Trautes, hochheiliges Paar

Weihnachten vor einigen Jahren: Eigentlich wollte unsere Kolumnistin, die Hebamme, nach Hause fahren, doch dann verbrachte sie Heiligabend auf der Station – wo es erst feierlich, dann dramatisch wurde.

Illustration: Cynthia Kittler

Es muss im Dezember 2012 oder 2013 gewesen sein, das Dienstplan-Karussell war jedenfalls gnädig zu mir gewesen, Spätschicht am 22., Frühschicht am 23. Auch wenn das hieß, dass ich dafür Silvester in der Klinik verbringen würde, war der Plan, an Heiligabend bei meiner Familie zu sein, mit einer von Eierlikör ausgekleideten Magenwand unterm Christbaum zu liegen und das Krankenhaus zumindest für ein paar Tage zu vergessen.

Es sollte anders kommen. Meine gute Freundin A. war seit ein paar Tagen bei uns auf Station. Sie litt unter einer Präeklampsie, im Volksmund oft Schwangerschaftsvergiftung genannt. Ich mag das Wort nicht, denn da ist kein Gift im Körper. Präeklampsie kann man am besten als eine Autoimmun-Reaktion des Körpers auf die Plazenta erklären, die in der zweiten Schwangerschaftshälfte auftritt und mit drei Symptomen einhergeht: Bluthochdruck, übermäßige Ausscheidung von Eiweiß im Urin und teils massiven Wassereinlagerungen. All das zieht oft eine Kaskade an Komplikationen nach sich. Es kann zur Unterversorgung des Kindes kommen oder zu schweren Funktionseinschränkungen der Organe, vor allem der Nieren.

Noch immer ist Präeklampsie eine der Hauptgründe, weshalb Mütter sterben, vor allem in Ländern ohne ausreichende medizinische Versorgung. Es gibt sie in leichten und schweren Formen, ganz nah am errechneten Termin (das kriegt man in aller Regel und bei engmaschiger Überwachung in den Griff) oder schon ab der 20. Woche. Das ist dann komplizierter.

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A. war in der 36. Woche, doch die Situation hatte sich trotz Blutdruck senkender Medikamente nicht gebessert. Sie hatte allein in dieser einen Woche, in der sie nun bei uns war, acht Kilo zugenommen. Alles eingelagertes Wasser. Ihre Finger hatten jegliche Kontur verloren, sie sahen aus wie dicke, aus der Form geratene Vanillekipferl, die Haut glänzte gespannt. Sie konnte ihre Beine nicht mehr beugen, so massiv saß das Wasser in ihrem Gewebe und den Knien.

Normalerweise versuchen wir, vor Weihnachten möglichst viele Patienten zu entlassen. Kaiserschnitte und OPs sind – so es keine Notfälle sind – auch kaum angesetzt. Sogar »Beurlaubungen« machen wir an Weihnachten mal, so dass die Frauen, die nicht entlassen werden können, wenigstens für ein paar Stunden nach Hause können.

Irgendwann am 23. war klar: A. würde Heiligabend in der Klinik verbringen, die Lage war zu ernst. Morgens sollte die Geburt eingeleitet werden. Ich steckte in einem Dilemma. Über die gesamte Schwangerschaft hinweg war ich ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, jetzt konnte ich sie doch nicht alleine lassen. A. weinte, wegen der Schmerzen in den Beinen, wegen der Unsicherheit, ob es ihrem Baby gut geht – und wegen Weihnachten. »Jetzt haben wir den Baum ganz umsonst gekauft«, sagte sie aufgelöst. Ihr Freund versuchte sie zu trösten: »Liebes, nächstes Weihnachten haben wir wieder einen und unser Einjähriger stolpert dann schon drum herum, versprochen!« Aber es half nicht.

Ich rief meinen Vater an, Notfall im Krankenhaus, sagte ich. Wird eng mit Heiligabend, vielleicht schaff ichs zum Mittagessen am 25. Er war nicht begeistert.

