in Oslo zündete und auf einem Nachwuchstreffen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei mordete, um eine angebliche Überfremdung Norwegens zu bekämpfen. Die Frage ist geblieben: Wie ist es, der Vater dieses Mannes zu sein?

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SZ-Magazin: Wie bekamen Sie mit, was Ihr Sohn am 22. Juli 2011 tat?
Jens Breivik: Wir erhielten an jenem Freitag einen Anruf von Freunden in Norwegen. Sie sagten, es sei etwas in Oslo passiert, eine Explosion. Wir haben dann im Internet gelesen, es habe einen Terroranschlag im Regierungsviertel gegeben. Man wusste aber nicht, wer dahinterstand – Islamisten vielleicht? Später bekamen wir mit, was auf Utøya geschehen war, dass es viele Tote gegeben hatte. Es war aber immer noch unklar, wer die Taten begangen hatte, niemand wusste, dass es dieselbe Person war. An dem Freitag bekamen wir nicht mehr heraus, auch nicht im Fernsehen – wir empfangen hier englische, französische und amerikanische Sender. Samstagfrüh ging ich wieder ins Internet – und sah gleich in Großbuchstaben: ANDERS BEHRING BREIVIK. Ich dachte: Was hat er denn damit zu tun? Es gibt doch bestimmt nur einen in Norwegen, der so heißt? Dann las ich, dass er derjenige war, der 77 Menschen getötet hatte. Das war ein Schock. Mein Sohn? Ich konnte es nicht fassen, ich verstand gar nichts.

Welches Detail seiner Taten hat Sie am meisten entsetzt?
Die 69 Jugendlichen auf Utøya kaltblütig umzubringen, von Angesicht zu Angesicht, ist für mich einfach unvorstellbar. Sie flehten ihn an, weinten – und er schoss sie nieder. Ich verstehe nicht, dass ein Mensch so etwas Brutales, Rücksichtsloses, Furchtbares tun kann.

Stellen Sie sich das Böse in Anders eher vor wie ein Virus, das ihn befallen hat? Oder als das Ergebnis einer langen Entwicklung?
Niemand wurde daraus schlau. Im Prozess haben ihn mehrere Psychiater begutachtet.

Im ersten Gutachten ist von paranoider Schizophrenie die Rede, im zweiten von einer narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsstörung. Ein dritter Psychiater stellte Asperger, Tourette und eine narzisstische Persönlichkeitsstörung fest. Eine wilde Mischung.
Manche meinten, er sei zurechnungsfähig, andere meinten, er sei es nicht. Natürlich muss er auf irgendeine Art verrückt sein, es läuft ja niemand herum und erschießt 69 Menschen. Er wurde schließlich für zurechnungsfähig erklärt, aber die Frage ist eigentlich noch offen.

Das Urteil lautete: 21 Jahre plus anschließende Sicherheitsverwahrung.

Er muss damit leben, für den Rest seiner Tage eingesperrt zu sein.

Wie haben Sie Anders früher wahrgenommen?
Da deutete nichts darauf hin, dass er so etwas machen könnte.

Hat er nie aggressiv gewirkt?
Nein, er äußerte auch nie extreme politische Meinungen. Er diskutierte gar nicht über Politik. Außer als es 1994 darum ging, ob Norwegen EU-Mitglied werden sollte. Das interessierte ihn. Er war dagegen. Ich war dafür.

Seine Haltung ist da in Norwegen aber keine radikale. Die Umfragen pro und kontra EU standen in der Regel bei ungefähr 50:50.
Ja, und sonst hatte er keine politischen Ansichten. Die müssen etwas später gekommen sein, er wurde dann Mitglied der Fortschrittspartei.

