Beim Barte des Proleten

Unser Kolumnist geht der Frage auf den Grund, was Haare im Gesicht mit linken Ansichten gemein haben und wie Karl Marx wohl ohne Bart ausgesehen hätte.

Zu den Fragen, auf die wir keine Antwort bekommen werden, zählt diese: Wäre der Marxismus in der Geschichte der Philosophie und der Menschheit zu solcher Bedeutung gekommen, wenn Karl Marx keinen Bart gehabt hätte? Man stellt sich ja immer unwillkürlich vor, der Mann sei vor zweihundert Jahren schon mit »Haaren im Gesicht« (Marie Gabriel, Goslar) zur Welt gekommen. Wie zum Beispiel auch Fidel Castro bartlos kaum denkbar ist. Aber eben Castro hat der amerikanischen Journalistin Barbara Walters 1977 erzählt, der Grund für die Tatsache, dass er einen solchen Bart habe, sei einfach ein Mangel an Rasierklingen gewesen. »Mit der Zeit jedoch«, fügte er hinzu, »erkannte man die Guerillas an ihren Bärten. Schließlich wurde der Bart zum Symbol.« Und Rasur unmöglich.

Was letztlich bedeutet: Der Erfolg der Revolution beruhte auf kapitalistischer Markenbildung, gutem Branding, Wiedererkennbarkeit, Corporate Design. Und der Niedergang des Sozialismus hat, andersherum, viel damit zu tun, dass er sein bärtiges Antlitz verloren hat. Marx, Engels, Wilhelm Liebknecht, Bebel, Bernstein, Kautsky, Che Guevara, Lenin oder Ho Ho Ho Chi Minh, alle mussten Männer mit Bärten sein. Aber als der Kommunismus Staatsform wurde, trugen dann die Regimegegner Rauschebärte. Ulbricht hatte noch ein Bärtchen, Honecker keinerlei »Haare im Gesicht« (Marie Gabriel, Goslar). Es war, als hätte Mercedes keinen Stern mehr. Es musste zu Ende gehen.

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Was nun aber interessant ist: Knapp ein Jahr vor seinem Tod hat sich Marx rasieren lassen! In seinem dieser Tage erscheinenden Buch Karl Marx beim Barbier beschreibt Uwe Wittstock Marx’ Leben und Wirken so lehrreich, klug und spannend wie elegant und leicht von jenen zehn Wochen aus, die der im Frühjahr 1882, schwer krank und Genesung suchend, in Algier verbrachte. Dort, Ende April, fiel der Bart! Marx schrieb Engels, er habe »den Prophetenbart und die Kopfperücke weggeräumt« und als »Haaropfer auf dem Altar eines algierischen Barbiers« dargebracht.

Warum? Prophetenbart, Haaropfer, Altar: Wittstock schreibt, es sei eine gut begründbare Spekulation, wenn man in dem Entschluss »das heimliche, vielleicht sogar vor sich selbst verheimlichte Eingeständnis sieht, sich nicht mehr als Propheten zu betrachten, da die eigenen Zweifel an seinen politischen Prognosen zu groß geworden waren«. Weiter zugespitzt: Marx war nur mit Bart Marxist. Solche Gedanken gefallen mir!

Wobei es kein Foto von Marx ohne Bart gibt, barhäutig statt mit »Haaren im Gesicht« (Marie Gabriel, Goslar). Aber er ließ sich unmittelbar vor der Rasur noch einmal porträtieren, das Gesicht von weißem Wallen eingerahmt, nur unter der Nase ein dunkler Schnauzkeil, ein Bild, so der Biograf, das sich von allen anderen 14 Marx-Fotos (auf denen er sich, ganz offensichtlich, selbst inszenierte) deutlich unterscheide: Hier sieht man den Mann zwar würdevoll, aber lächelnd, leicht ironisch, unfeierlich, Güte im Blick, »als Mensch, nicht als Monument«.

Wie mag Marx ohne Bart ausgesehen haben? Hatte er ein fliehendes Kinn, einen kleinen Mund? Verbarg sich unter all dem Haargewoge ein für Revolutionäre viel zu nettes Gesicht? Sah er aus wie Schulz oder Scholz? Ähnelte er Hegel? (Nein, der hatte eine riesige Nase, Marx nicht!) Einem der Marx Brothers? Hätte man seine Arbeit anders aufgenommen, wäre sie nicht begleitet gewesen von diesen grimmigen Porträts? Oder haben Zeitgenossen diese Fotos in bilderärmerer Zeit gar nicht gesehen? Kann man sich Das Kapital vorstellen, verfasst von einem Mann mit dem Gesicht von Egon Krenz? Hätte Marx am Ende ohne Bart anders gedacht?

Und wussten Sie, dass King C. Gillette, Erfinder der Einwegrasierklinge, einem utopischen Sozialismus anhing und darüber zwei Bücher verfasste, die aber niemand kennt?