»Deutsche trauen sich nicht, Gefühle zu zeigen«

25 Jahre nach der Wiedervereinigung fragen sich die Deutschen noch immer, wie sie eigentlich sind. Spießbürgerlich oder unverkrampft? Fremdenfeindlich – oder weltoffen und hilfsbereit? Antworten können am besten die geben, die hier leben, aber keine deutschen Staatsbürger sind. Wir haben zehn von ihnen an einen Tisch gebeten.

Wir wollen über Deutschland reden. Ein Land, das vieles ist: ein Sehnsuchtsort für Flüchtlinge, eine Demokratie, ein reiches Land. Aber auch eines, in dem Asylunterkünfte brennen, in dem ein sozialer Aufstieg nicht mehr so leicht zu schaffen ist wie vor dreißig Jahren, ein ungerechtes Land. Ist Deutschland intolerant? Sogar rassistisch? Wir haben Menschen eingeladen, die Deutschland gut kennen, weil sie hier leben, die sich aber den Blick von außen bewahrt haben. Sie stammen aus China, Israel, Syrien, England oder der Türkei. Wir haben sie nach Berlin eingeladen, in die Stadt, die Menschen verbindet wie keine andere in Deutschland. »Café Nest« in Kreuzberg, Samstag, es ist warm, und es gibt Matjes mit Bohnensalat.

Zwei Gäste sitzen um 13 Uhr bereits an unserem Tisch: Shelby Printemps, 25, stammt aus Haiti und verdient sein Geld mit Fußballspielen. Miami, USA; Rocha, Uruguay; Ghajnsielem, Malta; Vancouver, Kanada: Printemps hat dort gespielt, wohin ihn seine Manager vermittelt hatten – ein Wanderarbeiter des globalen Fußballs. Seit Januar 2014 stürmt er für den FSV Optik Rathenow, vierthöchste deutsche Spielklasse, in der Regionalliga Nordost. Zu manchen Begegnungen kommen mehr Polizisten als Zuschauer. Ihm gegenüber hat der Chinese Liao Yiwu Platz genommen, 57, Schriftsteller, ein Intellektueller. Für sein Gedicht »Massaker« über die blutigen Ereignisse am Tian’anmen-Platz 1989 verurteilte die chinesische Regierung ihn zu einer vierjährigen Haftstrafe. Auch nach seiner Entlassung wurde seine Arbeit immer wieder behindert. 2011 floh er aus China, seitdem lebt er in Berlin-Charlottenburg. Drei Jahre später kam seine Frau nach, die ebenfalls Chinesin ist. Inzwischen haben sie eine zehn Monate alte Tochter. 2012 erhielt Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er spricht kein Deutsch, auch kein Englisch, deshalb hat er eine Übersetzerin mitgebracht.

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SZ-Magazin: Herr Liao, warum haben Sie sich für Deutschland entschieden?
Liao Yiwu: Ich suchte nach einem Ort, an dem meine Bücher viele Leser haben. Wo den Leuten Bücher wichtig sind. Hier liest man noch richtig, nicht nur Magazine und Zeitungen. In Berlin nutzen viele Menschen die U-Bahn wie eine Bar: Sie trinken und lesen darin. Das finde ich einzigartig.

Herr Printemps, was war Ihr erster Eindruck von Rathenow, einer Kleinstadt mit 25000 Einwohnern in Brandenburg?
Shelby Printemps: Ich habe mich gewundert, warum man nur alte Menschen sieht. Ich kam gerade aus Miami, dort hatte ich eine Freundin und war viel unterwegs. In Rathenow bleibe ich meistens zu Hause. Es ist nicht viel los. Mein Verein hat mir eine Wohnung zur Verfügung gestellt, die teile ich mir mit einem Mannschaftskameraden, der aus Portugal stammt. Er spricht ein wenig Englisch, ich ein bisschen Spanisch, so verständigen wir uns. Unsere deutschen Mannschaftskollegen leben zum größten Teil in Berlin, deshalb treffen wir sie meistens nur beim Training. Jeden Tag, drei Stunden. Danach schaue ich zu Hause Netflix oder chatte oder telefoniere mit meiner Familie in den USA.

Fehlt es Ihnen nicht, mit Leuten zu reden?
Shelby Printemps: Doch.

Und wie haben die Rathenower Sie aufgenommen?
Shelby Printemps Ich kenne eigentlich niemanden. Manchmal spüre ich ein Unwohlsein, manchmal habe ich auch das Gefühl, dass die Menschen nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen.

Also wollen Sie weiterziehen?
Shelby Printemps: Nicht unbedingt. Deutschland gefällt mir sehr. Ich mag es hier. Aber vielleicht ein anderer Ort.

In der Zwischenzeit ist der Brite Rowan Barnett, 34, dazugekommen. Er ist Manager beim Kurznachrichtendienst Twitter, seit zehn Jahren in Deutschland und mit einer deutschen Frau verheiratet. Beim Vorgespräch hatte er unsere Kollegin damit aufgezogen, dass sie trotz seines ungezwungenen »Du« immer wieder um eine klare Anredeformel herumlavierte. »Was fällt euch Deutschen daran so schwer, einfach die Tür aufzumachen und Nähe herzustellen, auch wenn man sich noch nicht kennt?«, hatte er gefragt. »Ein Du ist kein Bausparvertrag, es passiert nichts Schlimmes, wenn man sich dann doch nicht mag.« Überzeugt. Das Gespräch läuft aber ja auf Englisch, daher ist es sowieso einfach.

