Frischzellenkur

Unser Autor will seinen Joghurt selber machen. Dafür muss er an Bakterien aus Bulgarien kommen.

»Dein Joghurt schmeckt sauer«, beschwert sich die Tochter. Das Glas, das sie gerade zur Seite stellt, stand zwischen vielen anderen Gläsern mit selbst gemachtem Joghurt im Kühlschrank. Es war schon fast drei Monate zuvor aus Bulgarien gekommen – voll mit einer Kultur wilder Joghurtbakterien, nach denen ich lange gesucht hatte. Ich hatte ein paar Löffel verwendet, um meine eigene Joghurtproduktion zu starten, und den Rest aufgehoben – eine Art Sicherungskopie. Und nun war der Joghurt offenbar trotz der drei Monate noch lebendig. Er war nicht etwa verschimmelt, sondern einfach immer säuerlicher geworden. Vergiss Mindesthaltbarkeitsdaten, denke ich und bin sehr zufrieden.

Unter den unzähligen Joghurtsorten, die es heute gibt, schmeckt mir ein stichfester Joghurt mit kräftigem Aroma am besten. Der Geschmack erinnert mich an meine Kindheit. Diese Joghurtvariante verbreitete sich vor gut einem Jahrhundert von Bulgarien aus über Europa; zuvor hatte ein russischer Wissenschaftler die hohe Lebenserwartung bulgarischer Bauern in Zusammenhang mit deren Joghurtverzehr gebracht.

Seit Jahren versuche ich, so einen Joghurt selbst zu machen, auch weil ich einfach gern archaische Zubereitungen ausprobiere. Und oft wird das Ergebnis besser als alles, was man kaufen kann. Im Fall von Joghurt klingt es leicht: Einen oder zwei Liter Milch auf 42 Grad erhitzen und mit 50 oder 100 Gramm Joghurt vom bulgarischen Typ verrühren – im Handel gibt es mehrere solcher Joghurts, einer heißt sogar »Bulgara-Joghurt«. In vorgewärmte Gläser füllen. Die Joghurtkulturen beginnen zu arbeiten, säuern und legen die Milch dick. Sieben Stunden später ist der Joghurt fertig. Beim Abkühlen wird er noch etwas fester und schmeckt mehr nach Heu und Stall als die ursprüngliche Milch. Manche geben zusätzlich Milchpulver in die Milch oder kochen sie auf, damit der Joghurt später dicker wird. Aber das will ich nicht: Wenn der Joghurt in meinem Mund zerfließt, fühle ich mich sehr erfrischt – genau dieses Gefühl suche ich. Entscheidend ist da der säuerliche Geschmack, aber auch die zarte Struktur meines Joghurts. Wie man die Temperatur über die sieben Stunden Reifezeit möglichst stabil hält, muss man austüfteln. Ich verwende eine Box mit Temperaturfühler und einer Glühbirne als Heizung, aber eine Kühltasche mit ein paar Flaschen heißem Wasser geht auch.

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Dabei hat mich eines aber immer gestört: Wenn ich Milch mit gekauftem Joghurt verrühre, also mit dessen Joghurtbakterien impfe, klappt das zuerst gut. Wenn ich eine Woche später wieder neuen Joghurt ansetze und dafür meinen Joghurt vom ersten Mal verwende, wird auch daraus ein guter Joghurt. Aber nach ein paar Generationen bleibt der Joghurt zu flüssig oder schmeckt nicht mehr. Dann muss ich neuen Joghurt kaufen und den Prozess von vorn beginnen. Das finde ich ungerecht. Schließlich impfen Bulgaren seit Jahrtausenden Milch mit hausgemachtem Joghurt, alles ohne gekaufte Produkte. Ihr Joghurt schmeckt, und die Leute werden uralt. So soll es auch bei mir sein.

Mein Problem sind wohl die Reinzuchtkulturen, mit denen Joghurt kommerziell hergestellt wird. Die beiden Bakterienstämme für meinen Lieblingsjoghurt heißen Lactobacillus delbrueckii subspecies bulgaricus und Streptococcus salivarius subspecies thermophilus. Es sind die jeweils besten und produktivsten Bakterien ihrer Art. In sterilen Molkereianlagen verwandeln sie pasteurisierte Milch zuverlässig in Joghurt. Doch kommt bei mir zu Hause ein Pilz oder ein Virus ins Glas und bringt eine der Bakteriensorten um, ist es vorbei. Im bulgarischen Hausmacherjoghurt sind die gleichen Bakterienstämme aktiv, aber in etlichen Unterarten. Geht eine davon kaputt, arbeiten genug ähnliche Bakterien weiter. Vielfalt macht Systeme stabiler.

Schließlich gab Gencho, der Vater einer bulgarischstämmigen Freundin, einem nach München reisenden Verwandten einen Joghurt für mich mit. Seine Mutter hatte ihn schon während seines Studiums in der damaligen DDR regelmäßig mit ihrem hausgemachten Joghurt versorgt. Gencho erklärte mir ihr System, bezweifelte aber, dass sich die Joghurtkultur aus dem milden Schwarzmeerklima in München wohlfühlen würde. Doch bis jetzt klappt es bestens. Und meine Tochter hat, trotz ihrer Beschwerde, den Joghurt komplett ausgelöffelt.

Foto: Markus Burke, Foodstyling: Akos Neuberger