Die Easy Rider des Irak

Bei den Babylon Angels, dem einzigen Motorradclub im Irak, kommen verfeindete Volksgruppen wie Sunniten, Schiiten und Kurden gut miteinander aus. Denn alle vereint ein gemeinsamer Traum.

Wenn die Kupplung langsam kommt und du Fahrt aufnimmst, wie fühlst Du Dich dann? - »Frei von Allem, auf eine Art, die ich nie erlebt habe«, schreibt Issam Salih. Und wenn Ihr zusammen unterwegs seid? - »Unverwundbar«, sagt der bärenhafte Mann aus Basra. Er weiß natürlich, dass niemand unverwundbar ist. Auch mit der Freiheit verhält es sich kompliziert.

Issam Salih ist der Gründer und Präsident der Babylon Angels MC, des einzigen offiziell anerkannten Motorradclubs des Irak. Das Nationale Olympische Komitee hat die Gruppe als gemeinnützigen Sportverein anerkannt. Aufnahmen von gemeinsamen Ausfahrten zeigen Männer mit strahlenden Gesichtern, eine Kolonne auf den Straßen Bagdads. Von den Soziussitzen schwenken sie Flaggen in den Nationalfarben des Irak: schwarz, rot und grün. Zweigstellen gibt es in Basra und in Bagdad, wo die Babylon Angels den Beinamen Iraq Bikers tragen.

Issams Honda Shadow Ace ist eine irakische Spezialanfertigung, geformt von den Zwängen des Landes. Geht etwas kaputt, repariert er es selbst. Ersatzteile lässt er nachbauen. Mit einer gigantischen Lenkergabel erinnert das Motorrad an jenes von Dennis Hopper in Easy Rider, auch wenn der Hersteller ein anderer ist. »Wir fahren fast alle klassische Hondas mit Wasserkühlung«, sagt Issam. »Die fahren auch im Sommer. Harleys bleiben liegen, weil die Motoren der überhitzen.« Die Technik funktioniert. Frei bewegen können sich die Babylon Angels trotzdem nicht.

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Die staatlich anerkannten Sportler sehen aus wie Bandido-Türsteher im Ruhrgebiet oder kalifornische Hells Angels. Sie tragen Kutten, Lederhosen und Cowboystiefel. Viele sind tätowiert. Und sie haben Familien und gehen Berufen nach. Während sich die stilistischen Vorbilder im Westen bewusst außerhalb der Gesellschaft positionieren, wollen die Babylon Angels einen Platz in ihrer Mitte. Nur wo diese Mitte liegt – und ob es sie überhaupt noch gibt –, kann derzeit im Irak niemand sagen.

Seit Jahrzehnten ist das Land Schauplatz blutiger Konflikte. Die Golfkriege gegen den Iran, Kuwait und die USA haben es verwüstet. Wirtschaftssanktionen gegen das Regime von Saddam Hussein haben es verarmen lassen. 1991 wagten die Schiiten den Aufstand gegen den Diktator. Saddam rächte sich. Wie viele Schiiten den Massakern zum Opfer fielen, ist bis heute umstritten. Gegen die autonome kurdische Minderheit im Norden des Landes setzte der Diktator Giftgas ein.

Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 gewannen radikale Islamisten an Einfluss. Mehr als die Hälfte der Christen verließ das Land. Gleichzeitig heizten Terrorgruppen den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten an. Ihr Ziel: den Irak weiter destabilisieren und einen Islamischen Staat etablieren. Heute gilt der IS als globale Bedrohung. Und die Geschichte der sozialen Zerrüttung im Irak schreibt sich fort.

Das Geflecht der Feindschaften ist komplexer denn je. Die blutigen Konflikte haben Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen gesät. Am Boden bekämpfen sich IS-Verbündete, irakische Sicherheitskräfte, kurdische Peschmerga und verschiedene Milizen. Aus der Luft droht Gefahr durch Kampfflugzeuge und Drohnen der Anti-Terror-Koalition. Wenn die Konflikte eine alte Verletzung sind, entzündet mit neuen Keimen, müssen die Babylon Angels bei der Heilung helfen, glaubt Issam. »Früher waren wir gleich. Es gab keine Unterschiede«, sagt er.

Im Club machen Sunniten, Christen, Schiiten und Kurden gemeinsame Sache. Gespräche über Religion und Politik sind verboten, damit die traumatische Vergangenheit die Vereinsarbeit nicht stört. Die Babylon Angels wollen zeigen, dass ein friedliches Miteinander möglich ist, dass Gemeinsamkeiten schwerer wiegen als die Unterschiede. »Wir teilen die gleiche Liebe für unseren Sport«, sagt Issam. »Und wir sind alle Iraker.«

In der Hauptstadt enden die Ausfahrten meist an einem der Militärcheckpoints. Die Kolonne ist zu groß geworden, um unbemerkt zu bleiben. Und die Armee kann die Sicherheit der Gruppe nicht in allen Vierteln gewährleisten. Wie viele Mitglieder es sind, will auch Bilal nicht sagen, der als Road Captain in Bagdad die Verantwortung trägt. »Wir glauben, dass es Unglück bringt, eine Zahl zu nennen«, schreibt er. Davon gebe es schon genug.

Im März sprengte sich ein Selbstmordattentäter bei einem Fußballspiel südlich von Bagdad in die Luft – 30 Tote, rund 50 Verletzte. Im Januar starben bei Selbstmordanschlägen auf ein Café und ein Einkaufszentrum mehr als 30 Menschen. Im Sommer sprengte sich ein 21-Jähriger deutscher IS-Rekrut auf einem Marktplatz in die Luft. Die Anschlagsgefahr ist Teil des Alltags. Und weil der Terror auf die ganze Gesellschaft zielt, kämpft der Club an allen Fronten.

»Mehrmals im Jahr spenden wir alle gemeinsam Blut«, erzählt Issam. »Wir gehen in Waisenheime und unterstützen Kinder, die im Krieg oder durch Anschläge beide Eltern verloren haben. Und wir unterstützen die Polizei als Verkehrslotsen«, sagt er. Zuletzt kriegt Issam häufig Anfragen aus anderen Städten – von Menschen, die von den Babylon Angels gehört haben und ihnen nacheifern möchten. Wegen ihres Engagements für die Gemeinschaft akzeptieren inzwischen selbst konservative Imame die Biker, deren Aussehen an keine Tradition des Landes anknüpft.

Wenn sich weitere Gruppen nach dem Vorbild der Babylon Angels bildeten, sei das nur gut, sagt Issam. »Wir hoffen, dass unser Sport zum Spiegel für die Gesellschaft wird, damit der Irak ein besserer Ort werden kann.« Wie das Leben in zehn Jahren aussieht? Seine Antwort klingt bescheiden: »Ich hoffe, man kann fahren, ohne angehalten zu werden«. Im heutigen Irak ist das ein Traum. Aber Issam träumt nicht mehr allein.