Rowan, hast du schlechte Erfahrungen in Deutschland gemacht? Mit Menschen? Mit Behörden?
Rowan Barnett: Nein. Es kommt mir ein bisschen so vor, als würdet ihr ständig nach dem Haar in der Suppe suchen. Das ist witzig, weil das doch typisch deutsch ist. Mir ist das zu negativ, zu selbstzweifelnd. Es scheint immer noch schwierig zu sein, als Deutscher stolz auf sein Land zu sein. Lieber entschuldigt man sich ständig.
Shelby Printemps: Wenn ich irgendwo hinkomme und frage: »Sprecht ihr Englisch?«, weil ich so schlecht Deutsch spreche, dann antworten die meisten: »A little bit.« Doch dann sprechen sie besseres Englisch als ich.
Rowan Barnett: Ich habe mal gegoogelt, bevor ich hierher zum Gespräch kam: »Gründe, Deutschland zu lieben« ergibt 700 000 Treffer, »Gründe, Deutschland zu verlassen« fünf Millionen.
Shelby Printemps: In meiner Mannschaft spüre ich immer einen gewissen Zweifel vor jedem Spiel. Da heißt es in der Kabine: »Wir werden es versuchen.« Da muss ich grinsen.
Liao Yiwu: Ich stimme zu. Die Deutschen suchen immer nach Gründen, sie sind sehr reflexiv, sie denken über Hitler und ihre Geschichte nach. Diese Art, sich so intensiv damit zu beschäftigen, berührt mich. Ich betrachte dieses Zweifeln als angenehmen Wesenzug. Es ist das Allerwichtigste, die Vergangenheit zu verfolgen und aufzudecken.
Rowan Barnett: Die Präsenz der deutschen Geschichte ist sehr stark, vor allem in Berlin. So werden auch die jungen Menschen damit konfrontiert. Auch ich finde das bewegend. Trotzdem scheint es mir manchmal hinderlich, mit diesem Übergewicht an Vergangenheit einen Stolz für das heutige Deutschland zu entwickeln, was ich für sehr wichtig halte.

Du bist ja ein Patriot.

Rowan Barnett: Ich mag das Wort Patriot nicht, aber ich fühle mich mittlerweile fast als Deutscher! Meine Frau ist Deutsche, meine Kinder haben deutsche Pässe. Ich wollte ihnen auch noch den britischen Pass besorgen, sodass sie später frei entscheiden können, aber bisher war ich zu faul. Mittlerweile bin ich sogar so weit, dass ich beim Fußball auch mit Deutschland mitfiebere.
Liao Yiwu: Ich finde sehr interessant, wie du über deine Identität redest, als Brite, der sich deutsch fühlt. Und auch, dass du deinen Kindern keine Identität aufzwingen möchtest. In China war ich Chinese, da musste ich nicht darüber nachdenken. Aber nun bin ich in Deutschland. Und hier legt die Ausländerbehörde meine Identität fest. Auch über die Identität meiner Tochter kann ich nicht entscheiden, sie hat ebenso wenig die Wahl. Meine Tochter wird den gleichen Status haben wie ich: Flüchtling. Obwohl sie im Martin-Luther-Krankenhaus hier in Berlin geboren wurde, bleibt sie Flüchtling. Eine deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen ist ein langes Prozedere.

Wollen Sie denn Deutscher werden?
Liao Yiwu: Ich mag die Mentalität der Deutschen. Es ist aber verrückt, unergründlich, wie die Ausländerbehörde mit Menschen umgeht. Ich erzähle Ihnen von meinem schlimmsten Tag in Deutschland: Am 3. August war ich bei der Ausländerbehörde, um den Ausweis für meine acht Monate alte Tochter abzuholen. Wir waren sehr glücklich. Aber dann stand dort eine Dame mit ausdruckslosem Gesicht, kontrollierte unsere Identität und fragte nach einem Dokument, das wir nicht dabeihatten. Wir versuchten ihr zu erklären, dass dieses Dokument bei einer anderen Behörde sei. Sie hob die Stimme und schrie beinahe, dass sie dieses Dokument aber bräuchte! Unsere Tochter fing an zu weinen. Wir baten um ein Telefonat, um eine Übersetzerin anzurufen. Das erlaubte sie nicht. Dann schob meine Frau mich aus dem Raum. Nach einer Weile öffnete sich die Tür wieder, die Sache schien geklärt, und sie händigte uns den Pass unserer Tochter aus, nachdem sie begriffen hatte, dass wir keinen Fehler gemacht hatten. Das Problem an dieser Situation war aber, dass die Frau sich nicht entschuldigt hat. In dem Moment dachte ich: Sie können so froh sein, dass ich kein Deutsch kann. Sonst hätte ich gefragt: »Haben Sie Liebeskummer«?
Rowan Barnett: Aber das ist typisch Behörde und nicht unbedingt Diskriminierung, oder?

Herr Yiwu, dieses Erlebnis geht Ihnen sehr nahe, Sie haben gerade geweint, als Sie davon erzählt haben.
Liao Yiwu Hier geht es nicht um mich, es geht um meine Tochter, die sich nicht wehren kann. Wissen Sie, ich bin stark. Die Chinesen haben mich jahrelang eingesperrt, und ich habe ein Buch darüber geschrieben. Ich habe eine Diktatur überlebt. Dagegen ist die deutsche Ausländerbehörde nichts. Die Behörden sind einfach unterbesetzt. Diese Institutionen sind zu alt und müssten reformiert werden. 2015 werden sie dem Flüchtlingsansturm nicht mehr gerecht.

