Kleinkapital

Weltweit öffnen »KidZania«-Themenparks. Dort sollen Kinder lernen, wie schön das Leben der Erwachsenen ist. In Wahrheit lernen Erwachsene, wie bedrückend Konsum sein kann.

»Ist das der Kapitismus?«, fragt mein Sohn. Er ist vier Jahre alt. Wir haben gerade die Welt von KidZania betreten, im Untergeschoss eines Einkaufszentrums am Rand von Istanbul. An die Decke wurde blauer Himmel gemalt, aber kein Tageslicht stört die Künstlichkeit der Miniaturstraße, über die gerade ein kleines Feuerwehrauto fährt, gesteuert von einem Betreuer und besetzt von einer Gruppe Kinder in Uniformen. Am Horizont leuchtet das »Burger King«-Logo. Fernes Geschrei wird von einer Fanfarenmelodie übertönt, die sich, das ahnen wir noch nicht, in den kommenden Stunden immer und immer wieder aus dem Off wiederholen soll.

Tätätätätäätäätäätätätääätätäääää.
Die KidZania-Hymne.

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»Das ist der Kinder-Kapitalismus«, sage ich. »Ach so«, sagt mein Sohn, als habe er mehr erwartet von dieser Sache mit dem komplizierten Namen, und wird von einer KidZania-Mitarbeiterin daran erinnert, dass er zur Bank muss. Alle Mitarbeiter beherrschen neben Türkisch auch die globale KidZania-Sprache – »Kai!« = »Hi!«, »Zanks« = »Danke«, »Z-U« = »Tschüss« – und Englisch, so wie mein Sohn dank seiner amerikanischstämmigen Mutter. Fünfzig kidZos, so heißt die Währung, erhält jedes Kind zu Beginn des KidZania-Ausflugs.

Ich habe meinen Sohn nicht absichtlich mit dem »Kapitalismus« verwirrt. Er hatte vor unserem Abflug in die Türkei zu Hause mitgehört, wie ich meiner Frau von KidZania berichtete. »Im Grunde werden die Kinder dort für den Kapitalismus getrimmt«, sagte ich. Das ist keine Unterstellung, sondern das Konzept, das ein KidZania-Manager so beschreibt: »Bei uns können Marken mit Kindern arbeiten und so loyale Kunden der Zukunft schaffen.«

»Was muss ich machen im … Kapitismus?«, fragte mein Sohn vor der Reise.
»Nur spielen«, antwortete ich.
Deswegen hielt ich diesen Testbesuch schließlich für unbedenklich. Es blieb doch trotz allem: ein Spiel.

Ich hatte ja keine Vorstellung. Gegründet wurde KidZania – was, panscht man Latein, Englisch und Deutsch, »Land der coolen Kinder« bedeutet – vom mexikanischen Unternehmer Xavier López Ancona. 1999 öffnete das erste KidZania in Santa Fe. Die schöne Idee: In einer eigens für sie errichteten Stadt schlüpfen Kinder zwischen vier und zwölf Jahren in die Rollen des Erwachsenendaseins, probieren sich als Koch, Arzt, Banker, Wissenschaftler, Verkäufer und so weiter, und lernen spielerisch die Zusammenhänge, Wunder und Mühen des modernen Erwachsenenalltags kennen. Sie verdienen mit ihrer Arbeit Geld, das sie zum Beispiel für Essen, Süßigkeiten, das Fahren von Elektroautos oder beim KidZania-Friseur wieder ausgeben – oder auf ihrem Konto bei der KidZania-Bank für den nächsten Besuch sparen.

Heute gibt es 18 KidZania-Filialen in 15 Ländern. Istanbul, 10 000 Quadratmeter groß, 350 Angestellte, mehr als 500 000 Gäste pro Jahr, ist eine der neuesten. Auch nach Deutschland will KidZania möglichst bald expandieren. In diesem Sommer öffnet zunächst KidZania London, die Baukosten der Mini-Mega-City an der Themse: dreißig Millionen Euro.

