Arthur lebt

Als unsere Kolumnistin, die Hebamme, in dieser Woche einen jungen Bekannten wiedertrifft, ist sie zu Tränen gerührt. Denn bei seiner Geburt war das Kind nicht viel größer als eine Amsel.

Illustration: Cynthia Kittler

»Zwei Jahre – zwei-Wort-Sätze« ist so eine Faustregel beim Sprachfortschritt von Kleinkindern. Mama schläft. Oskar Hunger. Der junge Mann, der gerade an Papas Hand im Krankenhausflur auf mich zuwackelte, war definitiv noch keine zwei – aber schon eine Labertasche vor dem Herrn: »Wer bistn du? Ich bin der Arthur. Meine Mama liegt hier im Krankenhaus, ich bekomme eine Schwester.« Arthur plapperte und plapperte. Erzählte, welche Spielsachen er gedachte, mit der Schwester zu teilen (die Ritterburg), welche eher nicht (Hase »Molly«), was sein Freund aus der Kita zu allem sagt und was er dem Baby zu Weihnachten schenken wolle (Knete).

Der Vater und ich sahen uns verzaubert an, nichts ist so amüsant wie eine Live-Übertragung aus dem Maschinenraum eines Kleinkind-Gehirns. »Kennen Sie uns nicht mehr, Maja?«, fragte mich der Vater unvermittelt. »Arthur lag da drüben«, er zeigte den Flur hinunter. »Im Brutkasten. Wir waren fast drei Monate hier«. Ratterratter. Das Rekord-Frühchen! Mit einem Mal fühlte sich das Ohr-Abkauen durch den Jungen an wie die schönste Streicheleinheit, die ich seit langem bekommen habe. »Ach, du bist das, Arthur!« Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kenne dich noch, da warst du so klein.« Meine Hände formten die Größe einer Amsel.

Es war eine der dramatischsten Frühgeburten gewesen, die unser Krankenhaus bis heute verzeichnet hat. 410 Gramm hatte Arthur gewogen und damit unter der magischen 500-Gramm-Grenze gelegen: Er war ganze 16 Wochen zu früh oder anders gesagt: Er war 24 + 2. 24 Wochen und 2 Tage. Weil besonders bei Frühchen jeder einzelne Tag im Bauch der Mutter zählt, werden die Tage zur Schwangerschaftswoche mit angegeben.

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Arthurs Lunge war noch nicht ausgereift gewesen, er hatte kein Essen verdauen können und wegen einer Darminfektion operiert werden müssen. Sein Leben war am seidenen Faden gehangen beziehungsweise an durchsichtigen Schläuchen: einem fürs EKG, einem für die Atmung, einer Magensonde, einem Zugang für Medikamente. So viel Gerät, so wenig Mensch.

Als Perinatalzentrum sind wir für extreme Frühchen wie ihn bestens ausgestattet, unsere zehn Brutkästen sind fast immer belegt. Die Intensiv-Schwestern legen rote Decken darüber, damit die Babys, deren Augen noch geschlossen sind, sich noch im Bauch wähnen. In einem Raum voller Sorgenkinder war der winzige Arthur das größte. Wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist, sah er aus. Die Haut: rot und dünn wie Pergament. Der zarte Brustkorb bebte hektisch.

Was für gemischte Gefühle so ein Brutkasten doch auslöst, denke ich immer auf der Frühchen-Station: Einerseits ist er Sinnbild für die Macht der Medizin, er ist Versorgungs- und Rettungsstation. Andererseits führt einem nichts die Zerbrechlichkeit des Lebens mehr vor Augen als diese Kapsel, die die Eltern – oft für Monate – zum Außen-Vor-Sein verdammt.

»Wir konnten ihn so lange nicht anfassen«, sagte Arthurs Vater nun und holte mich aus meinen Gedanken. »Wir haben so viel mit ihm geredet, einen ganzen Bücherschrank haben wir ihm vorgelesen. Vielleicht spricht er deswegen so gut.« – »Das ist... so toll«, ich rang noch immer um Fassung. »Arthur, Mensch...«

Dann erzählte mir der Vater nochmal von diesem »heiligen Moment«, als er zusammen mit seiner Frau nach Wochen zum ersten Mal das tun durfte, was für frisch gebackene Eltern eigentlich normal ist: das eigene Kind anfassen und auf den Arm nehmen. Dabei wird das Frühchen in einen speziellen Bonding-Gurt gelegt, Känguruhen nennen wir das.

Anfangs wurde Arthurs Alter nach unten korrigiert. Die Monate, in denen ein Baby noch gar nicht auf der Welt sein sollte, werden bei Frühchen abgezogen und der Entwicklung angepasst. Heute, nicht einmal zwei Jahre später, war Arthurs korrigiertes und tatsächliches Alter in vielen Bereichen deckungsgleich.

Es wurde damals lange intern diskutiert, ob man Arthurs Überleben bekanntmachen sollte. Die Leute lieben Rekordgeschichten wie diese, und unsere Presseabteilung auch. Ist ja auch gut fürs Renommee einer Klinik. Aber es macht auch falsche Hoffnungen. Dass ein so extremes Frühchen keinerlei Schäden davon trägt, ist leider nicht der Normalfall. Auch die Vorstellung, man könne das Minimalgewicht immer weiter nach unten drücken, ist falsch. Mein Chef hatte sich schließlich gegen eine Pressemitteilung ausgesprochen.

Bewegt vom Wiedersehen mit Arthur ging ich wenige Tage später zum Frühchenfest unserer Klinik, ich hatte mir das schon länger vorgenommen, aber mein Dienstplan hatte es nie zugelassen. Es findet jedes Jahr im Sommer im Park des Krankenhauses statt. Ehemalige Frühchen sind mit ihren Eltern eingeladen, es wird gegrillt, Spiele werden gespielt. Jedes Kind bekommt ein T-Shirt, auf dem die Schwangerschaftswoche und das Geburtsgewicht stehen. Die Trophäen ihres Überlebens.

Es gibt Studien, die zeigen, dass sich Eltern von Frühchen häufiger trennen; wie eine Totgeburt sind auch sie eine massive Belastungsprobe für eine Beziehung. Wer als Paar auf diesem Fest erscheint, dachte ich mit Blick auf die Gäste, der feiert auch sich selbst.

Am Grill traf ich einen 12-Jährigen, der größer war als ich. Ungläubig starrte ich auf sein Shirt: SSW 26 / 600 Gramm. Aber ich sah auch Kinder, die vier Wochen länger im Bauch und bei der Geburt doppelt so schwer gewesen waren. Die eine starke Brille hatten und sichtbare Behinderungen davon getragen haben. Bestimmt war es nicht leicht für die Eltern, sie neben Kindern wie Arthur auf dem Fest zu sehen. Mein Chef hatte richtig entschieden.