Mesut Cevik ist gekommen und hat sich leise hingesetzt, seine Herrenhandtasche vor sich auf den Tisch gelegt, die Hände auf die Knie gestützt und zugehört, während Liao Yiwu von seinen Erfahrungen mit der Ausländerbehörde erzählt hat. Cevik hat viel genickt. Cevik, 41, ist Unternehmer, er wurde 1974 als Sohn türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren.

Herr Cevik, Sie wurden hier geboren, aber auf dem Papier sind Sie Türke. Warum?
Mesut Cevik: Weil mir der Innensenator von Berlin keinen deutschen Pass angeboten hat. Ich sehe es nicht ein, mich darum zu bewerben. Ich erwarte, dass mein Beitrag zur deutschen Gesellschaft und Wirtschaft gebührend anerkannt wird und man sagt: Herr Cevik, Sie sind hier geboren, Sie haben Abitur gemacht, führen ein Unternehmen, schaffen Arbeitsplätze. Sie sind unserem Land nützlich. Wir würden uns freuen, Sie als Staatsbürger in unseren Reihen begrüßen zu dürfen.

Herr Printemps, was für einen Aufenthaltsstatus haben Sie?
Shelby Printemps: Ein Arbeitsvisum. Ich bekomme das immer für ein Jahr, ohne Probleme. Mesut Cevik: Aber Ihr Aufenthalt als Fußballspieler ist ja auch gewollt. Sie hätten sicherlich negativere Erfahrungen gemacht, wenn Sie aus Haiti hierher gekommen wären, um sich eine Arbeit erst noch zu suchen.

Rowan, hast du schon einen deutschen Pass?
Rowan Barnett: Nein, aber als EU-Bürger brauche ich den auch nicht. Wir haben eben über die Toleranz der Deutschen gesprochen, und ich möchte noch einmal betonen, dass ich hier sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Ich bin sehr glücklich, in einem Land zu leben, in dem nationalistische Parteien keine ernsthafte Rolle spielen, anders als zum Beispiel der Front National in Frankreich oder Geert Wilders’ Partei in den Niederlanden. Natürlich gibt es auch in Deutschland Probleme mit Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, aber ich finde, das steht nicht symbolisch für Deutschland.

Rowan Barnett verabschiedet sich nun, er muss gehen, seine Frau ist hochschwanger, jederzeit kann sein drittes Kind geboren werden. Es wird unruhig am Tisch, weil auch einige neue Gäste kommen, jeder begrüßt jeden mit Handschlag. Eine neue Sitzordnung entsteht. Zur Runde stoßen Julia Lorenz, 61, Ungarin, die in Deutschland als Altenpflegerin arbeitet. Sie versorgt die Menschen bei ihnen zu Hause, rund um die Uhr, bis sie sterben. Inzwischen ist sie bei ihrem fünften Arbeitgeber, einem alleinstehenden Mann in München. Nach ihr stellt sich Miguel Ángel Torrubia Moya vor. Er ist 26, Spanier, seit zwei Jahren lebt er in der Nähe von Hannover. Zu Hause in Sevilla hatte der gelernte Elektroniker keine Stelle gefunden, nun arbeitet er für einen deutschen Mittelständler, die Firma ELOG, die Schalt- und Steuerungsanlagen herstellt. Außerdem ist die Israelin Nirit Bialer gekommen, die schon als Kind von Deutschland geträumt hat, wie sie sagt. 2006 zog sie nach Berlin und gründete die Initiative Habait, deren Ziel es ist, Deutschen die israelische Kultur näherzubringen. Sie veranstaltet Partys mit DJs aus Tel Aviv und inszeniert Theaterstücke. Neben sie setzt sich Rola Ali, eine Syrerin, die 2014 aus Damaskus geflohen ist, wo sie Englische Literatur und Kunst studiert hat.

Nirit Bialer: Das passt jetzt vielleicht nicht hierher, aber ich bin sehr glücklich, neben dir zu sitzen, Rola, und mit dir zu sprechen.
Rola Ali: Wisst ihr, warum sie das sagt? Wären wir noch in unseren Heimatländern, könnten wir uns nicht treffen.
Nirit Bialer: Wir Israelis dürfen nicht nach Syrien reisen, Syrer dürfen nicht zu uns. Wie bist du nach Deutschland gekommen, Rola?
Rola Ali: Ich habe in Damaskus gelebt, bin aber im Juni 2014 in den Libanon geflohen, nach Beirut. Dort habe ich mir auf dem Schwarzmarkt einen schwedischen Reisepass gekauft. Die Frau auf dem Foto sah so ähnlich aus wie ich, sie muss ihren Pass verloren haben, vielleicht wurde er ihr auch geklaut, ich weiß es nicht. Mit diesem Pass bin ich dann von Beirut nach Kuala Lumpur in Malaysia geflogen. Wenn du von Beirut aus nach Europa fliegst, kontrollieren sie die Pässe sehr genau, bei einer Reise nach Asien ist das nicht der Fall. In Kuala Lumpur habe ich einen Direktflug nach Frankfurt gebucht und darauf gehofft, dass die Passkontrollen dort nicht so streng sind. Ich hatte Glück, die malaysischen Grenz-beamten haben mich durchgewinkt. Die Deutschen in Frankfurt merkten aber sofort, dass ich nicht die Frau auf dem Passfoto bin. Als sie mich anhielten, musste ich weinen. Sie beruhigten mich schnell: Ich solle mir keine Sorgen machen, ich könne nun einen Asylantrag stellen.

