Frau im Spiegel

Unser Autor konnte dieses eine Gemälde, das so oft als Buch-Cover verwendet wird, nicht mehr sehen. Bis er dessen wahren Sinn verstand.

Ein paar Werke aus der Geschichte der Malerei gibt es, die von Buchgestaltern immer wieder als Motive für Umschläge herangezogen werden. Eins von ihnen ist der Rückenakt Frau vor einem Spiegel, den der dänische Maler Christoffer Wilhelm Eckersberg im Jahr 1841 schuf. Ich mochte dieses Bild nie, eben weil es den Buchgestaltern so angenehm ist. Es schien mir eine Einladung zur unlauteren Lektüre zu sein, zu einem Lesen, das seine wichtigste Antriebskraft aus der Selbstzuwendung des Lesers, genauer: der Leserin zieht. So wie die Frau auf dem Bild sich mit sich selbst beschäftigt, mit der rechten Hand am Dutt und den Blick ins Nichts gerichtet, so schien mir der Zweck des Lesens vorgegeben zu sein. Das Superweib war zwar nur ein Roman von Hera Lind. Aber es war ein Werk von militanter Selbstgefälligkeit, das über Jahre den deutschen Buchmarkt prägte. Und in eben dieser Selbstgefälligkeit meinte ich auch den Grund für die Beliebtheit der Frau vor einem Spiegel erkennen zu können.

Dabei schätze ich das Werk von Christoffer Wilhelm Eckersberg sehr, wie ich überhaupt das »Goldene Zeitalter« der dänischen Malerei mag, die Periode nordischer Kunst, die mit diesem Maler beginnt und um das Jahr 1900 mit Vilhelm Hammershøi endet. Dass sie überhaupt »Goldenes Zeitalter« heißt, also den Anspruch erhebt, sie sei mit der Kunst der alten Griechen auf eine Stufe zu stellen, ist ein starkes Stück. Aber so sind diese Gemälde offenbar gemeint: als Bebilderung eines idealen Zeitalters, in dem zufriedene Bürger eines wohlgeordneten Staats sich in gepflegten Städten und reichen Landschaften bewegen. Das »Goldene Zeitalter« erscheint als eine Kunst der Zufriedenheit, weshalb es zum Beispiel auch einen Sinn für das Doppelkinn und den Schmerbauch als künstlerische Motive hat. Zur Geschichte dieser Kunstperiode gehört zudem, dass sie die Dänen lange Zeit für sich allein besaßen, bevor sie vor etwa dreißig Jahren für ein internationales Publikum interessant wurde.

Im vergangenen Herbst wurde im Kopenhagener Statens Museum for Kunst die größte Ausstellung gezeigt, die Eckersberg je gewidmet war. Diese Schau barg eine Entdeckung, und zwar weniger weil sie, etwa in Gestalt von mehr oder minder pornografischen Werken dieses Malers (es waren nicht wenige), offenbarte, dass es auch in bürgerlichen Verhältnissen minder wohlgeordnete Winkel gab. Eine Entdeckung war sie vor allem, weil man den Maler darin als Mathematiker und Philosophen kennenlernen konnte. Ein großer Teil seines Werkes besteht aus Bildern, die als Konstruktionen gedacht sind: im mathematischen Sinn, also als Experimente mit Räumen und Perspektiven, und im philosophischen Sinn, insofern es darin um »Grundbilder« (das Wort stammt von Eckersberg) individueller und gesellschaftlicher Zustände gehen soll, die mit realen Verhältnissen nur bedingt etwas zu tun haben. Deswegen malte der Künstler unter anderem auch komische Bilder, solche zum Beispiel, in denen die Schatten der Menschen etwas anderes treiben, als ihre Besitzer tun.

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Und endlich verstand ich: Das Bild Frau vor einem Spiegel handelt gar nicht von behaglicher Beschäftigung mit der eigenen Schönheit. Die Frau schaut in den leeren Raum zwischen Tapete, Tisch und Schatulle. Sie blickt ins Nichts, in das gähnende Loch der Abstraktion. Selbstgenuss hatte ich vermutet. Aber nein, auf der Vorderseite der nackten Frau beginnt die moderne Kunst, lange vor deren Zeit. Wenn das die Buchgestalter wüssten.

Illustration: Jill Senft