Waldmeister

Was macht Stradivari-Geigen so besonders? Viele glauben: Es sind die Fichten aus dem Fleimstal in Südtirol. Aber die sind nur ein Teil des Geheimnisses. 

Stefano Cattoi hat bessere Zeiten gekannt. Aus dem ­Paradies ins Inferno habe ihn sein Berufsweg geführt, sagt er. Was gewiss ein wenig übertrieben ist, aber an diesem Spätsommertag, hier im Fleimstal, südlich vom südlichsten Rand Südtirols, fällt ihm als Erstes diese Dante-Metapher ein für seinen Wandel vom Förster zum Direktor des lokalen Sägewerks. »Im Wald war es still und friedlich«, sagt Cattoi, und wehmütig geht sein Blick auf die Hänge der ihn umgebenden Berge, über die sich dichter Fichtenwald wie eine schwere Decke aus grünem Loden breitet: Schatten, der Geruch von Nadeln und Tannenzapfen, ab und zu das Klopfen eines Spechts. Im Sägewerk dagegen, das muss man dem Direktor lassen, ist es laut. Die Anlage wirkt wie eine einzige, immense Maschine, in der verloren ein paar Menschlein an Hebeln ziehen. Vorn kommt eine Fichte hinein, hinten kommen zugesägte Bretter heraus. Dazwischen knattert, kracht und kreischt es tatsächlich infernalisch. Merkwürdige Vorstellung: dass Experten aus etlichen Ecken der Welt in dieses Sägewerk fahren, um vom Lärm umgeben das Holz auszusuchen, das später für die schönsten Töne sorgen soll.

Denn auf dem Hof des Sägewerks, dem Dottore ­Cattoi vorsteht, lagert nicht irgendwelches Holz. Unter den Bäumen, die aus den friedlichen Wäldern des Fleims­tals ins Sägewerk gelangt sind, befinden sich so-genannte Resonanzfichten, die zu Instrumenten verarbeitet werden sollen. Und die Resonanzfichten aus dem Fleimstal sind, so heißt es, die besten der Welt. Kaufen kann man die nur über den Dottore Cattoi.

Der Ruhm der Bäume geht auf Antonio Stradivari ­zurück. Vor rund 300 Jahren soll der berühmteste aller Geigenbauer über die waldbedeckten Hänge des Fleims­tals gestapft sein, um seine Resonanzfichten auszu­suchen. Jeder ernstzunehmende Geigenbauer der Welt weiß um diese Geschichte, Stradivari und das Fleimstal. Dadurch ist das Holz, das in Stapeln, Spänen und Schichten in Cattois Sägewerk liegt, Teil einer jahr­hundertealten Erzählung aus Spekulation, Obsession und Geheimnis.

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Stradivaris Geigen, Bratschen und Celli gelten in der Welt der klassischen Musik noch heute als das Maß aller Dinge. Seine Instrumente werden für viele Millionen Dollar gehandelt, sie hängen in Museen hinter dickem Panzerglas, sie werden immer wieder gefälscht, imitiert, gestohlen, entdeckt: Stoff für Legenden. Gemeinsam mit den Geigern, die auf seinen Instrumenten gespielt haben, hat dieser Geigenbauer aus Cremona unsere heutige Vorstellung davon, wie ein Instrument klingen soll, ­geprägt wie kein anderer. Von Viotti über Kreutzer, Menuhin, Oistrach, Mutter bis zu Vengerov – wie ein roter Faden zieht sich durch die Genialität der Virtuosen, dass sie Stradivari spielen.

Das ist einigermaßen verrückt. Wir leben in einem Zeitalter, das durch Wissenschaft und Technik die ­unwahrscheinlichsten Objekte herstellt, Nanoroboter, ­Formel-1-Autos, Weltraumsonden. Aber trotz aller ­Analysen mit Durchleuchtungstechnik und Computer­berechnungen ist es, wie es scheint, immer noch niemandem gelungen, eine neue Geige zu bauen, die einer Stradivari ebenbürtig wäre. Kein Wunder also, dass ­einige meinen, der Meister müsse ein Geheimnis gehabt haben. Eine geheime Zutat, irgendeinen Trick, den er mit ins Grab genommen hat.