Frau Bialer, was hat Sie nach Deutschland geführt?
Nirit Bialer: Ich habe als 13-Jährige in Israel angefangen, Bücher über den Holocaust zu lesen. Danach wollte ich unbedingt Deutsch lernen. Das klingt bizarr, aber ich wollte verstehen, was hier geschehen ist. Anfang der Neunzigerjahre war Deutsch wie eine verbotene Sprache in Israel. An kaum einer Schule wurde es unterrichtet, ich habe es am Goethe-Institut gelernt. Außerdem bin ich jeden Sommer für zwei Wochen über ein Jugendaustauschprogramm nach Deutschland gereist. Ich erinnere mich gut, wie eine Nachbarin in Israel, eine ältere Dame, mich einmal ansprach, als sie mich vor unserer Haustür warten sah: Na, auf was wartest du denn? Ich sagte: Auf Post von Freunden aus Deutschland. Sie sagte: Schämst du dich nicht? So dachten viele Israelis.

Das hat sich geändert: Heute ziehen viele Israelis nach Berlin. Woran liegt das?
Nirit Bialer: Das sind vor allem junge Israelis, die diesen Schritt früher aus Respekt vor ihren Großeltern nicht gewagt haben. Nun stirbt die Generation, die den Holocaust miterlebt hat.
Julia Lorenz:
Ich habe Deutsch vor dem Fernseher gelernt. Als ich 1995 von Ungarn hierher kam, musste ich für die Familie, für die ich als Babysitter gearbeitet habe, jeden Tag eine Serie aufnehmen: Reich und schön. Aber ohne Werbung! Also musste ich mir jede Folge anschauen, um bei den Werbepausen die Aufnahme zu stoppen.

Sollten sich Zuwanderer bemühen, die Sprache des neuen Landes zu lernen?
Mesut Cevik: Natürlich. Aber ich finde die Art und Weise nicht gut, wie die deutschen Politiker das immer wieder betonen. Das wirkt auf mich polemisch. Jeder Mensch, der hierher kommt, will doch sowieso die Sprache lernen. Wäre ich Politiker, würde ich nicht immer Forderungen an die kleine Gruppe richten, an die acht Millionen Ausländer, sondern an alle achtzig Millionen Einwohner. Integration ist ein Zusammentreffen auf einer Brücke. Und Angst müsste eigentlich nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit haben.
Miguel Moya: Ich erlebe diese Pflicht auch andersherum. Meine Mutter hat mir eingebläut: Wenn du dich in Deutschland verliebst und ihr Kinder bekommt, müssen die Spanisch sprechen!

Miguel Moya, Sie sind 26 und kamen vor zwei Jahren aus Sevilla zum Arbeiten nach Deutschland. Sie wirken sehr offen. Haben Sie deutsche Freunde?
Miguel Moya: Neulich habe ich abends in einer Kneipe eine Frau angesprochen. Ich: Hallo! Sie: Nein. Das wars. Es ist sehr schwer, jemanden kennenzulernen. Ich bin aber auch selbst schuld, weil ich in einer WG mit zehn Spaniern wohne.
Rola Ali: Ich lerne Deutsch auf einer Sprachschule, das Jobcenter bezahlt dafür. Das Ganze nennt sich Integrationskurs – dabei treffe ich dort natürlich nur Ausländer.
Mesut Cevik: Obwohl ich hier geboren bin, habe ich nur Freunde, bei denen die Familien multikulturell aufgestellt sind. Zumindest einer hat nicht-deutsche Wurzeln. Das mag Zufall sein oder die Chemie. Am meisten habe ich mit Türken zu tun. Meine Software ist deutsch, aber meine Hardware türkisch.

Was meinen Sie damit?
Mesut Cevik: Mein Kopf, meine Gedanken sind deutsch geprägt, mein Herz, meine Seele türkisch. Deshalb fühle ich mich in Deutschland emotional nicht wirklich angekommen.
Nirit Bialer: Die Deutschen trauen sich nicht, ihre Gefühle zu zeigen. Weder positive noch negative. Die Emotionen werden verdrängt, versteckt. Das fängt schon in der Kindheit an. In Berlin zum Beispiel höre ich fast nie ein deutsches Kleinkind schreien. Und wenn es doch mal vorkommt, erklären die Eltern dem Kleinen auf fast philosophische Art und Weise, warum es peinlich ist, in der Öffentlichkeit zu weinen. Ich habe auch viele deutsche Freunde, die treffen ihre Eltern zwei Mal im Jahr! Zu Weihnachten und in den Sommerferien. Das finde ich bizarr.

»Das ist nett gemeint, natürlich. Aber es ist unglaublich rassistisch.«

Frau Lorenz, Sie werden von deutschen Söhnen und Töchtern dafür bezahlt, deren altersschwache Mütter und Väter zu pflegen. Gibt es zu wenig Liebe in deutschen Familien?
Julia Lorenz: Nicht generell, aber Patienten, die früher nur mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, bekommen das im Alter zurück. In München-Grünwald zum Beispiel, dem Nobelviertel, hat eine Tochter zu mir gesagt: Mama hat schon genug gelebt, Sie können sie sterben lassen. Manche Alten vermissen auch körperliche Wärme. Eine 90-jährige Frau hat mich immer, wenn sie ins Bett ging, gebeten, mich zu ihr zu legen und ein bisschen zu schmusen.