In dieser rechtspopulistischen Partei war er von 1997 bis 2007 Mitglied, zwischenzeitlich war er Vizechef von deren Jugendorganisation in Oslo-West. Später sagte er, die Partei sei ihm am Ende zu liberal gewesen. Kann man sagen, dass er sich zu Ihrem Gegenteil entwickelt hat? Sie waren als Diplomat viel im Ausland, Sie haben eine offene Haltung anderen Kulturen gegenüber.
Ja, ich habe in Europa und Asien gearbeitet, in Afghanistan, in Pakistan, drei Jahre im Iran. Ich habe Freunde in muslimischen Ländern. Dass Anders so etwas getan haben sollte, wurde mir immer unverständlicher. Ich dachte, dass er unter Druck gesetzt worden war, vielleicht als Mitglied einer terroristischen Gruppe, aber es stellte sich heraus, dass er ein einsamer Wolf war, der allein dahinterstand, ohne Helfer. Es war schwer, damit zu leben, Anders' Vater zu sein.

Empfanden Sie Scham? Das Gefühl, getäuscht worden zu sein?

Scham, ja, Verständnislosigkeit, viele seltsame Gefühle.

Sie haben ein Buch geschrieben. Übersetzt trägt es den Titel: »Meine Schuld?« Mit Fragezeichen. Es steht keine Antwort darin. Haben Sie nie eine gefunden?

Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich habe ja auch viele Briefe bekommen. In einem stand: Wenn mein Sohn auf Utøya getötet worden wäre, hätte ich Ihnen nicht die Schuld daran gegeben.

Wurden Sie auch mal bedroht?

Einmal, am Telefon. Da war eine Serie von Schüssen zu hören, sonst nichts, drei-, viermal. Das war genau ein Jahr nach dem 22. Juli.

»Ich habe versucht, mich so gut es ging um ihn zu kümmern«

Waren Sie ein guter Vater?
Ich habe versucht, mich so gut es ging um ihn zu kümmern. Anders wurde im Februar 1979 geboren, ich wohnte dann aber mit ihm und seiner Mutter Wenche nur noch ein paar Monate zusammen. Wir trennten uns, und ich ging in die norwegischen Botschaften in Manila und London. Seine Mutter verwehrte mir einen ordentlichen Kontakt zu Anders. Im Herbst 1983 zog ich nach Paris, da war er vier. In dem Jahr durfte ich ihn auf einen Hüttenurlaub mitnehmen, und das war der Anfang eines normalen Verhältnisses. Er war dann zweimal im Jahr in Paris, ich besuchte ihn zusätzlich jeden Sommer in Norwegen. Als Anders elf war, 1990, zog ich zurück nach Oslo, und es wurde mehr Kontakt, wir wohnten auch nicht weit auseinander.

Und die Schuldfrage?
Die kann man von mehreren Seiten betrachten. Hätte ich mehr Umgang mit ihm gehabt, hätte er sich vielleicht anders entwickelt. Nach dem Hüttenurlaub 1983 bekam ich einen Anruf von einer Nachbarin seiner Mutter: Es geschähen seltsame Dinge in dieser Wohnung.

Sie sprach von Streit, lauten Stimmen, viel Männerbesuch. Und davon, dass Anders und seine sechs Jahre ältere Halbschwester viel sich selbst überlassen seien. Dass Wenche nachts oft nicht zu Hause sei.

Und dann kam ein Brief von einem Psychologen des Jugendamtes.

Wenche hatte sich und die Kinder für mehr als drei Wochen stationär in die Kinder- und Jugendpsychiatrie begeben. Sie beschrieb Anders den Ärzten gegenüber als trotzig, anhänglich, hyperaktiv und aggressiv. Haben Sie ihn auch so erlebt?

Nein! Eher als passiv und lethargisch.

Die Ärzte empfahlen, Anders seiner Mutter zu entziehen. Der Vierjährige habe Kontaktprobleme und Schwierigkeiten, sich emotional auszudrücken, etwa durch Weinen. Weinte er nicht?
Nein, nie.