Lange galt dafür als heißeste Kandidatin die Politur auf Stradivaris Geigen. Eine Studie in der Fachzeitschrift »Angewandte Chemie« ergab vor einigen Jahren aber, dass die Mixtur des Maestro sich von der seiner Zeitgenossen nicht nennenswert unterschied. Eine alternative Theorie, die 2012 lanciert wurde, nachdem man Cremonenser Geigen tatsächlich in einen Teilchenbeschleuniger gelegt hatte, besagte, die Geigen klängen so perfekt, weil sie unperfekt seien – Asymmetrien im Bau, über die Jahrhunderte vorgenommene kleine Umbauten würden unliebsame Frequenzen herausfiltern. Solche Unregelmäßigkeiten aber dürften alle älteren Geigen aufweisen. Und so bleibt – abgesehen davon, dass Stradivari mutmaßlich auch ein ganz guter Geigenbauer war – vorerst nur eine Vermutung übrig: Es war das Holz. Der Boden, die Zargen, die Schnecke sind aus Ahorn, aber das wichtigste Holz an einer Geige ist die Fichte, weil sie am ­stärksten schwingt: Aus ihr wird die sogenannte ­Decke der Violine geschnitzt, der Teil des Instruments also, in dem die F-Löcher sitzen und dessen Vibrationen unter dem Singen der Saiten den Klang des Instruments verstärken sollen.

Etwas außerhalb von ­Cavalese, dem größten der Städtchen, die sich wie eine Perlenkette am kleinen Fluss Avisio entlang durchs Fleims-tal ziehen, steht eine Skulptur auf einem Kreisverkehr. Eine angedeutete Geigenform, die dort 2013 anlässlich der Nordischen Ski-­­ Weltmeisterschaft aufgestellt wurde, um Besucher und Touristen auf die Besonderheit der Wälder aufmerksam zu machen, die sich um sie ­herum an den Bergen hinaufziehen. Dass das stille Tal laut über Geigen nachdenkt, ist eine relativ junge Entwicklung. Wenn man mit Bewohnern redet, erinnern sie sich nicht, dass man früher viel über Resonanzfichten gesprochen hätte, darüber, dass die im Tal so besonders seien. Auch heute wissen längst nicht alle davon.

Es gibt Leute, die daran zweifeln, dass Stradivari wirklich im Fleimstal gewesen ist. Sie weisen darauf hin, dass wir über sein Leben so wenig wissen, dass sich unmöglich sagen ließe, wo er sein Holz aussuchte. Piera Ciresa macht so etwas ein bisschen wütend. »Kann ja sein. Vielleicht ist er wirklich nicht persönlich hier gewesen«, sagt sie. »Wer weiß das schon. Aber den­drochronologische Studien belegen, dass die Fichte, die Stradivari verwendet hat, aus diesem Tal stammt. Die Verbindung zwischen Stradivari und der Fichte aus dem Fleimstal ist nicht von der Hand zu weisen.« Signora Ciresa steht in einem Lagerraum voller Fichtenkeile, Tausende ­Geigen in spe. Ihr Unternehmen in Tesero im Fleimstal verkauft Resonanzholz in die ganze Welt, für Klavier­böden und für Geigendecken. Die Stämme dafür sucht sich die ­Signora auf dem Hof des Sägewerks von Dottore Cattoi aus.

Natürlich hat Signora Ciresa ein Interesse daran, den Mythos um das Fleimstal zu stärken, so wie alle Bewohner des Tals – sie verdienen ja Geld damit. Es ist aber auch nicht so, dass die Signora immer alles glauben würde, was man sich um Stradivaris Besuche herum erzählt. »Es ist unglaublich, wirklich, wie viele Legenden sich um ­diesen Mann und die Fichten hier ranken«, sagt sie, und ein Lächeln zuckt um ihren Mund. Sie weiß von Geigenbauern, die auf irgendwelche kleine Privatgrundstücke fahren und bitten, dort bei Vollmond einen Baum schlagen zu dürfen, weil Stradivari das angeblich so gehand- habt habe. »Das ist natürlich sehr esoterisch«, findet ­Signora Ciresa. »Und vermutlich auch nicht ge­rade ergiebig.«

»Guter Klang entscheidet sich auch in der Fantasie«

Denn es taugt längst nicht jede Fichte im Tal für den Bau von Instrumenten, und der Mondschein dürfte, wenn überhaupt, einen marginalen Anteil an der Qualität haben. Selbst Experten wie der Signora Ciresa unterläuft es immer wieder, dass ein von außen vielversprechender Stamm sich beim Spalten als ungeeignet für ­Resonanzholz erweist. »Die sind wie Ostereier«, sagt sie, und damit meint sie die Astlöcher und Verwachsungen, die sich im Inneren des Stamms verstecken können. Sie zeigt ein kleines Stück Metall, glänzend, rund und schwer.