Finden Sie neben Ihrer Arbeit noch Zeit für Ihre eigene Familie?
Julia Lorenz: Mein Leben hat einen eigenen Rhythmus. Ich bin drei Monate in Deutschland bei einem alten Menschen, den ich pflege, danach habe ich frei und fahre wieder heim nach Ungarn, in mein Haus. In der Zeit nehme ich meine fünf Enkelkinder zu mir, und meine Mutter ist auch da, sie lebt bei mir im Haus. Dann sind wir alle zusammen.
Mesut Cevik: Ein Deutscher würde dich jetzt fragen: Wann hast du mal frei? Wann gehst du ins Kino, wann ins Theater?
Julia Lorenz: Ich bin sehr zufrieden, wenn ich eine gute Hausfrau und Mutter und jetzt Oma bin.
Mesut Cevik: Du klingst wie meine Mutter.

Laut dem Statistischen Bundesamt arbeiten mehr als 370 000 Pflegekräfte mit ausländischen Wurzeln in Deutschland, 83 Prozent davon sind Frauen, und die meisten stammen wie Julia Lorenz aus Osteuropa. In Deutschland helfen diese Frauen Familien, in Polen, Rumänien oder Ungarn fehlen sie ihren Familien. Was macht es mit den Ehen, wenn immer einer weg ist?
Julia Lorenz: In meinem Bekanntenkreis sind achtzig Prozent der Ehen geschieden. Auch meine Ehe ist gescheitert. Die Frauen sind in Deutschland, die Männer in Ungarn. Sie fühlen sich herabgesetzt, weil ihre Frauen das Geld verdienen, und fangen an zu trinken. Das geht nicht lange gut. Das ist auch ein Grund, warum ich meine Enkelkinder zu mir nehme. Meine beiden Söhne arbeiten viel, einer auch in Deutschland, sie sind selten da, das ist für keine Ehe gut. Also versuche ich, ihnen und den Schwiegertöchtern ein bisschen Zeit zu zweit zu ermöglichen.

Geht das gut? So viele so unterschiedliche Menschen an einem Tisch? Haben sie sich etwas zu sagen? Wir wussten es nicht. Dieses Gespräch war für uns ein ebenso großes Experiment wie für unsere Gäste. Drei Stunden sind nun vergangen, die Stimmung am Tisch ist entspannt, manchmal herzlich. Alle duzen einander, niemand fällt dem anderen ins Wort. Die Kulturtheoretikerin Grada Kilomba kommt jetzt dazu und stellt sich vor.

Grada Kilomba: Mein Name ist Grada, das heißt Freude. Geboren und aufgewachsen bin ich in Lissabon. Meine Familie mütterlicherseits stammt aus Angola und São Tomé und Príncipe, kleinen Inseln im Westen von Afrika. Auf einer guten Karte findet man sie, auf einer schlechten nicht. Mein Vater ist Portugiese. 2004 kam ich nach Deutschland, weil ich mich in einen Deutschen verliebt hatte. Hier sind wir dann getrennte Wege gegangen. Heute lebe ich mit meinem Mann in Berlin, er ist nicht der Freund von damals. Wir haben eine einjährige Tochter und einen dreijährigen Sohn. Ich habe sie gerade zum späten Mittagsschlaf hingelegt und bin mit dem Fahrrad hergefahren. Bis 2014 war ich Professorin an der Humboldt-Universität, Fachbereich Gender Studies. Jetzt bin ich Autorin.
Rola Ali: Hast du eine Aufenthaltsberechtigung?
Grada Kilomba: Ich habe einen portugiesischen Pass. Einen europäischen also. Ein großes Privileg. Ich muss nicht heiraten, um hier bleiben zu können. Ich bin zwar verheiratet, aber freiwillig.
Rola Ali: Ist dein Mann Deutscher?
Grada Kilomba: Deutscher mit südafrikanischer Herkunft. Er ist Afroeuropäer. Er wurde in Thüringen geboren. Sein Vater floh vor der Apartheid in Südafrika in die DDR, wie viele damals. Die DDR hat Nelson Mandelas Partei ANC unterstützt. Und die Flüchtlinge wurden dort aufgenommen. Es ging ihnen gut.

Hat Ihr Mann sich als Kind von den Menschen in der DDR diskriminiert gefühlt?
Grada Kilomba: Natürlich war er in den Augen der Weißen vor allem ein Schwarzer.

Verhalten sich Weiße, aufgrund ihrer Herkunft und Geschichte, unwillkürlich rassistisch?
Grada Kilomba: Ist ein Mann zwangsläufig ein Sexist?

Ist er?
Grada Kilomba: Ich erzähle Ihnen ein Beispiel aus einem meiner Texte. Da sagt eine weiße Frau zu einer schwarzen Frau, die sie sehr gern mag: »In meinen Augen bist du gar nicht schwarz.« Das ist nett gemeint, natürlich. Aber es ist unglaublich rassistisch. Wir können unserer Geschichte nicht ausweichen. Und unsere Geschichte ist eine des Rassismus und der Diskriminierung. Seit 500 Jahren dominiert der Rassismus Europa. Wir sollten uns nicht fragen, ob wir rassistisch sind, sondern lieber: Wie kriege ich meinen Rassismus weg? Oder zumindest kleiner?