Immer wieder sah ich während meiner Schichten nach A. An Heiligabend meldete sie sich mit leichten Wehen bei mir und ich machte mich auf ins Krankenhaus – in zivil, ich hatte ja offiziell keinen Dienst. Als ich ihr Zimmer betrat, konnte ich nicht glauben, was ich sah: Ihr Freund hatte doch tatsächlich den Baum aus der Wohnung geholt und war gerade dabei, Kugeln daran zu hängen. Auf dem Tablett lagen Plätzchen und im CD-Player dudelte eine Weihnachts-CD. Mittendrin in diesem Weihnachtswunder saß kugelrund und feuerrot A. Weihnachten war zu ihr gekommen, oder wie der notgeile Altrocker in Tatsächlich Liebe singt: Christmas is all around you.

Da klopfte es, die Schwester brachte das Abendessen und der Duft von Rouladen und Rotkohl waberte herein. An Weihnachten gibt's sogar von der Krankenhaus-Küche etwas besonderes. »Ich lass euch mal essen«, sagte ich und ging hinaus.

Die Kollegen im Aufenthaltsraum hatten schon mit den Vorbereitungen für unser Team-Dinner begonnen, das ist Brauch auf der Station. Wir machen dann Raclette oder Fondue und jeder bringt was mit. Anders als im Rest des Jahres, wo jeder nur im Stehen in einen Apfel beißt oder in ein Käsebrötchen, das vom Patiententablett runtergefallen ist, essen wir an Heiligabend ausnahmsweise alle zusammen und im Sitzen. Das mag in vielen Berufen normal sein, bei uns gibt es das nur an besonderen Terminen.

Ich erzählte der Runde, wie schön A.s Freund das Zimmer dekoriert hatte, wir futterten und lachten. Danach machte ich nochmal einen Rundgang, ging durch die leeren Flure und ließ mir lange Zeit. Es waren nur noch die hier, die unbedingt hier sein mussten. Ich kam auch bei der Frühchen-Intensiv-Station vorbei. Über die Inkubatoren waren wie immer rote Decken gelegt, doch was war das? Nikolaus-Strümpfe? An jedem Brutkasten hingen selbstgestrickte Mützchen, für jedes Baby eine, die müssen die Intensiv-Schwestern gestrickt haben. Wie unglaublich liebevoll! Wenn ihr erstmal in die kalte Welt entlassen seid, werden die Gold wert sein, dachte ich mit Blick auf die zarten Bohnen in den Kästen. Hoffentlich schafft ihr es alle. Bevor eine Träne aufsteigen konnte, ging ich weiter den Gang entlang. Ich wollte nochmal nach A. schauen. Doch ich erschrak: Ihr weihnachtlich geschmücktes Zimmer war leer, auch ihr Freund war nirgends zu sehen. Ich lief zum Aufenthaltsraum der Stationsschwestern. »Wo ist A.?«, fragte ich panisch in die Runde. »Sectio«. Ach du Scheiße.

Der Blutdruck war noch weiter gestiegen und die Plazentaversorgung für das Baby hatte sich unter den einsetzenden Wehen verschlechtert, hieß es. Mich packte die Angst. Ich wollte was tun, aber ich hatte ja keine Schicht, ich durfte nicht einfach in den OP stürmen. Also konnte ich nur warten, dort, wo sonst die Angehörigen sitzen. Komisches Gefühl, so ein Rollentausch. Es war inzwischen finstere Nacht draußen. Ich dachte an meine Familie daheim, wie sie sich just in diesem Moment beschenkten.

Irgendwann kam meine Kollegin aus dem OP. Sie nickte und ihr Blick sagte: Alles gut. »Kurz nach Mitternacht wurde der Kleine geboren. Der Mama geht's auch den Umständen entsprechend gut.« Ich fiel ihr in die Arme und drückte sie ganz fest.

Wenig später ging ich zu meiner Freundin ans Bett, sie war noch etwas überwältigt, wie schnell nun alles gegangen war, aber sie lächelte selig. Genau wie der Vater. Das Kind lag in seinem Arm. Trautes, hochheiliges Paar. »Jetzt kann ich gehen«, sagte ich und ließ die drei allein. Ich ging nach Hause, schlief ein paar Stunden. Am nächsten Morgen ratterte ich mit meinem Rollkoffer und einer Tüte voller Geschenke zum Bahnhof. Driving home for Christmas. Endlich.