Nicht einmal, wenn er hingefallen war?
Doch. Aber nicht einfach so. Nach diesem Brief versuchte ich, mir das Sorgerecht zu erstreiten, aber ich verlor den Prozess. Ich glaube, wenn ich gewonnen und Anders mit nach Paris genommen hätte, wäre er ein anderer geworden.

Sie beschreiben Wenche im Buch als kühl.
Absolut. Sie war nicht fürsorglich. Als er ein Baby war, tat sie nur, was getan werden musste, wechselte die Windeln, badete ihn.

Aber sie nahm ihn nicht in den Arm und sagte: Ich hab dich lieb?
Genau. Auch in jenem Brief der Psychiater stand, dass ihr Verhalten ihm gegenüber merkwürdig war, abweisend. Zu ihrer Tochter war sie viel netter.

Glauben Sie, Wenche wollte Anders nie?
Doch, sie wollte ein Kind. Sie wollte aber eigentlich nicht verheiratet sein, sie wollte mit ihm und ihrer Tochter allein klarkommen. Vor unserer Trennung sagte sie mal, er sei ihr Kind. Er war doch unser Kind!

Hatte sie Angst, er könnte Sie mehr lieben?
Ja, das glaube ich. Erst nachdem sie den Sorgerechtsstreit gewonnen hatte, schien sie entspannter zu werden und förderte den Kontakt zwischen uns wieder.

Verachten Sie seine Mutter?

Ich finde, sie trägt die Verantwortung dafür, dass Anders sich negativ entwickelt hat. Anders’ Ideologie fußt auf der Angst vor einer Islamisierung Europas – und auf einem sehr negativen Frauenbild, und das liegt sicher am schwierigen Verhältnis zu Wenche. Sie kann nichts dafür, dass er Terrorist geworden ist. Aber zumindest dafür, dass er ein so verschlossener Mensch wurde.

Sind Sie auch verschlossen?
Ich bin kein Gefühlsmensch. Vielleicht habe ich ihm das vererbt. Aber ich umgebe mich gern mit Menschen und spreche über Politik, Wirtschaft oder was auch immer. So etwas war mit seiner Mutter nicht möglich. Sie tut mir leid. Mit den Jahren habe ich verstanden, dass auch sie ein einsamer Wolf war. Sie hatte keine Freunde. Und eine sehr problematische Kindheit bei ihrer Mutter, die krank war und die Schuld daran ihrer Tochter gab.

Wenches Mutter litt an Polio, sie war teilweise gelähmt. Das hat Wenche aber erst denen erzählt, die nach Anders' Taten Bücher über sie schrieben. In Ihrem eigenen Buch schreiben Sie, alles, was Sie in Ihrer Ehe von Ihrer Frau über ihre Herkunft gehört hätten, sei gewesen, dass Wenche mit 17 von zu Hause ausgezogen war. Wenche starb während des Prozesses gegen Anders an Krebs. Was für ein Mensch war sie?
Sie hatte zwei Gesichter. Als ich sie kennenlernte, war sie sehr schön gekleidet, korrekt, anständig. Aber das war eher eine Fassade. Wir heirateten 1978 in der norwegischen Botschaft in Bonn. Ich dachte, wir bleiben dann noch eine Weile, die Gegend hat ja eine tolle Natur zu bieten. Aber sie hatte keine Lust, und am nächsten Tag packte sie den Koffer und reiste ab. Ich blieb dann noch eine Woche allein in der Gegend.

War sie launisch?
Es schlug schnell um. Mal war sie unheimlich nett, dann im nächsten Moment abweisend und streng, ruhig, schweigsam. Fern.

Haben Sie Wenche in Anders wiedererkannt?
Beide waren verschlossen und erzählten mir nur, was ihnen passend erschien.

