• 30. Dezember 2017
  • Kino

Hätten wir Filmkritiker bei Weinstein genauer hinsehen müssen?

Schon im Jahr 2000 schrieb der Filmkritiker der SZ, Tobias Kniebe, über Harvey Weinstein und dessen »Raubtierenergie« in Bezug auf Frauen. Für den Jahresjahresrückblick des SZ-Magazins blickt unser Autor nun selbstkritisch zurück.

Filmproduzent Harvey Weinstein beim Filmfestival von Marrakesch vor einigen Jahren.

Als der Skandal um Harvey Weinstein Anfang Oktober ins Rollen kam, begann ich, wie viele andere Filmmenschen auch, die ihn gelegentlich erlebt hatten, in meinen Erinnerungen zu kramen. Dabei fiel mir eine kurze Szene ein, die ich viele Jahre zuvor, damals noch recht neu dabei, beim Festival von Cannes beobachtet hatte. Sie spielte am Haupteingang des Hotels »Majestic«, Harvey Weinstein und die italienische Schauspielerin Monica Bellucci stiegen da in eine schwarze Limousine ein und fuhren ab. Ein paar Blicke zwischen ihnen, ein paar Berührungen – mehr Konkretes geschah eigentlich nicht. Und doch meinte ich mich zu erinnern, darüber etwas geschrieben zu haben.

Das Archiv förderte dann tatsächlich eine Passage aus dem Mai 2000 zutage, vom Ende des damaligen Festivals: »Bellucci, schöne italienische Schauspielerin. Weinstein, Miramax-Boss, Oscarmagier. Der einzige Mann der Welt, der eine schöne Europäerin zu einem internationalen Star machen kann. Er hat ein teigiges, beinah brutales Boxergesicht. So hart, dass es schon wieder attraktiv ist. Wenn schöne europäische Schauspielerinnen vor ihm stehen, sieht man Raubtierenergie in diesem Gesicht, kaum verhüllt von einer dünnen Schicht Charme. Und man sollte diese Frauen gesehen haben, wie sie ihm in die Augen sehen, wie sie todesmutig mit dem Biest um ihre Zukunft flirten.«

Wow, dachte ich beim Lesen, diese Sätze hatte ich so nicht mehr in Erinnerung. Konnte man etwa alles, was im Jahr 2017 endlich an die Öffentlichkeit kam – die Gier, die Brutalität, das Raubtier, die Gefahr – wirklich damals schon sehen, innerhalb von wenigen Sekunden, praktisch im Vorübergehen? Und wenn sogar ich, ein Greenhorn des Filmjournalismus, es sehen konnte, was war dann mit allen anderen – insbesondere den bedrohten Frauen? Ich musste das im Festivalrausch einfach so hingeschrieben haben, und so wurde es gedruckt. Danach hatte ich es wieder verdrängt.

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Und ich glaube ich weiß auch, warum. Der Text war mir hinterher irgendwie peinlich. Ohne die Vorwürfe der Vergewaltigung, Misshandlung und sexueller Belästigung gegen Harvey Weinstein, die heute von zahllosen Frauen erhoben werden, kann man diese Sätze auch einfach als Gekritzel eines Schreiberlings lesen, der zu den Zirkeln der Macht im Filmgeschäft keinen echten Zutritt hat, stattdessen aber seiner schmutzigen Fantasie freien Lauf lässt. Ohne Rücksicht auf einen vielleicht ja herzensguten Filmproduzenten, ohne Rücksicht auf den Ruf der genannten Schauspielerin.

Monica Bellucci drehte zu dieser Zeit den Film Malèna, den Weinstein produzierte und bei den Oscars im Jahr darauf dann stark gepusht hat. Im Zuge der Enthüllungen hat sie sich auch zu Weinstein geäußert, aber es klang so, als habe sie ihn damals zu handhaben gewusst, beim todesmutigen Tanz mit dem Biest keinen bleibenden Schaden davongetragen. Dann war sie eine der wenigen. Denn das Schema aus Förderung und Demütigung, mit dem der Mann auch europäische Actricen vor allem in Cannes in seine Fallen gelockt hat, wurde von Kolleginnen wie Asia Argento, Léa Seydoux oder Judith Godrèche inzwischen erschöpfend beschrieben. Natürlich will ich nicht behaupten, das seinerzeit schon gesehen zu haben, oder überhaupt mehr gesehen zu haben als andere.

Doch etwas in den Worten von damals hallt nach, jetzt, wo die Weinstein-Enthüllungen die Welt verändert haben. Für Grabscher, Belästiger, Vergewaltiger ist sie hoffentlich wirklich ein gefährlicherer Ort geworden. Für mich persönlich brachte der Fall aber noch eine andere Erkenntnis: Auch jene Dinge nicht einfach wegzuwischen, die man nur ganz vage fühlt oder ahnt. Manchmal führen sie eben doch auf die richtige Spur.

Foto: dpa