Womit man wieder beim Kapitalismus beziehungsweise dem Geschäftsmodell ist, das Xavier López Anconas schöne Idee zu einer äußerst lukrativen gemacht hat. Seine Vergnügungsparks finanzieren sich nicht allein durch die rund 15 bis 45 Euro Eintritt je Besucher – sondern zum Großteil durch Sponsorengelder. Die KidZania-Städte bieten Unternehmen Werbe- und Ladenflächen. Sie sehen überall auf der Welt gleich aus, unterscheiden sich aber durch die vertretenen Firmen, 31 verschiedene sind es in Istanbul. Von Coca-Cola über Migros bis zu einem türkischen Hersteller für Alarmanlagen.

Wie auch in den KidZania-Städten Tokio, Dubai oder im saudi-arabischen Dschidda ist das Highlight in Istanbul die echte Front eines Flugzeugs, in diesem Fall die einer von Turkish Airlines bereitgestellten Boeing 737-205, die über dem Eingang thront, als reiste man bei Betreten von KidZania in ein anderes Land. Nach der Übung an einem Flugsimulator dürfen die älteren Kinder im Cockpit Pilot spielen.

Mein Sohn interessiert sich mehr für Autos. Marken spielen in seinem Leben bislang nur auf der Straße eine Rolle, er erkennt nahezu jeden Autohersteller am Logo. Nachdem ihm die Papierscheine, die er nicht mehr aus der Hand geben will, in der Bank mit den Worten »Hab einen produktiven Tag!« übergeben wurden, steht er vor der hell erleuchteten Tankstelle und fragt: »Warum gibt es keine BMWs und keine VWs?« Es wäre vielleicht nötig, ihm den Unterschied zwischen einer freien Marktwirtschaft und einer Art chinesischem Staatskapitalismus zu erklären, denn diesem Modell kommt KidZania näher. Hier gibt es nur Ford Fiestas aus Plastik, weil für diese Filiale nur Ford einen Vertrag mit dem Diktator (so hat sich Xavier López Ancona einmal selbst genannt) geschlossen hat. Aber da erklärt eine KidZania-Dame meinem Sohn bereits, dass er, um einen Ford zu fahren, zunächst das Büro der einzigen Autovermietung vor Ort (Avis) aufsuchen müsse.

Das ist selbst ihm zu lästig.
Er entscheidet sich stattdessen, Polizist zu werden. Sechs Kinder warten schon vor der Polizeiwache. Der Ausbilder reicht jedem eine schwarze Jacke und eine Mütze. Dann wird ein Zeichentrickfilm abgespielt, in dem zwei süße Maskottchen auf Türkisch und Englisch erzählen, dass die Polizei die wichtigste Stütze der Gesellschaft sei und alle Kinder zu guten Bürgern heranwachsen müssten.

Als die Filmvorführung beendet ist, schauen die Nachwuchspolizisten etwas verängstigt auf die düstere Gefängniszelle, deren Funktion unklar bleibt. Sodann schickt der Ausbilder die Gruppe in ein Juweliergeschäft, in dem die Kinder irgendeinen Gegenstand finden sollen, dann ist der sogenannte Fall auch schon gelöst. Nach nicht mal zwanzig Minuten müssen alle ihre Verkleidung wieder ablegen. Der Ausbilder drückt meinem Sohn beim Verlassen der Polizeiwache für seinen Staatsdienst ein Bündel kidZos in die Hand.

Gerade, wenn das Rollenspiel beginnt, gerade, wenn die Kinder sich untereinander kennengelernt haben und ihnen Ideen kommen, ist der Spaß bereits vorbei.

Mein Sohn möchte anschließend im Supermarkt arbeiten. Als Vierjähriger darf er noch nicht an der Kasse sitzen, sondern muss Plastikobst und Konserven in die Regale einordnen. Nach 15 Minuten ist auch diese Aufgabe erledigt, alle Kinder sollen den Supermarkt verlassen und Platz für die nächste Gruppe machen, die bereits wartet. Man zahlt ihnen wiederum einige kidZos aus, die mein Sohn vergeblich versucht, in seine inzwischen vollen Hosentaschen zu stopfen.

