Folge 17: Der Notruf

Als ihr Ex-Mann mit den Kindern zu seiner Mutter fahren wollte, wählte unsere Kolumnistin zum ersten Mal in ihrem Leben die Nummer 110. Seitdem staunt sie: wie zwei Menschen, die lange sehr verliebt waren, einander so fremd werden können.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir das Märchen von der kleinen Meerjungfrau vorliest. Dieses stumme Wesen zu Füßen des Prinzen, der sie nicht erkennt, nicht zurückliebt. Am Ende muss sie sich in Luft auflösen. Hätte sie sich nicht irgendwie zu verstehen, wenigstens Zeichen geben können? Ähnlich schlimm die Geschichte der Familie G.. Mehr als 30 Jahre waren Herr und Frau G. ein Paar, sie haben sieben Kinder, die jüngste Tochter geht ins Louises Klasse. Heute sind sie getrennt und schweigen, wenn sie sich begegnen.

Wird mir nicht passieren, dachte ich. Wer sich liebt oder liebte, sich einmal nah war und erwachsen ist, muss sich verständigen können. Aber dann, als sich meine Familie auflöst, sagt Jan in großer Wut: Ich fahre mit den Kindern zu meiner Mutter. Nein, sage ich, das geht nicht, sie haben Schule. Mir egal, sagt Jan, und ruft den Kindern zu: Packt eure Sachen. Und weil ich nicht weiter weiß, wähle ich zum ersten Mal in meinem Leben 110. Sage, dass mein Mann gegen meinen Willen mit den Kindern verreisen will. Wer hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht? fragt der Beamte. Das Wort habe ich noch nie gehört. Wir beide, antworte ich. Okay, wir schicken eine Streife. Ich lege auf.

Ich begreife, was ich ja eigentlich weiß, dass wir auch in großer Nähe verstummen können. Die gemeinsame Sprache verlieren und uns fremd werden. Ganz gleich, ob man 15 oder 30 Jahre Leben geteilt und Kinder bekommen hat. Ob man Bach hört und Hölderlin liest, alles egal, nichts hält den Gott des Gemetzels auf, der jetzt zwischen uns in der Küche steht und sie plötzlich zur Crime Scene macht. Ruf an, bestell’ die Streife ab, sagt Jan, ich bleibe hier. Er sitzt erschöpft auf der Stufe zur Terrasse. Sind Sie sicher, dass wir nicht kommen müssen? Ja, sage ich zum Beamten.

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Wenige Wochen später ein Termin beim Familiennotruf, eine Beratungsstelle für Menschen in Partnerschaftskrisen, Trennung und Scheidung. Eine Empfehlung meiner Anwältin. Zwei Stühle, zwischen uns ein Tischchen mit Kleenex, und als ich die sehe, möchte ich sofort wieder gehen. Aber Frau J. dreht ihren Bürostuhl herum und fragt, ob wir hier sind, um die Beziehung zu retten oder uns zu trennen. Trennen, sage ich. Retten, sagt Jan. Er hat etwas vorbereitet, zieht einen Brief an mich aus der Tasche und liest ihn vor. Eine Anklage. Aber Frau J. richtet nicht. Die Vorwürfe bleiben für sich stehen als wären sie Grünpflanzen, Frau J. will lieber über die Kinder sprechen. Wir lassen uns ausreden. Sammeln und sortieren.

Vier oder fünf Mal, ich weiß nicht, wie oft wir ihr gegenüber sitzen. Fühlt sich weder nach retten noch nach trennen an, was dort passiert. Wir erzählen Frau J., wie wir waren, um herauszufinden, wie wir jetzt sein können. Gut waren wir eigentlich, stellen wir fest. Manchmal lachen wir. Wir erinnern uns an das, was uns verbindet. Frau J. würde sagen: was uns als Eltern stärkt.

Illustration: Grace Helmer