Täglich grüßt das Containerschiff

Ein bedauernswerter Engländer erwacht seit zehn Jahren jeden Morgen mit dem Gefühl, zur Wurzelbehandlung zu müssen. Axel Hacke kennt das sehr gut. 

Aus dem Fachorgan Neurocase: The Neural Basis of Cognition erfuhr ich von einem Mann, der nach einer Zahnwurzelbehandlung nicht aus einer Zeitschleife herausfindet: Er erwacht jeden Morgen im Gefühl, zur Wurzelbehandlung beim Zahnarzt aufbrechen zu müssen - und das seit zehn Jahren! Die Bitternis dieses Schicksals wird nur durch die Tatsache gemildert, dass er eben nicht zur Wurzelbehandlung muss.

Um nun jenen Bedauernswerten, die gerade einer Wurzelbehandlung halber zum Zahnarzt müssen, die Angst vor einer Zahnwurzelbehandlungszeitschleife zu nehmen: Die Ärzte halten es für unwahrscheinlich, dass die Wurzelbehandlung das Leiden ausgelöst hat. Ganz ausschließen können sie es aber auch nicht.

Noch unangenehmer als einen Zahnarzt zu besuchen ist übrigens: wenn einen der Zahnarzt besuchen kommt. Dies musste kürzlich der Löwe Cecil erfahren, der von Walter Palmer, einem Zahnarzt aus Minnesota, heimgesucht und erschossen wurde, eine Untat, deretwegen man dem Herrn wünscht, er möge für den Rest seines Daseins jeden Morgen kurz vorm Aufwachen im immergleichen Schlusstraum in den aufgerissenen Rache-Rachen Cecils blicken müssen, den Blick angststarr auf dessen an Großwildjägerfleisch gewöhnte und an Großwilderjägerknochen geschulte Zähne gerichtet. Und dass er dabei, wünscht man, schutzlos von heißem Löwenmundgeruch umströmt werden möge, dessen Rülpsgase und Faulwolken ihn stets aufs Neue bereuen lassen, je ein Ticket nach Simbabwe gebucht zu haben.

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Die tägliche Wiederholung desselben Ereignisses kann ja heilsam sein. In dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier muss ein misanthropischer Wetterjournalist Morgen auf Morgen den gleichen Tag erleben, den 2. Februar nämlich, Groundhog Day, an dem traditionell nach dem Erwachen eines Murmeltiers nahe der Stadt Punxsutawney in Pennsylvania festgestellt wird, ob dieses seinen Schatten sieht oder nicht. Ist dies der Fall (scheint also die Sonne), dauert der Winter, der Sage nach, weitere sechs Wochen. Sieht das Tier keinen Schatten, hat das Frühjahr begonnen. Erst die Liebe zu seiner Kollegin Rita macht aus dem Griesgram einen besseren Menschen, der endlich wieder an einem 3. Februar erwachen kann.

Übrigens glaubte ich selbst bis vor Kurzem, in einer ähnlichen Zeitschleife gefangen zu sein: Immer wieder erwachte ich, nahm die Morgenzeitung zur Hand und las die Überschrift »Größtes Containerschiff der Welt getauft«! Ist es nicht entsetzlich? Gerade erst hieß es wieder, in Hamburg sei das größte Containerschiff der Welt getauft worden, es heiße MSC Zoe, sei 395 Meter lang und könne 19 244 Container befördern. Doch schon bald werde ein neues Schiff für 21 100 Container folgen.

Die Erkenntnis hier lautet: Noch schlimmer als in einer Zeitschleife gefangen zu sein, ist zu glauben, in einer Zeitschleife gefangen zu sein und dann zu erkennen: Es handelt sich gar nicht um eine Zeitschleife. Es wird wirklich alle paar Monate ein noch größeres Containerschiff gebaut! Nicht ich befinde mich also in einer Zeitschleife, sondern die Welt befindet sich in einer Irrsinnsspirale, an deren Ende zweifelsohne der Tag stehen wird, an dem ein Containerschiff gebaut worden sein wird, das alle Container der Welt aufnehmen kann, ja, dass wir schließlich alle in Containern leben müssen, damit ein noch größeres Containerschiff gebaut werden kann, auf dem die ganze Welt Platz findet. Sodass diese Containerarche die Erde, die für sie natürlich zu klein ist, verlassen muss, um in unbekannte Universumsregionen abzudampfen.

Zweifellos gibt es nur eine Lösung, dies zu verhindern: Die Menschheit müsste sich einer Behandlung der Wurzeln ihres Irrsinns entschließen. Ebenso zweifellos wird es diese Lösung nicht geben, denn schlimmer als eine Wurzelbehandlung ist, wie wir alle wissen, nur die Angst vor der Wurzelbehandlung, die eben genau verhindert, dass man sich einer Wurzelbehandlung unterzieht.

Illustration: Dirk Schmidt