Spüren Sie alle diesen unbewussten Rassismus?
Rola Ali: Mir sehen viele Leute meine syrische Herkunft nicht an. Aber ich war anfangs in Deutschland in Lagern in Thüringen, in Suhl und in Eisenberg. Dort fielen wir, die Flüchtlinge, als Fremde auf. Die Menschen mochten uns nicht, das war deutlich zu spüren und sehr unangenehm. Ich habe mich gefragt: Warum kommen wir Syrer genau dahin, wo die Leute uns als Bedrohung empfinden? Wo sie nicht daran gewöhnt sind, Menschen anderer Herkunft zu sehen, anderer Hautfarbe? Syrische Freunde von mir waren in einem Lager in Greiz, in Thüringen, und die Leute dort haben sie angeschrien, sie bedroht und mit Äpfeln beworfen. An solchen Orten fühlt man sich nicht, als wäre man in Deutschland, in einem demokratischen Land. Es fehlt eine Institution, die den Menschen erklärt, wer wir sind. Ich hatte immer den Eindruck, die Eisenberger und Suhler dachten, wir sind eine Horde ungebildeter Eindringlinge. Erst als ich nach Berlin gezogen bin, habe ich mich sicher gefühlt.

Wären Sie auch ohne den Krieg nach Deutschland gekommen?
Rola Ali: Ich habe davon geträumt, einmal durch Europa zu reisen und vielleicht ein Semester an einer deutschen Universität zu studieren. Aber leben wollte ich immer in Syrien.

Und Sie, Frau Kilomba? Sie sind freiwillig hier, oder?
Grada Kilomba: Portugal ist ein schönes Land, aber es ist immer noch sehr kolonialistisch. Ich wäre dort, als schwarze Frau, niemals da, wo ich hier bin. Die Leute in Portugal sind freundlich, aber jeder hat eine schwarze Frau als Putzfrau zu Hause. Die wenigsten Schwarzen in Portugal sind gut ausgebildet. Sie sind die Bediensteten der Weißen. Berlin ist offener, zumindest Teile der Stadt, das Zentrum. Aber ich habe hier auch schlechte Erfahrungen gemacht. Anfangs lebte ich in Prenzlauer Berg. Damals war die Gegend noch nicht so aufgehübscht wie heute. Da konnte ganz plötzlich eine andere Welt beginnen.

Was meinen Sie?
Grada Kilomba: Eines Tages war ich auf dem Weg zum Supermarkt, da waren zwei Männer am Fenster eines Hauses und schossen mit einem Luftgewehr auf mich. Eine Kugel traf mich ins Bein. Ich rief die Polizei, sie notierten meinen Namen und meine Adresse und sagten, sie würden sich melden. Aber sie haben mich noch nicht einmal gefragt, woher die Schüsse kamen! Etwas später erhielt ich einen Brief, in dem stand, dass der Fall aus Mangel an Beweisen nicht weiter verfolgt werden könne.

Trotzdem sind Sie in Deutschland geblieben.
Grada Kilomba: Es gibt so viele Menschen hier, deren Art ich mag. Die meisten Deutschen, mit denen ich zu tun habe, sind offen, kritisch, bewusst, reflektiert. Leute, die sich für alternative Lebensformen entscheiden. Das mag ich sehr an Deutschland. Aber es war eine Lektion. Ich habe begriffen, dass ich an manche Orte besser nicht gehe. Ich laufe nicht in Brandenburg herum.

Was sagen Sie, wenn Sie gefragt werden, woher Sie kommen?
Grada Kilomba: Anfangs hat mich diese Frage beleidigt, weil sie für mich bedeutete: Du gehörst nicht hierher.
Nirit Bialer: Berlin ist halt nicht New York.
Grada Kilomba: Berlin ist nicht mal London. Wenn wir über Deutschland und seine Vergangenheit reden, bleiben wir immer beim Nationalsozialismus hängen. Dabei hat Deutschland eine lange Geschichte als Kolonialmacht. Der Rassismus ist tief verwurzelt. Der Gedanke von Bismarck, Deutscher ist nur, wer deutsches Blut hat, lebt bis heute fort. In anderen europäischen Ländern hängt die Staatsbürgerschaft davon ab, auf welchem Grund und Boden man geboren ist. In Deutschland galt immer die genetische Abstammung. So hat Bismarck sich das vorgestellt. Die Berlin-Konferenz, in der er Afrika unter den europäischen Staaten aufteilte, ist 130 Jahre her. Wenn ich das Deutschen erzähle, sind sie immer erstaunt. Sie denken, Frankreich, Portugal und die Niederlande waren Kolonialmächte, und Deutschland hat eine untergeordnete Rolle gespielt. Erinnern Sie sich an die WM 2006 in Deutschland? Nach einem Spiel von Togo wurde einer der Fußballer interviewt und antwortete in perfektem Deutsch. Der Moderator war baff, er fragte, wie kommt’s, dass Sie so gut Deutsch sprechen? Der Fußballer sagte: Weil ihr uns kolonialisiert habt.
Mesut Cevik: Ich habe oft das Gefühl, in Deutschland kommt es auf das Herkunftsland an, als wie ausländisch man eingestuft wird. Ein Nigerianer ist ein Ausländer, ein Brite sehr viel weniger.
Nirit Bialer: Die Ausländer, die aus dem Westen kommen, werden nicht Ausländer oder Migranten genannt, sondern Expats.
Mesut Cevik: Ich bin Anfang der Achtziger in Berlin-Wedding zur Schule gegangen. In meiner Klasse waren nur türkische Kinder. Wir hießen 1RA. Es gab auch eine Klasse 1A, da waren drei Türkischstämmige drin und sonst nur Deutsche. In der zehnten Klasse habe ich herausgefunden, was RA bedeutet: reine Ausländerklasse.

