Das Schweineritzen-Dilemma

Wer kleine Augen hat, tut sich schwer, ein gutes Selfie hinzubekommen. Zum Glück hat die Universität Stanford jetzt erforscht, was man zum perfekten Selbstporträt braucht.

Mein erstes Selfie knipste ich im Sommer 1999 – und weil man damals Handys eher zum Telefonieren, SMS schreiben oder Snake spielen benutzte, habe ich es mit einer Kompaktkamera aufgenommen. Die drückte ich normalerweise anderen Leuten in die Hand, wenn ich ein Bild von mir haben wollte, das ging aber in diesem Fall nicht: Ich hing an einem Felsturm in den Dolomiten im Seil, hatte beim Klettern gerade den letzten Haken erreicht und wollte ein Foto zum Protzen. Den Arm ausstrecken, auf sich selbst zielen und abdrücken, diese Bewegungsfolge war damals noch ungewohnt. Und an der vom Klettern ohnehin müden Hand waren jene Muskelpartien noch nicht so ausgebildet, dank derer wir heute ein Smartphone stundenlang in der Hand jonglieren. Ich bekam einen Krampf.

16 Jahre später ist das ein bisschen anders. Heute schieße ich manchmal in zehn Minuten mehr Selfies, als ein Film in der Kamera von damals Bilder hatte. Nicht, weil ich nicht genug von mir kriegen kann, sondern, nun ja: Wegen meiner Schlupflider. Seit eine Patentante meine zugegebenermaßen schmalen Augen als »Schweineritzen« bezeichnet hat, habe ich einen kleinen Knacks weg und reiße instinktiv die Augenbrauen nach oben, wenn ich in eine Linse schaue. Das wiederum führt dazu, dass sich meine Stirn so stark wellt, dass man in den Falten eine Kompaktkamera verstecken könnte. Manchmal brauche ich deshalb recht lange, bis ich ein gutes Selfie hinkriege. Eines, in dem sich das Schlupflider-Dackelstirn-Verhältnis einigermaßen im Rahmen hält.

Laut allerneuster Forschung könnte ich es aber deutlich einfacher haben. Andrej Karparthy, Student der Computerwissenschaften aus Stanford, hat ein »Convolutional Neural Network« mit zwei Millionen Selfies gefüttert, die er in Sozialen Netzwerken abgegriffen hat. Die lernfähige IT-Anwendung hat die Bilder sortiert und anhand von 140 Millionen Parametern analysiert, was die Fotos mit vielen »Gefällt mir«-Angaben gemeinsam haben und was die mit wenigen (wie genau das funktioniert, erklärt er hier.

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Das Ergebnis: Um ein wirklich gutes Selfie zu schießen, eines, auf das die hochgereckten Daumen nur so einprasseln, sollte man das Gesicht am besten bei der Stirn abschneiden - die endlosen Wiederholungen von Bildern wegen Dackelfaltenstirn hätte ich mir also sparen können. Ferner scheint es gut anzukommen, wenn man ein paar Haare ins Bild hängen lässt und den Winkel so wählt, dass das Gesicht etwa ein Drittel der Bildfläche ausmacht. Ein weißer Rahmen um und einen Filter über das Bild zu legen, ist anscheinend ebenfalls sehr gut, genau wie leichte Überbelichtung, spätpubertäre Pickel oder frühgreise Fältchen werden so gnädig überdeckt. Und dann wäre da noch etwas: Es empfiehlt sich, eine Frau zu sein. „Be female" ist Karpathy Rat Nummer eins, bei den Top 100 seines Datensatzes hatte kein einziger Mann den Auslöser gedrückt. Und unter den besten 2000 Bildern fanden sich überhaupt nur 48, auf denen keine Frau zu sehen war.

Völlig egal scheint hingegen: ein spektakulärer Angeber-Hintergrund. Für ein abgefahrenes Selfie machen manche Menschen heute merkwürdige Dinge - sie werfen sich vor Tour de France-Fahrer oder setzen sich auf Gleise. Sie posieren mit der Beute aus einem Bankraub oder mit den Drogen, die sie verkaufen (leider hat die Polizei auch Internet). Oder die Leute posieren stolz vor Sehenswürdigkeiten, vergessen beim Selfie-Schießen aber die Welt um sich herum: Im September fiel ein 66-Jähriger Japaner am Taj Mahal die Treppen hinunter und verstarb, angeblich als 12. Selfie-Opfer dieses Jahr, womit das Ego-Shooten 2015 mehr Todesopfer gefordert hat als alle hungrigen Haie im Meer.

Auch als ich mich damals in den Dolomiten selber knipste, führte das zum Sturz. Der Krampf in der Hand wurde immer schlimmer, ich musste loslassen – mehrere hundert Meter über dem Boden. Die Kamera fiel. An meinem Kletterpartner vorbei und noch viel weiter. Wie sie unten zerschellte, konnte ich leider nicht sehen, aber das »Klatsch« klang wie im Film. Ob mein erstes Selfie dem goldenen Schnitt des Andrej Karparthy entsprochen hätte, habe ich leider nie erfahren.

Foto: Gettyimages / Jermzlee