Seit Anders elf war, hatten Sie guten Kontakt, sagten Sie. Wie oft sahen Sie sich in den Jahren seiner Pubertät?
Oft mehrmals pro Woche. Er übernachtete auch mal von Samstag auf Sonntag. Er kam mit dem Fahrrad, die Fahrt war ja nicht weit. Ich habe ihn auch immer gefragt, wie es mit der Schule lief. Er sagte dann nur: Alles gut. Mehr erzählte er nicht. Er bekam wohl etwas Nachhilfe, war aber an der Schule nicht besonders interessiert. Er erzählte auch nichts von Freunden oder einer Freundin. Einmal sagte er, er denke nicht daran, zu heiraten und Kinder zu bekommen.

Worüber redeten Sie denn? Übers Wetter?

Ja, solche Dinge.

Was tat er, wenn er bei Ihnen war?
Essen, fernsehen, spielen. Kartenspiele, Monopoly.

War er beim Spielen ehrgeizig?
Kaum. Ab und zu verschwand er für ein paar Stunden, um sich mit Freunden zu treffen, und wenn ich ihn dann fragte, was er so gemacht habe, kam von ihm nichts. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er in ein ungünstiges Milieu geraten war, eine Sprayerbande. Er war 15, als die Polizei mich anrief, dass Anders wegen Graffiti aufgegriffen worden war. Ich sagte ihm: Damit musst du aufhören, das zerstört das Eigentum anderer Leute! Das ist Kunst, sagte er. Damit musst du aufhören, wiederholte ich. Schließlich sagte er: Ja, okay – machte aber weiter.

Tun so was nicht viele Jugendliche?
Ich glaube nicht, dass das ein so allgemeines Phänomen ist. Er wurde auch ein bekannter Sprayer und hatte in der Szene, glaube ich, eine gewisse Position. Das war schon semiprofessionell. Er beging anscheinend auch kleine Diebstähle. Aber das versteckte er vor mir, wie wohl so vieles.

Hatte er Angst vor Ihnen?
Nein, den Eindruck hatte ich jedenfalls nicht.

»Ich war zu passiv.«


Wie hätten Sie ein besserer Vater sein können?

Indem ich die ersten Jahre nicht so abwesend gewesen wäre. Allerdings ist Anders damit ja nicht allein. Die Welt ist voll von Kindern, die von nur einem Elternteil erzogen werden. Seine Kindheit mag traurig gewesen sein, aber keine Katastrophe.

Wie intelligent ist Anders?
Er muss eine Art von Intelligenz haben, um solche Taten zu begehen. Darauf hat er sich ja mehrere Jahre vorbereitet, mit Reisen und Besorgungen und genauer Planung. Ich hatte ihn als mittelmäßig intelligent erlebt.

Was mochten Sie an ihm?
Tja …

Sie haben jetzt lange überlegt. Irgendetwas?
Er war schon ein feiner Junge mit guten Manieren, nicht aggressiv oder so was. Aber er stellte kaum Fragen, er las nicht, er war nicht neugierig, so gar nicht intellektuell. Das fand ich schade.

Bei Trivial Pursuit hatte er keine Chance?

Nein, das war zu schwierig für ihn, das mochte er nicht.

Waren Sie je stolz auf ihn?
Nein, das kann ich nicht sagen. Er erzählte mir ja auch nie von gewonnenen Wettbewerben oder dass er an irgendwas teilgenommen hätte.

In einem Polizeiverhör sagte Anders, Sie seien in seiner Kindheit und Jugend die wichtigste Person in seinem Leben gewesen. Sie beschreiben Ihr Verhältnis nun als oberflächlich. Wie passt das zusammen?
Ach, es ging ihm schon gut bei mir zu Hause. Und andere männliche Bezugspersonen hatte er nicht.

Hat die Aussage Sie überrascht?
Nein, eigentlich nicht.

Auch nicht, dass Sie demnach wichtiger waren als die Mutter?
Nein, zu ihr hatte er ja ein schwieriges Verhältnis.