Herr Moya, wie ausländisch fühlen Sie sich in Deutschland? Wenn die Leute Sie fragen, woher Sie kommen, sagen die dann: »Toll, Spanien«?
Miguel Moya: Ab und zu. Aber als mein Deutsch noch nicht so gut war, habe ich eher Skepsis gespürt, Blicke, die sagen: Was willst du hier? Im Supermarkt zum Beispiel. Wichtiger als die Herkunft ist wohl die Sprache.
Grada Kilomba: Weil du ein weißer Mann bist. Du wirst nur identifiziert, wenn du sprichst. Schwarze Menschen werden in jedem Moment identifiziert, selbst wenn sie perfekt Deutsch sprechen. Ich kann Professorin an der Humboldt-Universität sein, und an der Supermarktkasse werde ich trotzdem beobachtet.

Fassen wir mal zusammen: Die Deutschen sind nicht sehr patriotisch, sie denken über sich und ihre Geschichte nach, verhalten sich aber trotzdem diskriminierend, und auf der Ausländerbehörde wird man schlecht behandelt. Hat Sie auch etwas angenehm überrascht, als Sie nach Deutschland kamen?

Grada Kilomba: Ich habe noch nie so viele Demonstrationen gesehen. Die Deutschen sind viel politischer als die Portugiesen. Und sie trennen ihren Müll. Ich liebe das. In Portugal schaust du auf das wunderbare Meer, doch darin schwimmen Plastiktüten. Viele Menschen hier engagieren sich großzügig für Flüchtlinge. Und die Frauen sind emanzipiert.

Wie meinen Sie das, die Frauen sind emanzipiert?
Grada Kilomba: Wenn ich Mutter werde, habe ich das Recht, für ein Jahr bei meinem Kind zu bleiben, und muss mir keine Sorgen um meinen Arbeitsplatz machen. Das ist eine große Errungenschaft. In Portugal würde ich wahrscheinlich meinen Job verlieren, wenn ich nicht nach drei Monaten wieder im Büro wäre.
Nirit Bialer: In Israel geht eine Frau auch nach drei Monaten wieder zur Arbeit. Die ganze Familie hilft ihr mit dem Baby.
Rola Ali: Bei uns ist es ähnlich. In Syrien ist die Familie wichtiger als der Einzelne. Das geht so weit, dass die Familie über dein ganzes Leben entscheidet. Man ist fast nie allein. Jeder weiß, was du tust, und kommentiert dein Leben.
Grada Kilomba: Ich finde es gerade gut, dass eine Frau in Deutschland ihr Kind versorgen kann, ohne sich mit ihrer Familie gut verstehen zu müssen. Das ist Unabhängigkeit. Es ist romantisch und schön, eine große Familie zu haben, die hinter dir steht. Aber wenn du das nicht hast, kannst du hier trotzdem Kinder großziehen.
Rola Ali: Ich empfinde die deutschen Frauen als sachlich, strukturiert, organisiert und sehr unabhängig. In Syrien würde eine Frau eine schwere Tasche stehen lassen, damit ein Mann sie für sie trägt. In Deutschland lassen sich Frauen die Taschen von den Männern nicht abnehmen. Sie wehren sich dagegen.
Nirit Bialer: Das hat mich vielleicht am meisten überrascht: dass nichts mehr festgelegt ist. Es ist anders hier, eine Frau oder ein Mann zu sein. Es ist anders hier, in einer Beziehung zu leben. Alle meine deutschen Freundinnen haben ihre eigene kleine Werkzeugkiste.
Grada Kilomba: Ich habe auch eine. Habt ihr keine?
Rola Ali: Unser Keller zu Hause war voll mit Werkzeug, mit dem mein Vater alles reparieren sollte. Meine Mutter hat immer darauf gewartet, dass man Vater etwas reparierte. Sie hat wochenlang gewartet und es nicht selbst gemacht. Das gehörte sich nicht für Frauen.
Grada Kilomba: Die Idee, was sich für Frauen gehört, was weiblich ist und was nicht, ist ja schon wieder diskriminierend. Das haben Männer so entschieden. Wenn man mal aufhört, in diesen Schubladen zu denken, öffnet sich auch die Tür zu dritten Geschlechtern.
Nirit Bialer: Aber die deutschen Männer sind schon speziell, das sagen viele meiner ausländischen Freunde. Als Frau kannst du den ganzen Abend ungestört in einer Bar sitzen. Der deutsche Mann neben dir wird dich nicht ansprechen, aber seinen Abend gelungen finden, wenn er das Pfand von seiner Bierflasche zurückbekommt.
Rola Ali: Mir ist der Ton hier oft zu ruppig. In Syrien beteuert man lieber, etwas großartig zu finden, als unhöflich zu sein. Das ist vielleicht auch nicht ideal, aber zu viel Ehrlichkeit kann auch verletzen.
Grada Kilomba: Einen Mangel an Wärme und Nähe, den empfinde ich hier auch.
Shelby Printemps: Besonders irre ist es an deutschen Supermarktkassen. Die Kassiererinnen ziehen das Zeug über den Scanner und gucken dich kein einziges Mal an.
Nirit Bialer: Die Trennungsstange an der Kasse! In Israel geht man in den Supermarkt, um sich zu begegnen. Man unterhält sich mit den anderen Kunden: Sind das meine oder Ihre Kartoffeln? In Deutschland gibt es diese Stangen auf den Kassenbändern, damit bloß nichts durcheinanderkommt und niemand mit dem anderen in Kontakt treten muss.

