»Schatz, mach dich doch schon mal untenrum frei«

Früher waren die Väter bei Geburten außen vor, später Randfiguren, heute sind sie mittendrin statt nur dabei und helfen aktiv mit. Die Hebamme erzählt in dieser Woche von einem ambitionierten Vater, der plötzlich nackt vor ihr stand.

»Wir haben seit zwei Stunden Wehen«, sagte der Mann, der mit seiner Frau in den Kreißsaal gekommen war, aufgeregt und hielt mir sein Handy unter die Nase. »Laut App ist der Muttermund jetzt bei etwa sechs Zentimetern. Schatz, mach dich doch schon mal untenrum frei.« Die Frau und ich sahen uns an und schmunzelten: Wir würden heute einen Mitstreiter im Kreißsaal haben.

Tatsächlich hatte sich Herr N. auf die Geburt seiner Frau so akribisch vorbereitet wie ein Bergsteiger auf eine Himalaya-Expedition. Krankenkassen-Karte, Tasche, Handykabel – alles hatte er griffbereit. In einem Korb lagen Snacks und Getränke. Er hatte Das Große Schwangerschaftsbuch gelesen und sollte später sogar aus der amerikanischen Schwangerschaftsbibel What to expect when you're expecting zitieren. Hätte es im Geburtsvorbereitungskurs Noten gegeben - Herr N. hätte auch sein Summa cum laude einlaminiert und mitgebracht.

Heute war G-Day, und das war irgendwie auch sein Tag, das Gelernte wollte endlich in die Praxis übertragen werden. Nach zwei Stunden war der Muttermund allerdings noch immer kaum geöffnet - natürlich hatte seine App daneben gelegen. Sie beruht auf statistischen Mittelwerten, in der Realität völlig unbrauchbar.

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Stattdessen klaffte an meinem Bauch ein riesiges Loch, das Herr N. mir dort hineingefragt hatte. Warum die Herztöne des Babys so viel höher als die seiner Frau seien? Ob sich das Kind rechts oder links rum durch den Geburtskanal schrauben würde? Wie sich die PDA pharmakologisch zusammensetze? Geduldig erklärte ich ihm alles – vielleicht würde das viele Reden Frau N. ja ablenken.

Nur eine Frage hörte ich von Herrn N. die ganze Zeit nicht, die klassische Väter-Frage, wann denn nun die Geburt losgehe. Diesen film- und fernseh-bedingten Irrglauben, wonach sich die Geburt nur auf die Presswehen-Phase am Schluss beschränke, muss ich sehr oft richtigstellen. Aber bei Herrn N. nicht, er war Profi. Es war eine Freude, mit ihm zu arbeiten.

Erst seit den 70er und 80er Jahren sind Väter überhaupt im Kreißsaal dabei, auch nicht alle, und auch nicht permanent, aber doch die meisten. Seit einigen Jahren, ich würde sagen, ungefähr seit es auch die gesetzliche Elternzeit gibt, beschränken sich viele Väter nicht mehr darauf, am Kopfende des Bettes zu stehen und Händchen zu halten, sie wollen aktiv mithelfen. Ich ermutige sie auch dazu und verteile kleine Aufgaben, wenn sie sich selbst nicht trauen, initiativ zu werden.

Ein Kümmerer wie Herrn N. ist gold wert, vor allem in Nächten, wo ich zwischen den Kreißsälen wechseln und mehrere Frauen gleichzeitig versorgen muss. Herr N. massierte, brachte Wasser, tupfte die Stirn seiner Frau ab. Doch den Muttermund bekam auch er nicht auf. Ich schlug den beiden vor, dass wir es doch mal mit der Wanne probieren könnten. Das leichte Körpergefühl im Wasser und die warme Temperatur tun den Frauen oft gut.