Im Prozess sagte Anders, es wäre besser gewesen, bei Ihnen aufzuwachsen. Er hätte versuchen können, zu Ihnen zu ziehen. Stattdessen brach Ihr Kontakt ab, als er 16 war.
Seine Mutter hat später behauptet, ich hätte ihn abgewiesen. Das stimmt nicht, er war immer willkommen. In Wahrheit hatte Wenche ihm damals erklärt: Du musst den Behörden sagen, dass du in letzter Zeit sehr wenig Kontakt zum Vater hattest, dann kriege ich mehr Unterhalt. Die Logik ist: Wenn der Sohn kaum Kontakt zum Vater hat, trägt die Mutter ökonomisch und sozial mehr Verantwortung. Und Anders machte, was sie gesagt hatte. Vielleicht hatte er dadurch ein schlechtes Gewissen, jedenfalls entfernte er sich dann tatsächlich von mir.

Wie sehr haben Sie versucht, den Kontakt zu halten?
Ich fand, der Wunsch danach müsse von ihm kommen. Das war aber vielleicht ein Fehler.

Sie riefen ihn nicht an?
Nein, das hätte ich tun sollen. Aber er hatte mal gesagt, er wolle zum Schüleraustausch in die USA. Als ich ab Ende 1995 nichts mehr hörte, dachte ich, da wäre er hingeflogen.

Im Buch beschreiben Sie, wie er kurz vor dem Kontaktabbruch zu Ihnen kam, um sich für seine Konfirmation ein Sakko und ein Hemd zu leihen. Das kam überraschend für Sie.
Als er die Sachen später zurückbrachte, wartete ich darauf, dass er erzählen würde, was geschehen war. Ich fragte ihn auch, bekam aber keine klare Antwort. Ich weiß also nicht, ob es je ein solches Fest gegeben hat. Ob er die Sachen überhaupt getragen hat.

Und Sie wollten ihn in Ruhe lassen.
Ja.

Es folgten elf Jahre Funkstille. Nicht mal eine Karte zum Geburtstag?
Nein, nichts. Ich war zu passiv.

Wie erklären Sie sich das?
Es kam einfach so. Ich dachte nicht so viel darüber nach.

Hatten Sie kein so starkes Bedürfnis nach Kontakt?
Nein, wahrscheinlich hatte ich das nicht. Ich hätte wohl anders denken sollen.

Weil es Ihre Pflicht war?

Ja.

Nach elf Jahren, Anders war 27, rief er Sie an und erzählte von seinen angeblichen Erfolgen als Softwareunternehmer mit viel Geld und zwei Angestellten.

Ja, das hat er gesagt.

Wahrscheinlich, um Anerkennung von Ihnen zu bekommen. Am Ende des Telefonats legte er auf – und Sie fragten ihn nicht nach seiner Telefonnummer.

Nein, mehr Kontakt wurde nicht daraus.

Das ist schwer zu verstehen.
Ja, ich war etwas zu passiv. Es war ein wichtiges und gutes Gespräch, weil ich den Eindruck bekam, dass er erfolgreich war und seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hatte. Was er erzählte, war ja nicht wahr, wie sich später herausstellte. In Wahrheit hatte er mit gefälschten Zeugnissen gehandelt, und das Geschäft betrieb er da auch schon nicht mehr. Dass er nicht noch mal anrief, deutete ich so, dass er mir mitteilen wollte, dass es ihm gut ging, aber keinen weiteren Kontakt wollte.

Haben Sie Erinnerungsgegenstände von ihm im Haus?
Ein paar Bilder von Anders, aber die habe ich erst nach den Taten bekommen. Das Fotoalbum, das ich vorher hatte, ist irgendwohin verschwunden.

Wünschten Sie, Anders wäre nie geboren?
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Er wurde geboren, und wir wussten nicht, wie er sich entwickeln würde. Ich muss für den Rest meines Lebens damit klarkommen, dass ich der Vater eines Terroristen bin.

Können Sie ihm verzeihen?

