»Das Selbstmitleid ist weg«

Der Schriftsteller Clemens J. Setz ist erst 32 und blickt schon zurück: auf seine ersten Schreibversuche, denn: »Nur lesen und nie schreiben, das ist wie geküsst werden, ohne selbst küssen zu dürfen.«

Der 32-Jährige gilt als früh vollendetes Wunderkind. Schon sein zweiter Roman Die Frequenzen, den er mit Mitte zwanzig schrieb, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Gerade ist sein neuer Roman erschienen. Er hat 1000 Seiten und heißt Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Setz wurde in Graz geboren und lebt bis heute dort.


SZ-Magazin: Sie haben schon vier Romane, einen Gedicht- und einen Erzählband veröffentlicht, insgesamt mehr als 3000 Seiten. Wann und warum haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Clemens J. Setz: Bis ich 16 war, hatte ich weder ein Buch gelesen noch eine Partyeinladung bekommen. Ich war ein Nerd, blass, uncool, picklig, ohne Freunde. Stattdessen war ich süchtig nach Ballerspielen, habe programmiert, Pornobilder angestarrt, mich in Internetforen nächtelang mit anderen Außenseitern über die obskursten Dinge unterhalten – bis ich eines Tages einen Gesichtsfeldausfall erlitt.

Was ist das?
Eine Sehstörung, ausgelöst durch einen Migräneanfall. Man sieht nur noch die eine Hälfte, die andere ist weg, als hätte jemand den Monitor in der Mitte auseinandergesägt. Die Sache ist harmlos, aber das wusste ich nicht. Von einem Tag auf den anderen traute ich mich keinen Bildschirm mehr anzumachen. Eine Zeitlang versuchte ich es noch mit Computerzeitschriften – eine seelentötende Erfahrung. Es war nichts zu machen. Meine Droge war weg. Ich brauchte eine neue, ich fing an zu lesen.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Buch?

Ich begann mit kurzen Texten, Reimen, Haikus. Eines Tages bekam ich ein Bändchen mit Gedichten von Ernst Jandl in die Finger. Eines mit dem Titel Die Morgenfeier handelt von einem Mann, der beim Aufwachen entdeckt, dass er im Schlaf eine Fliege zerdrückt und ihr ein Beinchen vom Körper weggerieben hat. Er betrachtet das tote Tier, gleichzeitig fällt ihm auf, wie schön das Morgenlicht durchs Fenster bricht. Ich las es und musste weinen. Danach habe ich alles gelesen, was mir in die Finger kam, Kafka, Rilke, Trakl. Ich habe mit der gleichen Obsession gelesen wie vorher Computer gespielt.

Was ist passiert, dass Ihnen das Lesen irgendwann nicht mehr genügte?
Es kam der Punkt, wo ich diese Wohltat, die ich durch das Lesen erfuhr, dieses Liebkosen und Erkanntwerden durch einen fremden, möglicherweise bereits verstorbenen Menschen, erwidern wollte. Nur lesen und nie schreiben, das ist wie geküsst werden, ohne selbst küssen zu dürfen; ein bisschen wie Pornoschauen. Ich begann mit Parodien auf Texte von den Einstürzenden Neubauten. Kurz darauf konnte ich ohne Schreiben nicht mehr leben. Ich war und bin süchtig danach, mir Dinge auszudenken und aufzuschreiben.

Vor Kurzem haben Sie ein Büchlein mit Zusammenfassungen von Geschichten herausgebracht, die Sie mit 18 geschrieben haben. Finden Sie Ihre Jugendprosa heute gelungen?
Die meisten Geschichten sind schwer lesbar, ohne handwerkliches Können geschrieben, ein ziemliches Durcheinander. Ich spüre, was für ein Mensch ich damals war. Das macht mich ein wenig melancholisch, weil ich weiß, dass es diesen Menschen nie wieder geben wird. Auf der anderen Seite bin ich froh, weil man nicht ewig dieser Jüngling mit den kitschigen Vorstellungen bleiben möchte. Ganz selten stolpere ich über einen Satz, den ich richtig gut finde, auch heute noch, dann verspüre ich ein warmes, brüderliches Gefühl für den längst verschwundenen Clemens J. Setz von damals.

