Das weiße High

Warum träumen so viele Menschen von weißen Weihnachten? Ist es wirklich nur die Sehnsucht nach Schneemännern und Schlittenfahrten? Oder könnte es sein, dass der Schnee auf uns wie eine Droge wirkt?

Über Irving Berlin habe ich gelesen, er habe seinen weltberühmten Schlager White Christmas 1937 im traditionell nicht verschneiten Hollywood geschrieben, als er wegen der Dreharbeiten zu einem Film die Festtage nicht, wie gewohnt, mit Frau und Töchtern in den traditionell tief verschneiten Catskill Mountains nördlich von New York verbringen konnte. Er schrieb am Pool unter Palmen, und so heißt es auch in der ersten, meistens weggelassenen Strophe: »Die Sonne scheint, das Gras ist grün, die Orangenbäume und Palmen wiegen sich« – und erst dann geht es los: »I’m dreaming of a white Christmas …«

White Christmas handelt also nur oberflächlich betrachtet von Gedanken an glitzernde Baumwipfel und das Läuten von Schlittenglocken. Es ist, eine Ebene darunter, das Lied von der Sehnsucht nach der Familie, und es ist auch deswegen der bis heute erfolgreichste Song der Weltgeschichte, ein Lied, dem man im Dezember nicht entkommt.

Seltsam ist es natürlich schon, wie auf diese Weise Schnee und Weihnachten, die Feier der Familie, eine bis heute unauflösliche Verbindung eingegangen sind. Einerseits stellt sich kaum ein Mensch das ideale Weihnachten anders vor denn als Fest in tief verschneiter Umgebung. Andererseits ist auf den Bildern vom Stall in Bethlehem nirgendwo die kleinste Flocke zu sehen, und das traditionelle deutsche Weihnachtswetter, sagt der Deutsche Wetterdienst, »ist schmuddelig und grau«.

Dies ist die Stelle, an der Großvater die Stimme erhebt und von den grimmigen Wintern seiner Kindheit spricht, von den blau gefrorenen Fingern und den roten Wangen, den Schneeballschlachten und den im Backofen schmurgelnden Bratäpfeln, klingeling, klingeling. Je nach Stimmung kann man Opa gewähren lassen, man kann ihm aber auch auf dem Smartphone, das er einem zu Weihnachten geschenkt hat, die Wetter-Statistiken vergangener Jahrzehnte zeigen. Klimawandel hin, Erderwärmung her: Schnee zu Weihnachten war in Deutschland immer die Ausnahme.

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Lügt Großvater? Ist er ein Prahlhans? Will er unseren Neid erwecken? Oder ist er auf der Zugspitze aufgewachsen, dem einzigen Ort Deutschlands, der seit Beginn der Schneedeckenaufzeichnungen zu Weihnachten immer weiß war? (Berlin war es seit 1951 nur acht Mal, und in München liegt auch nur an zwei Fünftel aller Heiligabende Schnee.)

Nein, es ist nur so: Selbst wenn es zwischen 1939 und 1974 einige ausnehmend kalte Winter gab, sie begannen in der Regel erst nach Weihnachten. Bloß erinnert man sich halt ans Schneeschippen am ersten Feiertag morgens sehr viel intensiver als an den Blick in den Nieselregen, so ist der Mensch, sein Gedächtnis ist kein die Dinge korrekt verzeichnender Computer, sondern eine Illusionsmaschine. Den Rest erledigt dann der ewige Schnee in Liedern, Filmen und Schneekugeln. Und eben White Christmas auf dem Weihnachtsmarkt.

Schnee ist ja nur für die Nüchternen unter uns ein Wetterphänomen. Für alle anderen ist er eine die Gefühle intensivierende Droge, ein Halluzinogen. Schnee bedeckt die Welt, er nimmt ihr das Grau zugunsten eines strahlenden Weißes, macht kantige Konturen fließend, segelt sanft auf harte Böden. Er steigert den Genuss, wenn man in einem warmen Zimmer mit anderen zusammensitzt.

Die Sonne scheint, das Gras ist grün …Weiße Weihnachten? Also, erstens: Wenn eine Erwartung enttäuscht wird, kann es auch an der Erwartung liegen.

Zweitens stammte Irving Berlin aus Russland. Er gab als Ort, an dem er 1888 als Israel Beilin zur Welt gekommen war, eine Stadt in Sibirien an. Aber seine Familie lebte im heutigen Weißrussland, als sie 1891 der antisemitischen Pogrome wegen nach New York emigrierte. Der Komponist und Texter von White Christmas, der sich damals so nach seiner Familie im weit entfernten Schnee sehnte, der diese Sehnsucht in ein weltberühmtes Lied verwandelte und der übrigens das Land, das ihn als Kind aufgenommen hatte, liebte wie kein Zweiter, war ein Flüchtling.

Illustration: Dirk Schmidt