Warum der Bart keine Botschaft mehr hat

Der Sohn unserer Autorin bekommt seinen ersten Bart. Dabei merkt sie: Früher erzählte ein Bart viel über seinen Besitzer – heute sendet er oft falsche Signale. 

Die Tage beim Frühstück, ich drehe die Cerealien-Verpackung meiner Kinder um, mal gucken, wie viel Zucker in den Lions drin ist. Doch zur Nährwerttabelle komme ich nicht, denn mein Blick bleibt an einem Foto hängen. Da ist ein Mann mit einem langen Bart drauf. Neben einer Frau mit langen Haaren und einem Löwen. Daneben der Social-Media-Aufruf: Zeig deine Mähne! Auf Facebook, ich schau mal schnell, gefällt das in diesem Moment 1.112.828 Personen.

Ich gucke meinen Großen an, er ist jetzt 15. Über seiner Oberlippe flimmert ein zarter Flaum. Das wird, denke ich, bald ein Schnauzerchen sein. Dann ein Drei-Tage-Bart. Und dann wird er sich vielleicht einen Rap Industry Standard, einen Sparrow oder ein ZZ stylen. Ohweh. Und das gefällt dann so vielen Personen?

Umgehend habe ich mich informiert über hippe Bartstile und dabei erfahren, dass der Vollbart in all seinen Ausformungen auch im kommenden Jahr angesagt sein soll: Hollywoodian, Ducktail, Schifferkrause sowie weiterhin der bis auf den Brustkorb wallende Rauschebart, benannt nach den Bluesrockbrüdern der Band ZZ Top. Man kann ja durchaus mal in einen Bart hineinküssen. Und mein Sohn darf natürlich machen, was er will. Ab 18. Dennoch irritiert mich diese neumodische Art, Bart zu tragen.

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Früher war das anders, da trug nicht einfach jeder Bart und dann noch alle den gleichen. Die Männer ließen sich nicht wie wir Frauen irgendein Schönheitsdingsbums vormachen, dem sie dann mit überkandidelten Bartpflegeprodukten hinterhercheln, nur um den perfekten Bart über den Catwalk der Eitelkeiten schleifen zu können. Früher trug ein Holzfäller noch einen Holzfällerbart. Ein Ostfriese einen Ostfriesenbart. Ein Polizist einen Schnauzer, ein Professor einen Spitzbart, ein Barkeeper einen Drei-Tage-Bart – und Thomas Krüger und Wolfgang Thierse trugen Marx-Engels-Bärte. Früher waren Bärte Statements! Berufliche Statements, soziale Statements, regionale Statements, politische Statements. Es gab eine Bartordnung, und das war gut so.

Und heute!? Heute tragen schmächtige Bubis Holzfällerkerlebärte. Leonardo DiCaprio trägt einen Charles Manson, Stromberg einen Henri-Quatre, Markus Söder manchmal im Urlaub einen Stromberg und Jan Josef Liefers, jetzt im Ernst?, auch; Bushido aber trägt einen Charles Darwin, Wolfgang Thierse hat seinen Bart gestutzt und Thomas Krüger hat überhaupt keinen mehr. Das geht doch nicht! Da kennt sich doch keine mehr aus!

»Heutzutage«, sage ich also zum Sohn, während er seine Lions löffelt, »darf ja jeder Bart tragen.« Er löffelt weiter. »Aber nicht«, rufe ich, »so lange du deine Zauseln unter meinen Tisch wachsen lässt! Überleg dir gut, welchen Bart du dir stehen lässt, und eins ist klar: Ein Christian Lindner, ein Thilo Sarrazin oder ein Osama bin Laden kommen mir nicht ins Haus! Ich fordere stilistische Einsicht! Ich fordere ein Langbartverbot!!«

Mein Sohn guckt zu seinem kleinen Bruder rüber. Dem sprießt auch ein YMCA-Fläumchen. Und dann steht er auf, klopft mir von oben herab auf die Schulter und sagt: »Jetzt komm mal runter, Mama, ich kann mich ja noch nicht mal rasieren.«

Foto: Rami Niemi