So geht das weiter. In der Säuglingsstation des privatisierten Krankenhauses, an der Tankstelle, in der Ford-Werkstatt, auf der Feuerwache: Gerade, wenn das Rollenspiel beginnt, gerade, wenn die Kinder sich untereinander kennengelernt haben und ihnen Ideen kommen, was man in diesen sichtbar teuren, aufwendigen, detailgetreuen Kulissen alles anstellen und sich alles vorstellen könnte, ist der Spaß bereits vorbei.

Es passiert, das versteht man schnell, in KidZania nichts Außerplanmäßiges. Wenn die Kinder im »Atelier« Künstler spielen, sollen sie KidZania-Figuren ausmalen. Es geht nicht um Kreativität, sondern darum, in den vier, fünf Stunden Aufenthalt möglichst viele Stationen zu absolvieren. Möglichst vielen Marken zu begegnen. Alle Regeln zu befolgen. Ein Lebenslauf, wie ihn Gründer Xavier López Ancona vorzuweisen hat, eine Karriere, die auf eigenen Ideen basiert, ließe sich in KidZania nur schwer starten.

Vielleicht ist KidZania nicht nur ein extremes Beispiel dafür, wie Firmen sich die jüngsten Zielgruppen erschließen wollen, sondern auch für eine zunehmende Regulierung der Kinderfreizeit: Einer Studie der Universität Maryland zufolge hat die Zeit, die Neun- bis Zwölfjährige in den USA pro Tag mit freiem Spiel verbringen, seit Ende der 1990er-Jahre um 94 Prozent abgenommen. Kreative, eigene Rollenspiele sind für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und des kritischen Denkens ungemein wichtig. Aber sie bringen keine kidZos.

Später ermahnt eine Mitarbeiterin eine Gruppe von Kindern, es dauere zwar länger, die anspruchsvollen Berufe zu erlernen, etwa Pilot zu werden oder an der selten geöffneten KidZania-Universität zu studieren, aber dafür verdiene man mit diesen Berufen auch mehr. Bildung und Wissen, diese Erkenntnis hallt durch den KidZania-Keller wie die Fanfarenmelodie, dienen bloß dazu, noch mehr kidZos anzuhäufen.

Mittagessenszeit, außer »Burger King« gibt es ja nichts. Die Kinder lernen dort, ihren Burger selbst zu belegen, müssen für ihn aber trotzdem kidZos abdrücken, was nun bei meinem Sohn zu ersten schweren Kapitalismusverständnisproblemen führt. Egal jetzt. Bitte sag deiner Mutter nicht, was du gegessen hast, okay? Tätätätätäätäätäätätätääätätäääää. Papa, wann hört das Lied auf? Ich. Weiß. Es. Nicht!

Wir stehen dann eine Weile vor einer großen Baustelle, auf der die Kinder Bauarbeiter spielen und klettern dürfen. Mein Sohn sagt, das ähnele den vielen fast fertigen Hochhäusern neben der Autobahn, die wir auf dem Weg hierher bestaunt haben. Er hat recht. Obwohl KidZania überall auf der Welt gleich aussieht, obwohl es sich quasi um die Themenpark-Variante von »Starbucks« handelt – man findet sich sofort zurecht, egal auf welchem Kontinent man sich befindet –, ist natürlich jede KidZania-Stadt auch ein Spiegelbild der Stadt, in der sie errichtet wurde. KidZania Istanbul stellt, wenn man so will, eine Gesellschaft nach dem Geschmack des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dar. Alles ist sehr sauber und brav, an jeder Ecke eröffnen westliche Ketten neue Filialen, die Polizei ist allgegenwärtig, die freie Presse hat es schwer (KidZania-Zeitung und Fernsehen sind am Tag unseres Besuchs geschlossen), und von einer transparenten Demokratie kann man nun nicht wirklich sprechen, auch wenn es offiziell einen ständigen Kinderrat gibt, der über das Programm von KidZania mitentscheidet.

Zu seiner Freude entdeckt mein Sohn, dass er in einer »Eisfabrik« arbeiten kann. Ein Süßigkeitenhersteller lässt die Kinder eine rote Pampe in Kühlkästen gefrieren. Ein eher unterkomplexes Lernprogramm. Nebenan stehen die Schokofabrik und die Chipsfabrik, was es so braucht in einem funktionierenden Staat.

Tätätätätäätäätäätätätääätätäääää.