Ich ließ das Wasser ein, half der Frau beim Ausziehen, dimmte das Licht – als Herr N. mit einem Mal nackt vor mir stand. »Huch! Wollen Sie etwa auch mit rein?«, fragte ich und versuchte sehr angestrengt Augenkontakt zu halten. Da war er schon über den Wannenrand geklettert. Seine Frau blickte mich unsicher an: »Ist das ok?« Alles, was ihr gut täte, sei mir Recht, versicherte ich ihr. Und es tat ihr gut.

Wie beim Zweier-Rodel hielt Herr N. seine Frau von hinten im Arm. Ein riesiger menschlicher Doppelwhopper, die obere Hälfte keuchte, die untere entspannte sich nun auch endlich mal, es war perfekt.

Als wir später wieder zurück in den Kreißsaal gingen, platzierte Herr N. sich seitlich von seiner Frau, aber widmete sich den blinkenden Zahlen am Wehenschreiber mehr als ihr. Ab und an notierte er die Zahlen mit Bleistift in ein Heft. Die Abstände der Wehen wurden nun kürzer und heftiger. Abwechselnd sein Notizbuch und den Monitor studierend, zählte er herunter: »Schatz, Achtung, in drei, zwei, eins hast du wieder eine Wehe!« – »Sag blooooooooooß«, hallte es durch den Kreißsaal.

Ich grinste vor mich hin. Besser so einen Vater als einen, der über Stunden sein Handy angähnt. Und besser so einen als den steifen Herrn im Dreiteiler neulich, der wirkte als hätte eine Zeitkapsel ihn aus den 50er Jahren in die Jetztzeit gebeamt. Der Kreißsaal schien für ihn atomares Sperrgebiet zu sein, obwohl ich ihn mehrmals einlud, dabei zu sein; und als ich ihm schließlich das Kind überreichte, hielt er es mit ausgestreckten Armen von sich weg und fragte irritiert: »Und jetzt?« Nicht nur sein altmodischer Anzug sprach aus allen Fasern: Ich gehöre einer aussterbenden Art an. Herr N. dagegen hatte schon vor Stunden angekündigt, er wolle sein T-Shirt sofort ausziehen, wenn das Baby da sei. Hautkontakt sei ja so wichtig.

Seine zierliche Frau ächzte noch immer unter ihren Wehen. Der Wehenknopf des CTG, der den Druck in der Gebärmutter auf einer Skala zwischen 0 und 100 angibt, stieg nun in jeder Wehe immer höher an.  Als wir bei 98 ankamen, feuerte Herr N. seine Frau an: »Los, Schatz, du knackst bald die 100«. Er war inzwischen selbst schweißgebadet. Ich erklärte ihm, dass dann aber kein Glöckchen bimmle wie beim Hau-den-Lukas. Jetzt lachten wir alle. Und dann war es soweit. »Wenn Sie möchten, könnten Sie jetzt das Köpfchen sehen,« sagte ich.

So ganz weiß ich vorher nie, wie Männer auf diesen Anblick reagieren, wenn ihr Kind zum ersten Mal sichtbar wird, ein paar Zentimeter Schädeldecke machen plötzlich real, was monatelang nur eine abstrakte Vorstellung war. Ein Moment größer als Kino, größer als alles. Manche finden das noch immer befremdlich, das Blut, die feuchten Haare, diese unverstellte Sicht zwischen die Beine der Frau, aber immer mehr Väter nehmen sich ein Herz. Immer nur her mit den Wundern.

Herrn N.s Augen leuchteten vor Faszination und Rührung. »Schatz, sie hat lauter braune Härchen!«, beschrieb er seiner Frau, die vor uns kniete und keinen Blick, keine Berührung wagte. »Legen Sie Ihre Hand hier hin, leicht unterhalb vom Gesäß Ihrer Frau«, erklärte ich ihm, »die Kleine kommt jetzt jeden Moment.« Er tat, wie ihm geheißen. Seine Frau gebar das Kind in seine Hände. Und ich war auf eine gute Art kurzzeitig arbeitslos.

Illustration: Cynthia Kittler