»Eine Kugel, aus den Napoleonischen Feldzügen. Finden wir immer wieder in den Bäumen, auch von Gefechten aus dem Ersten Weltkrieg.« Wenn ein Sägeblatt über solche Relikte ginge, sei es hinüber, sagt sie schmerzlich.

Das Fleimstal hat eine bewegte Geschichte unter wechselnder Herrschaft hinter sich. Umso erstaunlicher, dass sich eine Sonderregelung fast ununterbrochen über 800 Jahre gehalten hat: Fast der gesamte Wald im Tal ist bis heute Allmende. Jeder, der im Tal geboren wird oder dort seit mehr als zwanzig Jahren lebt, wird »Vicino« und bekommt das Recht an einem Anteil des Profits, den der Wald abwirft. Die Vicini dürfen außerdem ­wählen, wer in den entscheidenden Ämtern der Allmende-Verwaltung sitzt, in der »Magnifica Comunità di Fiemme«, kurz MCF, die angesichts ihrer langen ­Geschichte mittlerweile immer wieder zu Studien über nachhaltige Forstwirtschaft herangezogen wird.

So erklärt sich auch der höllische Abstieg des Sägewerkdirektors Cattoi: Er ist Angestellter der MCF, ­begann für sie als Forstwirt und wurde dann aus dem Wald ins Tal hinabbefördert. Früher war er einer von acht Förstern, die im Wald nach dem Rechten sahen und das zu fällende Holz bestimmten. 20 Millionen Hektar Wald gehören der MCF. In Cattois Sägewerk werden davon jährlich etwa 40 000 Kubikmeter zersägt. Allerdings ist nur ein kleiner Teil für den Instrumentenbau geeignet. Obwohl sich Resonanzfichtenstämme etwa sechsmal so teuer verkaufen lassen wie Holz, das schnöderen Bestimmungen zugedacht wird, machen sie nicht mal ein Prozent vom Umsatz des Sägewerks aus.

Der hohe Preis des Holzes erklärt sich aus ­ihrer Seltenheit. Resonanzfichte von Spitzenqualität ist nur an sehr wenigen Orten zu finden. In Alaska, in den Adirondacks im Bundesstaat New York – und eben in dieser kleinen Region in den Alpen. Bloß an solchen ­Orten herrscht das richtige Mikroklima, in dem Licht, Boden, Höhe und Feuchtigkeit zusammen die idealen Bäume hervorbringen.

Wie viele seiner Kollegen ist Silvio Levaggi ein wenig genervt, wenn er nach dem Geheimnis von Stradivari ­gefragt wird. Die Werkstatt des Geigenbauers liegt gleich hinter dem von Mussolini gegründeten Violinenmuseum in Stradivaris Heimatstadt Cremona, drei Autostunden vom Fleimstal entfernt. Die Wände hängen voller Fotografien und Postkarten aus den Ländern, in die Levaggi für seine Arbeit gereist ist; Japan, USA, Frankreich. Seine Instrumente sind Weltklasse, immer wieder gibt er im Ausland Workshops oder nimmt auf Zusammenkünften Preise für seine Kunst entgegen. Besonders Levaggis Celli werden hoch geschätzt: 2009 Gold beim Wettbewerb in Cremona. 2004 Gold in Paris, 2004 Gold in Manchester, 2001 Gold in Mittenwald. Und so weiter. Levaggi stört die ewige Behauptung, Stradivaris Vio­linen seien das Nonplusultra, ist daher auch genervt von den endlosen Spekulationen über deren verborgene ­Besonderheit. »Ich selbst finde«, sagt Levaggi, »dass viele neue Modelle deutlich besser klingen als alte. Was guter Klang ist, entscheidet sich auch sehr in der Fantasie.« Er erinnert an die Hörtests, die in den vergangenen Jahren gemacht wurden: Wenn man ihnen die Augen verband, konnten Experten ­meistens nicht unterscheiden, ob der Geiger vor ihnen gerade auf einer hochwertigen zeitgenössischen Geige oder auf einer Stra­divari musizierte.

Allerdings arbeitet Levaggi mit den gleichen Methoden wie Stradivari – »Er könnte meine Werkstatt ohne Einführung benutzen« – und mit dem gleichen Material. Hinter einem Vorhang in Levaggis Werkstatt liegen sauber aufeinandergestapelte Fichtenkeile. Die Holzstücke, über Jahre gesammelt, sind vollgekritzelt mit verschiedenen Zahlen: Dichte, Volumen, Schalleigenschaften, die der Geigenbauer mit teilweise recht komplizierten Formeln errechnet hat.