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In einer Geschichte geht es um den Affen Pierre, der an einem Tinnitus leidet und sich umbringen will, in einer anderen um einen Mann, der so hässlich ist, dass es niemand mit ihm aushält. Was für einen Menschen sehen Sie vor sich, wenn Sie diese Texte heute lesen?
Einen unsicheren jungen Mann, der es sich in seiner Verwirrtheit ganz gemütlich gemacht hat. Jemanden, der nicht einmal auf die Idee kommt, dass man sich entwickeln und etwas über das Leben lernen kann. Einen Autor, der ein riesiges Mitteilungsbedürfnis hat, aber nicht weiß, wohin damit, weil er so damit beschäftigt ist, zu zeigen, wie gut er schreiben kann.

Wollten Sie schreiberisch Rache nehmen an der Welt, von der Sie sich nicht verstanden fühlten?
Hauptsächlich wollte ich dazugehören. Das Problem war, ich wollte bei einer Welt dazugehören, die ich gleichzeitig abgelehnt und verachtet habe. Ich habe dann erst mal Germanistik und Mathematik studiert, bin aber jeden Morgen um halb fünf aufgestanden, um ein paar Stunden zu schreiben.

War die Fächerkombination Zufall oder besteht für Sie ein Zusammenhang zwischen Mathematik und Literatur, zwischen eleganten Formeln und schönen Sätzen?
Das eine hat mit dem anderen zu tun. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor Kurzem habe ich einen Text über die Flat Earth Society gelesen. Das sind Leute, die davon überzeugt sind, dass die Erde eine Scheibe ist. Verrückt, sagt man erst mal. Aber dann musste ich daran denken, dass ein Proton, das mit 99,999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit auf die Erde zurast, unseren Planeten aufgrund der Lorentzkontraktion in der Tat als platt getretene Scheibe wahrnimmt. Wenn ich über solche Dinge eine Weile nachdenke, fangen sie an, poetisch zu werden. Dann dichte ich sie weiter und male mir aus, wie es wohl aussehen wird, wenn in Millionen von Jahren die Andromedagalaxie immer näher kommt und den kompletten Himmel ausfüllt.

Haben Sie die virtuellen Welten Ihrer Kindheit, das Surfen, Chatten und Programmieren, komplett hinter sich gelassen?
Ich glaube, die Computerwelt ist eine Art Hintergrund für mein Weltbild und meine ästhetischen Vorstellungen. Allein die Tatsache, dass ich vor meinem 16. Lebensjahr hunderttausendmal gestorben und wiederauferstanden bin, nicht wörtlich, aber in den Spielen; ich habe mich schon sehr mit den Avataren identifiziert. So eine repetitive Erfahrung des eigenen Sterbens konnte ein Jugendlicher in den Fünfzigerjahren nicht machen. Das hat schon was gemacht mit mir. Der Tod wurde irreal, umso größer war der Schock, als später tatsächlich Menschen starben, die ich gemocht und geliebt habe.

Ein Außenseiter sind Sie immer noch, oder?
Wie kommen Sie darauf?

Sie haben mal gesagt, dass Sie viel mit sich selbst sprechen.
Machen das nicht alle? Ich spreche jeden Tag mit mir, sogar wenn ich durch Graz laufe. Damit die Leute mich nicht für verrückt halten, wende ich einen Trick an: Ich setze mein Headset auf. Die Leute denken, ich telefoniere, aber mein Handy ist aus, ich rede mit mir. Ich mag es, im Abseits zu stehen. In Hotels stelle ich mich manchmal im Bademantel neben eine Topfpflanze und schaue den anderen Gästen zu. Ich schaue auch jeden Tag ASMR-Videos im Netz.

Was ist das?
Videos, in denen bestimmte Geräusche gemacht werden, die für die meisten Menschen angenehm sind und bei mir ein rauschhaftes High-Gefühl verursachen, nicht im Sinne von Euphorie, eher wie eine tiefe, angenehme Versenkung.

Was für Geräusche sind das?
Eintönige, intime, repetitive Geräusche. Holz, das aneinanderreibt, ein Pinsel, der über Papier streicht, das kaum hörbare Rascheln, das entsteht, wenn sich ein Hals in einem frisch gestärkten Kragen bewegt. Es gibt eine Internet-Community, in der sich Menschen zusammengeschlossen haben, denen es genauso geht wie mir. Manche denken, es handle sich um einen erotischen Fetisch, aber damit hat es nichts zu tun. Ich weiß, es klingt lächerlich, aber damit kann ich leben, es muss ja nicht alles würdevoll sein, was man so tut. Auf eine kecke Weise macht es mich sogar glücklich, dass man aus etwas so Inhaltsleerem so großen Genuss ziehen kann. Man will bei diesen Filmen nie wissen, was als nächstes kommt. Es gibt keine Spannung. Das macht einen frei.

