Wir sind keine Helden

Die Weilheimer Band The Notwist verweigert sich konsequent allen Regeln der Pop-Welt. Genau das verschafft ihr begeisterte Anhänger. Bekenntnisse eines Fans

Das Weilheimer Gefühl: The Notwist arbeiten in ihrem Studio an den Live-Fassungen der neuen Stücke.
In der Welt der Popmusik kursiert seit ein paar Jahren ein Wort, das in keinem Statement von Sängern, Managern oder Plattenfirmen-Mitarbeitern fehlen darf. Es ist die Gefahr des »Abhebens«, die mit einem Auftritt im Rampenlicht scheinbar untrennbar verbunden ist. »Du musst aufpassen, dass du nicht abhebst«, sagt das Jurymitglied der Castingshow zu einem erfolgreichen Kandidaten; »Ich glaub, ich bin abgehoben«, bekennt der rasch aufgestiegene Popstar nach seiner ersten Durststrecke zerknirscht: Als käme die öffentliche Darbietung von Popmusik immer schon einem latenten Verlust an Bodenhaftung gleich.

Es gibt eine Band, die in ihrem Auftreten und Arbeitsrhythmus den größtmöglichen Gegensatz bildet zu dieser allgemeinen Hysterie des »Abhebens«, eine Band, deren vordringliches Charaktermerkmal in einer auffallenden Zurückgenommenheit, einem fast schon unverschämten In-sich-Ruhen besteht.

The Notwist aus der oberbayerischen Kleinstadt Weilheim gibt es seit Ende der 1980er-Jahre. Die letzte Platte der Band, Neon Golden von 2002, wurde in Europa und den USA als Pop-Meisterwerk gefeiert und war in Deutschland weit oben in den Top Ten. In den Monaten nach ihrer Veröffentlichung schienen die Songs dieser Platte allgegenwärtig zu sein; auf jedem Rechner im Büro, auf jeder Party waren sie zu hören. Am 2. Mai erscheint nun The Devil, You + Me, das erst sechste Album in der zwanzigjährigen Geschichte der Band. In ihrem Studio im Weilheimer Industriegebiet bereiten sich The Notwist derzeit auf die Ende April beginnende Europatournee vor. Seit dem Ausstieg des Schlagzeugers Martin Messerschmid besteht die Kernbesetzung nur noch aus drei Leuten, den Brüdern Markus und Michael Acher und Martin Gretschmann. Mit zwei zusätzlichen Tourmusikern arbeiten sie an den Live-Fassungen der neuen Songs.

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(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Gab es bei der Arbeit an der Platte nicht manchmal die Angst, die Band könnte ihren Zenit überschritten haben?")

Dass sich The Notwist mit der neuen Platte so lang Zeit gelassen haben, hing womöglich nicht nur mit den vielen anderen Bandverpflichtungen der Mitglieder zusammen, sondern mit der Ungewissheit, wie es nach Neon Golden überhaupt noch weitergehen konnte. Bislang unterschied sich jedes Notwist-Album deutlich von seinem Vorgänger; die Band entwickelte ihren Sound von Platte zu Platte weiter, von den Hardcore-Alben der Anfangsjahre über das erste Auftauchen elektronischer Elemente und den Verzicht auf verzerrte Gitarren bis hin zu den vollendeten Pop-Kompositionen auf Neon Golden. Welcher Grad an Perfektionierung wäre jetzt mit The Devil, You + Me noch denkbar? Gab es bei der Arbeit an der Platte nicht manchmal die Angst, die Band könnte ihren Zenit überschritten haben?

»Tatsächlich haben wir über solche Fragen gar nicht nachgedacht, während wir die Platte gemacht haben«, sagt der Sänger und Gitarrist Markus Acher. »Erst als wir fertig waren und sie den ersten Leuten zum Hören gegeben haben, haben wir gemerkt, dass eine unglaubliche Erwartungshaltung da war.« Auffallend ist an The Devil, You + Me jedenfalls, dass der für Notwist so typische Geräuscheteppich, das Knirschen und Knacksen aus Martin Gretschmanns Laptop, fast vollständig fehlt: eine Reaktion darauf, dass die Vermischung von Rockgitarren und Elektronik, die The Notwist vor 15 Jahren miterfand, mittlerweile zu einem geläufigen Musikgenre geworden ist. Auf der neuen Platte bilden vielmehr Markus Achers bedächtige, aber markante Stimme und eine meist akustische Gitarre das Fundament der Lieder.