Levaggi kauft jedes Jahr ein paar Fichtenkeile. Er habe eigentlich genug, um die nächsten zehn Jahre am Stück Geigen produzieren zu können, sagt er, aber man finde ja immer etwas Neues. Wenn Levaggi Holz kauft, fährt er immer zum selben Händler, der im Norden von Mai- land sitzt. Nie zu einem anderen. Warum? »Weil dessen Fichte ausschließlich aus dem Fleimstal kommt«, erklärt er. Mag sein, dass Levaggi das Geranke um Stradi­varis Geheimnisse zu wild ist – aber auch er will kein ­anderes Holz verwenden als der Altmeister, auch er ­gehört über ein paar Ecken zu den vielen Kunden von Stefano Cattoi.

Und wie sehen die perfekten Geigenbäume nun aus? Das lässt sich im Fleimstal im »Violinenwald« prüfen, einem Teil des Waldes, den die Touristenbehörde zu diesem Zweck gekennzeichnet hat. Oberhalb des Städtchens Predazzo wachsen die Wunderfichten auf einer natürlichen Terrasse im Hang. Wie die letzten Säulen eines zusammengestürzten Tempels gehen sie schmal, weitgehend astlos, schnurgerade in den Himmel, den Boden darum bedeckt ein dichter Teppich aus Moos, ein Märchenwald. Zwischen diesen Bäumen steht in Outdoorkleidung, die Haut gebräunt, die blauen Augen blitzend wie bei Old Shatterhand, Marcello Mazzucchi, ein inzwischen pensionierter Kollege von Cattoi.

Mazzucchi kann wie kaum ein anderer Bäume identifizieren, die sich zum Bau von Geigen eignen. Jeder Baum habe seine Sprache, sagt er, und wenn man gut ­genug hinsehe, könne man sie auch verstehen. Mazzucchi beginnt, zwischen den Bäumen des Violinenwaldes hin- und herzuschreiten. Ein Baum von tausend sei im Tal geeignet als Resonanzfichte, hier aber, im Violinenwald, eher einer von zwanzig. »Dieser«, sagt Mazzucchi, und klopft auf den Stamm eines Baums wie auf die Flanke eines jungen Pferdes, »ist zu klein!« Der nächste habe zu viele Äste, der dritte sei nicht perfekt zylindrisch. Endlich bleibt Mazzucchi vor einem vierten Baum ­stehen. »Dieser ist sehr gut. Dieser Baum sieht perfekt aus.« Er zeigt eine Probe vor, die er mit einem Spezial­bohrer aus dem Baum gezogen hat. Der Pfropf sieht schön aus, regelmäßig und mit feinsten dunklen Ringen durchzogen, perfekt, ein Stück Baumkuchen. »Das Holz ist sehr hell. Das bedeutet, dass es leicht ist. Es ist im Sommer kaum, im Winter gar nicht gewachsen. Die Ringe sind dicht und regelmäßig, und das Holz ist sehr elastisch und resistent. Ideal für ein Instrument.«

Es gibt Stradivari-Liebhaber, denen es mit solchen Erklärungen für die Qualität des Holzes noch nicht reichen will. Gewiss hat der Maestro noch einmal besseres verwendet als die Normalsterblichen von heute! Es kursieren Theorien, nach denen Stradivari von einer kleinen Eiszeit profitiert habe, die zu seinen Lebzeiten besonders langsam wachsende Bäume produziert hätte. Oder dass die Fichten, aus denen er seine Geigen baute, beim Abtransport über die Flüsse Norditaliens am Ende in Venedig mit Salzwasser in Verbindung gekommen seien, was für besondere Verhältnisse gesorgt hätte.

Wer unbedingt ein Geheimnis um Stradivaris Geigen braucht, findet vielleicht Trost bei einem Gedanken von Yehudi Menuhin: »Eine große Violine ist lebendig; ihre Form selbst verrät die Intentionen ihres Schöpfers, und ihr Holz nimmt die Geschichte, die Seele der verschiedenen Besitzer in sich auf. Ich kann nie auf meiner ­Stradivari spielen ohne das Gefühl, ihre Geister hervorgerufen oder, leider, gekränkt zu haben.«

Fotos: Roderick Aichinger