Nein, es ist kein richtiger Beruf, Coca-Cola-Kästen sinnlos durch die Gegend zu schieben, auch wenn das hier eine Aktivität ist! Doch, deine Eltern hatten recht, Cola ist nicht gut für Kinder! Ich glaube, es ist mein Sohn, der vorschlägt, zur Beruhigung in die Kneipe zu gehen, die direkt neben der Disco steht, in der einige Mädchen Karaoke singen. Die Kneipe sieht aus wie ein geschrumpfter Irish Pub. Es gibt aber nur Wasser. Die Halbstarken am Billardtisch sind dennoch sehr ausgelassen und laut und machen den Anschein, Ärger zu suchen. Ich bin gar nicht mehr imstande, irgendetwas zu entscheiden, es ist mein Sohn, der uns schnell zu dem kleinen Fußballstadion navigiert, in dem gerade gebolzt wird. Wir setzen uns auf die Tribüne.

»Wie du«, sagt mein Sohn.
»Was meinst du?«, frage ich.
»Wenn du müde bist vom Arbeiten, gehst du doch auch in die Bar oder guckst Fußball!«

Vielleicht ist es das, was mich am Ende dieses Tages so deprimiert: dass beim Beobachten der Kleinen in diesem großen Quatsch deutlich wird, wie gleichgeschaltet und sinnlos das Erwachsenenleben auf Kinder oft wirken muss. Eltern zahlen in KidZania dafür, dass ihren Kindern ein Kreislauf aus Arbeit und Konsum eingebläut wird, während sie selbst im angrenzenden Shoppingcenter die kinderlose Zeit dafür nutzen, ihre blöde Arbeit, die der Nachwuchs im Untergeschoss imitieren muss, zu vergessen.

Aber das wirklich Traurige an KidZania ist, dass es die Neugier der Kinder missbraucht. Sie freuen sich auf unbegrenzte Möglichkeiten, auf eine eigene Welt, die sie erkunden und gestalten können. Aber KidZania ist ein Hologramm, ein gigantischer Spielplatz, dessen Geräte sich nicht benutzen lassen – was man aber erst merkt, wenn man vor ihnen steht. Die Marketingabteilung verbreitet gern die Geschichte, KidZania sei ein Planet, den Kinder aufgebaut hätten, nachdem sie gesehen hätten, welche Verbrechen Erwachsene an der Erde begehen. Das Motto sei: Macht euch bereit für eine bessere Welt!

Doch KidZania ist keine Utopie. Es ist eine Dystopie. Es ist keine unschuldige Welt, die mit der Unterstützung von großen Firmen finanziert wird. Es ist eine Firmenwelt, die mit der Naivität von Unschuldigen finanziert wird. Ein vermeintlich geschützter Ort, an dem Eltern ihre Kinder einer Marketing- gewalt aussetzen, weil ihnen ein pädagogisch wertvolles Edutainment-Konzept vorgegaukelt wird. Und es funktioniert. Wenn es so weitergeht, gibt es KidZania bald in jedem Land, das reich oder aufstrebend genug ist.

Mein Sohn ist zum Glück noch zu jung, um das Ausmaß der Unverschämtheiten zu erkennen.
Aber auch er hat genug.
Tätätätätäätäätäätätätääätätäääää.
Die Angestellten müssen zum nahenden Feierabend den KidZania-Tanz aufführen.
Ich frage meinen Sohn, was er mit den vielen kidZos, die er angesammelt hat, machen wolle.
Er überlegt eine Weile.
Du kannst dir was aussuchen im Souvenirladen.
Er sagt, er sei zu müde.
Der KidZania-Bank traut mein Sohn nicht, er will das Papiergeld lieber mit nach Hause nehmen, »für später vielleicht«.
Wir sitzen im Taxi, das, wie mein Sohn zufrieden feststellt, kein Ford, sondern ein Toyota ist, und vielleicht um mich zu trösten, sagt er: »Hier draußen ist es schöner als im Kapitismus!«

Ich sehe hoch in den blauen Istanbuler Himmel, der sehr echt aussieht, und denke: Hier draußen bist du so klein, du erkennst es nur noch nicht.

Fotos: Daniel Delang