Die Matjes und die Rote Grütze sind gegessen, die Kaffees getrunken, als unser letzter Gast mit einiger Verspätung eintrifft: Kefaet Prizreni trägt Baggyhose und Baseballjacke, geboren wurde er 1984 im heutigen Kosovo. 1988 zogen seine Eltern mit ihm nach Deutschland und beantragten Asyl. Es wurde ein nervenaufreibender, jahrzehntelanger Streit mit den Behörden – der immer noch nicht gelöst ist.

Sie dürfen als Einziger hier am Tisch nicht frei bestimmen, wo Sie leben.
Kefaet Prizreni: Ich bin an Essen gebunden, weil dort meine zuständige Ausländerbehörde sitzt.
Mesut Cevik: Was für einen Status hast du?
Kefaet Prizreni: Duldung.
Mesut Cevik: Nach so vielen Jahren? Immer noch?
Kefaet Prizreni: Wieder. Das ist eine komplizierte Geschichte. Entschuldigt bitte erst mal, dass ich so spät komme. Kefaet mein Name, viele meiner Freunde nennen mich aber einfach nur K. So wie O.K., nur ohne das O.

Kefaet macht Musik, er ist Rapper.
Grada Kilomba: Das habe ich mir schon gedacht. So wie er spricht.
Kefaet Prizreni: Ich war vier Jahre alt, als ich nach Deutschland kam, und bin direkt in den Kindergarten in Essen gegangen. Meine Eltern machten typische Flüchtlingsjobs. Vor allem Putzen. Obwohl meine Mutter eigentlich Goldschmiedin ist. Trotzdem war es eine tolle Kindheit. Ich liebe den Ruhrpott. Nur ließ das Amt eine Bombe nach der nächsten platzen. Erst nach Jahren bekamen meine Mutter und mein Vater langfristige Aufenthaltsgenehmigungen. Meine beiden Brüder und ich aber nicht. Im Gegenteil: Im März 2010 standen plötzlich Polizisten in unserer Wohnung und haben meinen jüngeren Bruder und mich mitgenommen. Morgens um fünf, ohne Warnung. Meine Mutter schrie, mein Vater war kurz vor der Herzattacke. Wir wurden gefesselt, auch an den Füßen, sodass wir nur in Trippelschritten gehen konnten. Die Polizisten brachten uns zu einem Richter, der hatte die Abschiebepapiere schon fertig. Sie setzten uns in ein Flugzeug, und wir landeten in Priština, Kosovo.
Grada Kilomba: Wie alt war dein Bruder?
Kefaet Prizreni: Zwanzig. Er ist in Deutschland geboren, Priština war für ihn eine fremde Stadt. Für mich auch, ich habe 22 Jahre in Essen gelebt. Wir wollten sofort zurück.
Mesut Cevik: Aber Deutschland will euch doch nicht.
Kefaet Prizreni: Der Kosovo will mich noch weniger. Was sagst du dazu? Deutschland ist meine Heimat, hier komme ich klar.
Mesut Cevik: Und ihr durftet zurück?
Kefaet Prizreni: Nein, wir sind geflohen. Über die grüne Meile.

Was heißt das?
Kefaet Prizreni: Wir sind durch den Wald von Serbien nach Ungarn gerannt. Da haben uns unsere Eltern abgeholt. Vier Jahre und acht Monate waren wir auf dem Balkan. Meine beiden Kinder, die mit ihrer Mutter in Deutschland leben, habe ich in der Zeit nicht gesehen. Seit Dezember 2014 sind mein Bruder und ich nun zurück und haben einen neuen Asylantrag gestellt. Der wird zurzeit geprüft, deshalb die Duldung.
Mesut Cevik: Was habt ihr verbrochen, dass ihr so behandelt werdet?
Kefaet Prizreni: Nichts. Wir sind Roma, das reicht.

Wie erging es euch im Kosovo?
Kefaet Prizreni: Ich kenne Rassismus aus Deutschland, aber der ist nichts gegen den Rassismus gegen die Roma im Kosovo. Die Deutschen schieben uns alle in dieselbe Schublade: den Türken, den Roma, die Schwarze. Damit kann ich leben. Im Kosovo aber ließen sie mich nicht in den Bus steigen, nicht weil ich Ausländer, sondern weil ich Roma bin. Wir konnten nicht arbeiten. Die Leute wollen nicht, dass du überlebst.
Grada Kilomba: Ich kann mir vorstellen, wie es sich anfühlt, ein Roma zu sein, weil ich als schwarze Frau so viel Diskriminierung erlebe. Manchmal glaube ich, darum sind wir gerade hier: Um die Geschichte zu verändern. Wir müssen im 21. Jahrhundert ankommen. In einem Jahrhundert, in dem Europa sich öffnet gegenüber anderen Völkern, Rassen, Ethnien. Ein paar Türen sind schon offen, aber sie wurden uns nicht aufgehalten. Wir haben sie aufgestoßen.

Fotos: Timm Kölln