Sie sind Synästhetiker, haben Migräne und einen Tinnitus. Sie zeigen Ihre Hypersensibilität und ein paar Neurosen ganz gern her, oder?
Wenn ich merke, dass ich mich selbst inszeniere, empfinde ich großen Selbstekel. Trotzdem passiert es manchmal, meistens korrigiere ich mich aber dann. Ihr Journalisten erwartet aber auch, dass man als Künstler skurril ist oder wenigstens ein schräges Hobby hat.

Der Schriftsteller David Foster Wallace, der sich vor einigen Jahren umgebracht hat, definierte die Funktion von Literatur folgendermaßen: »To comfort the disturbed and to disturb the comfortable«. Wie würden Sie den Satz übersetzen?
»Die Verstörten trösten und die allzu Gemütlichen verstören.« So wie ich den Satz verstehe, sind damit nicht zwei Menschentypen gemeint, sondern ein und derselbe, denn in jedem von uns steckt ja beides: das Verstörte und das zu Gemütliche.

Ihre Texte stecken voller irrwitziger Ideen und morbider Einfälle, zum Beispiel Menschen, die mit dem iPhone ihre eigenen Essgeräusche aufnehmen und anschließend anhören. Man liest das und denkt: Der Typ muss verrückt sein.
Es gibt Autoren, die betrachten den Alltag und sehen darin etwas Poetisches. Das ist ein legitimer Zugang zu Literatur. Die Autoren, die den Nobelpreis bekommen, schreiben fast alle so. Ich kann das leider nicht. Ich muss mir etwas Surreales ausdenken, von dem aus ich die Geschichte entwickle. Kennen Sie den Roman Against the Day von Thomas Pynchon?

Nur den Titel.

Darin begegnet die Hauptfigur einem Kugelblitz, einem Plasmaball – einer Lichterscheinung, von der manche sagen, dass es sie gar nicht gibt, sondern dass sie lediglich auf Sinnestäuschung beruht. Pynchon ist das egal. Er lässt diesen Kugelblitz nicht nur auftreten, er lässt ihn sogar sprechen. Das ist der Moment, in dem viele Leser aussteigen und sagen: »So ein Unsinn, das gibt es ja gar nicht.« Aber Pynchon ist ein Genie und lässt diese kugelförmige Lichterscheinung immer menschlicher, zu einem Begleiter, ja zu einem Freund für den Sohn der Hauptfigur werden. Die beiden reden miteinander, sie vertrauen einander. Eines Tages kommt ein Gewitter und der Plasmaball sagt: »Sie rufen mich, ich muss zurück.« Der nun folgende Abschied zwischen dem Jungen und diesem Kugelblitz ist mit das Berührendste, was ich in meinem ganzen Leben gelesen habe.

Wie hat sich Ihr Schreiben verändert, wenn Sie daran denken, wie Sie mit 18 oder 19 geschrieben haben?
Es ist weniger ritualisiert und diszipliniert. Früher bin ich sieben Mal die Woche um Punkt halb fünf aufgestanden, um zu schreiben. Oder habe jeden Tag genau eine Seite in winziger Handschrift verfasst. Heute bin ich nicht mehr so selbstquälerisch, sondern lasse mir den Rhythmus vom Werk diktieren. Ich spüre, wann und wie lange ich schreiben muss. Der amerikanische Autor Hubert Selby hat mal gesagt: »I dont wanna stand in the way of a story«. Das ist ein Satz, den man so wegliest, dabei beschreibt er sehr präzise, worum es beim Schreiben geht, nämlich genau darum, der Geschichte nicht im Weg zu stehen. Das ist schwierig, weil man Bravourstücke zeigen will, aber die Kunst besteht darin, sich selbst rauszulassen und die Wucht der Ereignisse darzustellen.

Alle Ihre Figuren stehen mit mindestens einem Bein im Wahnsinn.
Das mag sein. Aber die meisten Leute sind ja auch wahnsinnig, oder? Also ich kenne niemanden, der normal ist.

Man könnte auch sagen, die meisten sind langweilig und berechenbar.
Vielleicht höre ich den Menschen anders zu? Ich habe eine merkwürdige Rolle. Viele Menschen vertrauen mir auf Anhieb und erzählen mir die merkwürdigsten Dinge. Ich glaube, Männer wie Frauen nehmen mich nicht als Teilnehmer im erwachsenen Spiel von Sex, Macht und Partnerschaft wahr, eher als Neutrum. Für mich ist das wunderbar, weil ich niemanden beeindrucken muss, da nichts davon abhängt, wie ich auf andere wirke. Umgekehrt ist es auch für die Menschen um mich herum befreiend, weil sie nicht den Druck fühlen, mich beeindrucken zu müssen.