Nein. Würde er Reue zeigen, würde er einsehen, dass das, was er getan hat, fürchterlich falsch war – dann wäre das etwas anderes. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Das Wachpersonal in den zwei Gefängnissen, zwischen denen er hin- und herverlegt wird, hat sich über Anders beklagt: Er sei mal sehr freundlich, dann plötzlich nörgelig. Er beschwere sich darüber, dass die Playstation veraltet sei, der Kaffee zu kalt, die Butter zu knapp dosiert.
Er will Aufmerksamkeit, und ihm ist wohl langweilig. Außerdem findet er ja, dass er das Richtige getan hat und deswegen eine bessere Behandlung verdient.

Was hätten Sie getan, um Anders von seinen Taten abzuhalten?
Alles Mögliche. Ich hätte mich vor ihn gestellt und gerufen: Erschieß mich zuerst!

Hätten Sie ihn auch getötet?
Nein. Ich hätte ihn der Polizei übergeben wollen.

Wäre irgendetwas besser, wenn er auch sich selbst erschossen hätte?
Damit habe ich mich sehr beschäftigt. In den ersten Tagen nach seinen Taten war ich sehr wütend, und ich habe damals gesagt, die letzte Kugel hätte er sich selbst geben sollen. Und man hätte sich diesen aufwühlenden Prozess erspart. Aber ich sehe das jetzt anders. Wir haben in Norwegen einen Rechtsstaat. Er hat sein Urteil bekommen.

In einem Verhör sagte er, es sei niemandem zu wünschen, so etwas durchzumachen: einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. War das Koketterie?
Ich glaube nicht, dass es die Wahrheit ist. Er wusste, was er tat, und hat es im Nachhinein auch als notwendig bezeichnet. Er wollte eine Sensation produzieren. Das hat er geschafft.

Sein »Manifest«, mit dem Anders seine Taten begründet, umfasst 1500 Seiten. Wie viele davon haben Sie gelesen?
Nur den letzten Teil, den sogenannten Tagebuch-Teil, da berichtet er auf ein paar hundert Seiten, was er in den vorangegangenen Jahren getan hat. Den Rest habe ich überflogen.

Im Oktober 2013 riefen Sie im Gefängnis an, um Ihren Sohn wissen zu lassen, dass Sie ihn treffen möchten. Monate später schrieb er Ihnen einen langen Brief. Darin steht: »Du sollst wissen, dass ich niemals etwas an dir auszusetzen hatte.« Ist das ein Trost?
Auf jeden Fall erkennt er, dass ich als Vater mein Bestes gegeben habe.

Er schrieb auch: »Wir wissen beide, dass du immer ein guter Vater gewesen bist.« Doch im selben Brief macht er Ihnen klar: Solange du dich nicht zum Faschismus bekennst, wird es kein Treffen zwischen uns geben.

Ja, er bezeichnet mich im Brief als feige. Das kann man nicht ernst nehmen. Er weiß ja genau, dass ich nie Faschist werde.

Haben Sie erwogen, zum Schein darauf einzugehen?
Nein, das wäre nicht richtig. Wenn er Kontakt zu mir will, muss er akzeptieren, dass ich völlig anderer Meinung bin.

Wieso stellt er überhaupt eine Bedingung an ein Treffen?
Das verstehe ich auch nicht. Es ist dumm, sinnlos, nicht normal.

In Ihrem Antwortbrief schrieben Sie ihm, dass Sie seine Bedingung ablehnen. Und das war’s. Sie haben seine Stimme seit neun Jahren nicht gehört und ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Vermissen Sie Anders?

Ich würde ihn vermissen, wenn er sich vernünftig verhalten hätte. Aber so wie die Lage ist, kann ich ihn nicht vermissen.

Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten an einen beliebigen Zeitpunkt seit Anders’ Geburt: Wohin?
Nach 1983. Ich würde alles unternehmen, damit er kein Terrorist wird, und sofort von Paris nach Oslo zurückziehen, in seine Nähe.

Fotos: Stephanie Füssenich