Danke, Boris

Während viele über Boris Becker spotten, findet Axel Hacke, dass der frühere Tennisprofi eine wichtige gesellschaftliche Rolle erfüllt – als überaus zuverlässiger Lieferant von Gesprächsstoff.

Illustration: Dirk Schmidt

Unter den Berufen, die das Leben bereithält, ist der seltsamste der des Promis: Zeitgenossen, die davon leben, dass wir sie kennen. Das Berufsfeld reicht vom B-Promi, der sein Brot als Fischrückstände-Schlürfer im Dschungelcamp erwirbt bis zu Topshots wie Prinz Charles, den Pandas im Berliner Zoo oder George Clooney, dem »graumelierten Frauenschwarm« (Gala).

Ausbildungstechnisch gehört der Profiprominente zu den »freien Berufen«. Das ist wie bei Journalisten: Man muss nichts können, Fähigkeiten schaden aber auch nicht. Über Kim Kardashian habe ich gelesen, sie sei durch ein privates Video bekannt geworden, das sie beim Sex mit dem Sänger Ray J zeigte. Frau Kardashian verklagte daraufhin die für die Veröffentlichung verantwortliche Porno-Firma, ließ die Klage jedoch gegen Zahlung von fünf Millionen Dollar fallen. Seitdem ist Kims Leben eine Perlenkette von Reality-Soaps, Modekollektionen, Boutique-Ketten-Eröffnungen, Raubüberfällen, Hochzeiten, Scheidungen, Kindsgeburten sowie Großaufnahmen ihrer Gesäßmuskulatur.

Darüber amüsiert zu lächeln ist leicht, aber nicht richtig. Der Berufsprominente erfüllt eine so wichtige gesellschaftliche Funktion wie der Bäcker: Wie der Mensch zur Ernährung des Brotes bedarf, benötigt er zu seiner sozialen Existenz den Klatsch. Ohne das Übereinander-Reden gibt es keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Da die meisten von uns aber so sterbenslangweilig sind, dass man über sie beim besten Willen keine zwei Minuten sprechen kann, benötigen wir Klatschfiguren, die darauf spezialisiert sind, neue Nachrichten über sich selbst herzustellen. Wie die Biene den Honig macht, produziert der Prominente News. Diese Aufgabe ist so wichtig wie der Bau von Autos oder das Reinigen von Toiletten.

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Dass Einfallsreichtum nicht schadet, ist offensichtlich. Lothar Matthäus hat seit geraumer Zeit keine andere Idee mehr gehabt, als immer andere Frauen zu heiraten, das verbraucht sich. Boris Becker indes: ein Großer des Gewerbes! Zunächst der unvergessliche erste Wimbledon-Sieg 1985, dann die anderen Triumphe samt Becker-Faust und Becker-Hecht, darauf natürlich das Übliche, Hochzeiten, Scheidung, Kinder mit unüblichen Namen. Auch die Steuer-Affäre war Prominenten-Routine.

Aber eine Besenkammer-Affäre samt Samenraub! Sympathie für Hausbesetzer! Eine Karriere als Pokerspieler! Nun eine astreine Insolvenz nach Jahrzehnten des Lebens auf größtem Fuß! Dieser Becker hat, was einer fürs Leben in Bunte, Gala, auf den vermischten Seiten und in der Twitter-Hölle braucht: die Bereitschaft zur Lächerlichkeit (der Fliegenklatschen-Hut bei Oliver Pocher), aber auch die Fähigkeit, der Selbstentwürdigung wieder zu entrinnen (Trainer des Weltranglistenersten Djokovic). Er besitzt den Willen zum Erfolg und zum Scheitern und zum Comeback und zum erneuten Absturz, kurz, er hat die unwiderrufliche Entscheidung zur schrecklichsten aller Daseinsformen getroffen: einem Leben in aller Munde.

Und natürlich ist es ganz und gar gleichgültig, wie man Becker findet, ob blöd oder durchtrieben, ob er einem leidtut oder man ihn verachtet, ob man ihn immer noch bewundert oder nicht mehr. Das Entscheidende ist, dass man seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland kein Leben führen kann, ohne ab und zu über Becker zu reden. Der Prominente ist der Gesprächsstoff-Lieferant unserer Gesellschaft, ohne diesen Stoff wären wir Ameisen oder Paviane. Und niemand liefert zuverlässiger als unser lieber Herr Becker! Wenn alle Bürger ihre Berufe mit so selbstvergessener Leidenschaft ausübten wie er – das muss mal gesagt werden –, stünde es besser um diese Welt.