Spüren Sie Solidarität mit Ihren Figuren?
Solidarität verspürt vielleicht ein Journalist, der ein Porträt über einen echten Menschen schreibt. Für einen Autor erfundener Figuren reicht das nicht. Erfundene Figuren sind etwas anderes als echte Menschen. Man muss sich um sie kümmern.

Inwiefern?
Sie sind weniger frei, leben nicht in der Zeit und sind lediglich eine Zeichenfolge zwischen zwei Buchdeckeln. Existieren tun sie nur in der Kollision dieser Zeichenfolge mit einem dechiffrierenden Gehirn. Ihr Weg ist durch das Buch vorgezeichnet. Wir leben in der Zeit, haben eine Vergangenheit und eine Zukunft. Nehmen Sie Patrick Bateman, den perversen Serienkiller aus Bret Easton Ellis Roman American Psycho. Die Menschen lesen das und denken, Ellis mag diesen Mann. Sie bewerten das Buch moralisch. Aber noch mal: Erfundene Menschen sind keine echten Menschen, auch wenn sie ähnliche Empfindungen in uns hervorrufen. Um sie erschaffen zu können, muss ein Autor sie verstehen, bewohnen, lieben, ja eigentlich muss er sie sein.

Sie haben gerade einen 1000-Seiten-Roman veröffentlicht. Die Hauptfigur heißt Natalie, arbeitet in einem Heim für psychisch Kranke, ist süchtig nach Live-Sendungen und Oralverkehr mit fremden Männern. Wie war es, Natalie zu sein? Für diesen Roman habe ich zum ersten Mal versucht, eine Figur zu erschaffen, die intelligenter ist als ich. Viele Schriftsteller behaupten, dass eine literarische Figur alles sein kann, empathischer, liebevoller oder böser als ihr Schöpfer, nur eines nicht, sie könne niemals intelligenter sein. Ich glaube, das ist falsch. Es geht, es ist nur sehr schwierig. Und wer weiß, vielleicht wird man ja selbst intelligenter, wenn man eine sehr intelligente Person beschreibt.

Wie soll das gehen?
Es gibt doch Menschen, die sehr charismatisch sind. Manchmal versucht man, so einen Menschen nachzumachen, zu imitieren, wie er spricht, wie er sich bewegt, was er in einer bestimmten Situation sagen könnte. Und dann, ganz selten, passiert es, dass man Dinge sagt, die man selbst nie gesagt hätte. Man verändert sich, indem man ausprobiert, jemand anderes zu sein.

Wie ist Natalie?
Sie ist vielschichtiger als ich, auch interessanter und empathischer. Es ist, als hätte ich vor vier Jahren, als ich den Roman begann, die Leine ausgeworfen, und irgendwann hat dieser riesige Fisch angebissen, der mich ins offene Meer hinausgezogen hat, in dem ich verschwunden bin. Ich habe die letzten vier Jahre mit Natalie gelebt. Sämtliche Ideen in diesem Roman sind gar nicht meine Ideen, sondern Natalies. Sie kommen aus ihrem Innenleben, aus ihrem Verhältnis zur Welt.

In der Literaturszene gelten Sie als Wunderkind, als kleines Genie. Haben Sie mal Ihren Intelligenzquotienten messen lassen? Ja, bei der Musterung, aber ich glaube nicht an solche Tests.

Was für ein Wert kam raus? 165. Nachdem ich zwei Tage lang herumkommandiert und untersucht worden war, war ich so sauer, dass ich meine ganze Wut und Konzentration in diesen Test gelegt habe. Ich wollte den Moment genießen, in dem ich diesen Leuten offenbare, dass ich Zivildienst machen werde. Ich habe mir also gesagt: Okay, ihr wollt IQ? Dann gebe ich euch IQ, damit ihr seht, was ihr verpasst. Später hab ich noch mal einen IQ-Test gemacht und es kam bloß 120 heraus, also macht mich nur trotzige Wut intelligent. Oder solche Tests sind Blödsinn.

Sie haben mal gesagt, dass Sie sich chronisch überfordert fühlen.
Das ist besser geworden. Ich spüre von Jahr zu Jahr stärker, wie bedeutungslos ich bin, und das ist gesund und richtig. Man beginnt Vorübungen zum Nichtexistieren, indem man sich selber mehr und mehr egal wird. Das Selbstmitleid der frühen Texte ist nicht mehr da. Heute habe ich echtes Mitleid mit echten Menschen und echten Tieren.

Foto: Jork Weismann