Visionen eines Kolumnisten

Wie hat man sich früher die Zukunft vorgestellt? Unser Kolumnist ist auf Prophezeiungen aus dem Jahr 1901 gestoßen – an denen vor allem erstaunt, dass vieles wahr geworden ist.

Zu Beginn eines Jahres sollte man einen Blick zurück in die Zukunft tun, wofür ich mich des Blogs paleofuture.com bediene. Dort sind Zukunftsvisionen aus vergangenen Zeiten archiviert, beispielsweise ein Aufsatz aus dem Milwaukee Herold und Seebote (einst eine deutschsprachige Zeitung in Amerika) vom 1. Januar 1901, verfasst von John Elfreth Watkins Jr. Man kann über die Hellsicht John Elfreth Watkins Jr's nur staunen! Er prophezeite für den Beginn des 21. Jahrhunderts: Englisch werde die bedeutendste Sprache der Welt sein; man werde sich fertig zubereitetes Essen nach Hause holen können; überall in den Städten seien Fitness-Center selbstverständlich; das drahtlose Telefon werde die Welt erobern, »ein Mann in der Mitte des Atlantischen Ozeans wird mit seiner in ihrem Boudoir in Chicago sitzenden Gattin ein Gespräch führen können«.

Geirrt hat sich Mr. Watkins, was die Zukunft der Mücke angeht. Sie werde, schrieb er, in hundert Jahren »thatsächlich ausgerottet« sein, und übrigens werde man wilde Tiere nur noch in Menagerien sehen, was einerseits nun auch noch nicht eingetreten ist, andererseits als Prophezeiung oft zu lesen war: in den Galveston Daily News vom 11. November 1926 zum Beispiel, wo man neben der Zeichnung eines ziegelschleppenden Schimpansen las, wilde Tiere müssten in Zukunft entweder in der Lage sein, to pay their way in the scheme of things, also dem Menschen irgendwie rentabel zu dienen, oder hätten »sich zu den bereits ausgestorbenen Arten zu gesellen«.

In dieser Hinsicht sind wir weit gekommen. Aber es ist doch festzustellen, dass es noch immer Eisbären gibt, die nutzlos auf Eisschollen abhängen, auch Tiger, die dem World Wildlife Fund auf der Tasche liegen, und Orang-Utans, die unprofitabel im Urwald herumlungern. In einer Ausgabe des Magazins The Futurist wurde übrigens für solche Tiere 1967 ein bemerkenswerter Vorschlag gemacht: Sollte sich jemand im 21. Jahrhundert nicht gerne eines Roboters im Haushalt bedienen, wäre für die Gartenpflege eventuell auch ein speziell gezüchteter Affe dienlich. »Ebenso könnte der Einsatz von gut ausgebildeten Affen als Familien-Chauffeure die Zahl der Auto-Unfälle reduzieren helfen.« Tatsächlich ist auch dies von unglaublicher Weitsicht, jeder von uns beobachtet täglich im Straßenverkehr den großflächigen Einsatz von Primaten am Steuer, deren geistiges Niveau allerdings nur unerheblich über dem eines Berliner Flughafen-Planers liegt.

Meistgelesen diese Woche:

Interessant ist ein Beitrag aus dem Tricentennial Report von 1977. Dort sagt eine Dame namens Phoebe Burdg aus San Martin in Kalifornien für das Jahr 2076 voraus, es werde Tiere nur noch als künstliche Replikationen einst echter Wesen geben; man werde sie auf Bestellung nach im Museum vorhandenen Vorbildern fertigen.

Hier ist nun mein Beitrag für paleofuture.com im Jahr 2118. Es wird überhaupt nur noch drei Personen auf der Welt geben: Bruno, meinen alten Freund, Bosch, meinen sehr alten Kühlschrank und Freund, und mich; plus einige ausgesucht freundliche Mücken vielleicht. Jeden Freitag werden wir zu einer vertretbaren Uhrzeit anderthalb Millionen Leserinnen und Leser als zeitlich begrenzte Replikationen einst echter Leserinnen und Leser aus dem Museum kommen lassen, damit sie zur Blasmusik einer Orang-Utan-Kapelle vor uns in der traditionellen Uniform der SZ-Magazin-Leserinnen und -Leser in gut einstudierten Formationen beliebte Volkstänze aufführen. Abends heißt es für sie: ab, marsch zurück in die Nicht-Existenz! Von Samstag bis Donnerstag werden wir alte Fußballspiele sehen, Horoskope lesen und den Schimpansen im Garten beim Ziegelschleppen zusehen.

Illustration: Dirk Schmidt