In diesem Jahr reden alle über die 68er. Damals war ganz Deutschland eine Orgie: Alle unter 30 haben in einer großen Wohnung gelebt, einzig möbliert mit Matratzen, Kissen und Decken, und sich den ganzen Tag von einem Körper zum nächsten gewälzt. Das glauben zumindest meine jüngeren Kollegen. "Schreib doch mal über Orgien, Hiltrud. Das war bei euch doch so?"

Zeit also, endlich mal mit einem Gerücht aufzuräumen. Ich kann natürlich nicht für alle sprechen. Bestimmt gab es Ausnahmen. So etwa in Musikerkreisen mit ihren Groupies, bei denen galt: Hoteltür auf, Mädels rein. Das stand sogar täglich in der Abendzeitung.

Ich war 1968 ein Teenager in München, auf vielen Partys und fast jeden Tag in den Schwabinger Musikclubs unterwegs. Aber: Von Orgien hab ich nichts mitbekommen. Dabei kannte ich die halbe Stadt. Ein viel größeres Thema damals waren Drogen. Vielleicht waren die alle viel zu stoned für Gruppensex.

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Die eigentliche Provokation war Nacktheit, das war neu. Plötzlich fielen die Hüllen: daheim und beim Sonnenbaden im Englischen Garten. Und es passierte schon mal, dass sich zwei in einer Wohngemeinschaft ihren Gefühlen hingaben, in einer Ecke oder im Nebenzimmer mit geöffneter Tür, während die anderen um den Küchentisch saßen und rauchten. Wir hatten keine Scheu mehr, uns untereinander unbekleidet zu zeigen. Das war davor selbst unter Frauen noch äußerst ungewöhnlich.

Zurück zur Orgie: Das Lexikon beschreibt sie als eine Überforderung des sinnlichen Fassungsvermögens. Im ausschweifenden, maßlosen, genusssüchtigen oder auch sexuellen Sinne. Ausschweifende Feste gab es 1968 zugenüge und viele haben die freie Liebe gelebt. Das bedeutete Partnertausch und hatte schon was Politisches. Eine Idee der 68er war, sich von Besitz zu lösen – das konnte auch bedeuten, keine alleinigen Besitzansprüche an den Körper des Partners zu stellen.
Zum Beispiel hatte ich eine Freundin, die in zwei Männer verliebt war, und die auch in sie. Weil sie sich nicht entscheiden konnte, zog sie mit beiden zusammen, und teilte Tisch wie Bett. Letzteres aber stets nur mit einem von ihnen.

Doch drei nackte Menschen sind noch lange keine Orgie. Damals wie heute galt: Die große Liebe liebt man nur hinter verschlossenen Türen.