Privatsphäre

Jeder braucht sie, jeder hat ein Recht auf sie – und sie ist ständig bedroht. Beschworen wird die Privatsphäre meist in Form einer bitteren Klage: Prominente und Stars flehen die Medien und ihre Paparazzi an, ihnen wenigstens einen letzten Rest davon zu lassen, Angestellte fürchten den Zugriff der Arbeitgeber auf ihre Geheimnisse, Bürger wehren sich gegen die Erfassung und Ausspähung ihrer Daten durch den Staat und durch die Wirtschaft. Man kann sich die Privatsphäre also als eine Art Bannkreis vorstellen, den jedes Individuum mit Kreide um sich zieht – aber der Druck von außen ist stark, und der Kreis wird immer kleiner. Nur manchmal gelingt es, die Mächte der Neugier kurz zurückzuschlagen: Im Protest gegen die Volkszählung des Jahres 1987 zum Beispiel, als das Bundesverfassungsgericht das Recht auf »informationelle Selbstbestimmung« erfand – und auch jetzt wieder, da die obersten Richter die »Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme« zu einem neuen Grundrecht erheben.

Andererseits bedeutet der Wert des Privaten nicht viel. Prominente und Stars entblößen sich freiwillig, wohlkalkuliert und mit so klarem Blick auf ihre wirtschaftlichen Interessen, dass die Neugier und andere Formen der Gier, die dabei geweckt werden, niemanden überraschen sollten. Nicht-Prominente stehen geradezu Schlange, um in Krawall-Talkshows über intimste Dinge zu berichten, Fernsehteams samt Schuldenberatern, Heiratsvermittlern und Supernannys in ihr Leben zu lassen, für einen Moment der Aufmerksamkeit ihre ganze Existenz zu offenbaren. Und die Teilnehmer der »Social Networks« im Internet, fast 400 Millionen User auf MySpace, Facebook, StudiVZ et cetera, enthüllen höchst freiwillig jede Menge persönliche Daten, Vorlieben, Einstellungen, sichtbar für alle Welt und so weit gestreut, dass ein späteres Löschen vielleicht nie mehr möglich ist. Wie sich das alles mit der rituellen Beschwörung der Privatsphäre vertragen soll, ist ein Rätsel.

Die Antwort liegt vielleicht darin, dass die Privatsphäre als solche eine relativ junge Erfindung ist. Zwar gibt es eine Unterscheidung zwischen der Sphäre der Politik und der Sphäre des Haushalts schon bei Aristoteles, aber der Mensch, über weite Teile seiner Entwicklung in Stammesgemeinschaften oder Groß-familien geborgen, kannte die Vorstellung des Privaten lange Zeit nicht einmal als Idee. Und die Kirche forderte auch dann noch den Blick ins Innere des Individuums, die Beichte seiner geheimsten Gedan-ken und Gefühle, als es längst der Familie oder dem Dorf entkommen war. So wird der Begriff »Privacy« erst 1890 in Harvard definiert, von stolzen amerikanischen Bürgern, die sich gegen Kirche und Gemeinschaft abgrenzen und schlicht das Recht fordern, »in Ruhe gelassen zu werden.«

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Das möchten wir bis heute – einerseits. Der dunkle Spiegel der Privatsphäre ist jedoch, virulent, noch immer vorhanden, die Angst vor der individuellen Vereinsamung. Die moderne Stadt als Moloch, in der man verloren gehen kann, der entfremdete Mensch ohne Wurzeln, der in der anonymen Masse verschwindet und seine Seele verliert, das waren einmal die großen Schreckensszenarien der Vergangenheit. Und sie sind, weitgehend unbewusst, noch immer wirkungsvoll. Die Leiche, die verwest in einem Mietshaus gefunden wird, ohne dass den Nachbarn etwas aufgefallen wäre, ohne dass irgendjemand das Fehlen eines Menschen bemerkt hätte – sie markiert den Gipfelpunkt der Privatsphäre und zugleich ihren Kollaps: Sosehr möchte dann doch niemand in Ruhe gelassen werden.

Die Notwendigkeit steht ganz außer Frage, der Datensammelwut von Behörden und Firmen, der Schnüffelei von Medien und Mitmenschen immer wieder entgegenzutreten – aber genauso verständlich und menschlich ist der Impuls, sich selbst zu offenbaren und dadurch Verbindung zu anderen herzustellen. Denn für das Ideal der Privatsphäre in Reinform ist der Mensch, das alte Herdentier, vielleicht gar nicht geschaffen.