Die Aufgabe im großzügigen Studio und Proberaum der Band besteht darin, die dichten Arrangements der Songs wieder zu lockern und neue, an manchen Stellen weiter ausholende Live-Versionen zu entwickeln. Schlagzeuger Andi Haberl, zehn bis 15 Jahre jünger als die Gründungsmitglieder, ist musikalisch völlig auf Augenhöhe, doch äußerlich wirkt er wie zu einer anderen Generation gehörig (und beim Fototermin kommt es irgendwann zu einem schönen Dialog zwischen dem Fotografen Konrad R. Müller und Martin Gretschmann: »Ah, und das ist also der Benjamin!« – »Nein, das ist der Andi.«).

The Notwist absolvieren im Vorfeld der so lang erwarteten neuen Platte einen Interview-Marathon, der eigentlich sogar ein Interview-Triathlon ist, aus Fernsehporträts, Radiofeatures und Printbeiträgen. Die Schweigsamkeit, zu der diese Band in der Lage ist, die Ungerührtheit, mit der sie unliebsame oder uninteressante Fragen abprallen lässt, ist berüchtigt. Manche Journalisten überbieten sich in der Ausbreitung origineller, elegant formulierter Überlegungen, doch ihre Worte versickern Mal um Mal in den regungslosen Gesichtern von Markus und vor allem Michael Acher.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Geschichte etwa, dass sie vor Jahren ein 750 000-Euro-Angebot von Vodafone ausgeschlagen haben, ist so einschlägig geworden, dass sich Markus Acher mittlerweile weigert, darüber zu sprechen)

Doch die Weigerung, sich in ein allzu plauderhaftes Gespräch über das eigene Schaffen einzulassen, gehört zum Arbeitsprinzip der Band. In Deutschland hat es in den letzten 15 Jahren zwei Schauplätze stilbildender Popmusik gegeben, die »Hamburger Schule« um Blumfeld und die Bands aus Weilheim, mit The Notwist im Zentrum. Was das öffentliche Auftreten betrifft, die Erzeugung eines »Überbaus« der eigenen Musik, sind keine größeren Gegensätze zwischen den beiden Bandgeflechten denkbar.

Blumfeld, Die Sterne oder Tocotronic erlangten ihren Status nicht allein durch ihre Lieder, sondern in erster Linie durch eine bestimmte intellektuelle Eloquenz, durch Texte, Statements und deren getreuer Exegese in den einschlägigen Pop-Zeitschriften. Bei Notwist und den verwandten Bands, Console, Lali Puna oder Tied & Tickled Trio, beschränkt sich der Ausdruckswille dagegen ausschließlich auf die Musik. Im Weilheimer Studio muss sich nur die schwere, schalldämpfende Tür schließen, die Arbeit des Erzählens der Arbeit an den Stücken weichen, und der Temperamentpegel innerhalb der Band steigt schlagartig an.

Das Verblüffende an The Notwist ist immer wieder das Missverhältnis zwischen den erstaunlichen Erfolgen der Band und ihrem Auftreten. Man könnte die Ereignisse der letzten Jahre ja ohne Weiteres als Glamourgeschichte erzählen: 150 000 verkaufte Exemplare von Neon Golden, in New York an zwei aufeinanderfolgenden Abenden die »Knitting Factory« gefüllt, im kommenden Herbst zum sechsten Mal auf USA-Tournee. Doch Markus und Michael Acher ist es sichtlich unangenehm, in solchen Kategorien über die Band zu sprechen. Die ungewöhnliche Integrität der Band, das Störrische und Nicht-Verführbare ihrer Arbeitsweise, ist schon häufig beschrieben worden.

Die Geschichte etwa, dass sie vor Jahren ein 750 000-Euro-Angebot von Vodafone ausgeschlagen haben, ist so einschlägig geworden, dass sich Markus Acher mittlerweile weigert, darüber zu sprechen – er will die Band frei von festen Zuschreibungen halten, egal ob es darum geht, dass ein Notwist-Stück nur als Musik für einen Handy-Werbespot in Erinnerung bleiben könnte oder dass ihnen ein Helden-Image auferlegt wird.

Je länger man Markus Acher zuhört, desto klarer wird die kompromisslose Haltung der Band. The Notwist produzieren keine manifestartigen Texte wie Tocotronic und keine radikalen Statements wie Die Sterne, doch vielleicht sind sie dennoch die politischte Band von allen. Es geht um die Aufmerksamkeit und Konsequenz, mit der die Band eine bestimmte Arbeitspraxis durchsetzt: von den auffällig niedrigen Eintrittspreisen auf Konzerten bis zu der Verweigerung jener Zugeständnisse, die Bands heute machen müssen, wenn sie auf den Webseiten von iTunes oder Amazon bevorzugte Beachtung finden wollen. Welche Resonanzen wird die neue Platte erhalten?

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die elf Lieder auf der Platte brauchen zwar ein bisschen Zeit, prägen sich nicht sofort ein wie die Hits auf)

Mit dem Riesenerfolg von Neon Golden kam es ja zu der paradoxen Situation, dass gerade eine Band zum ständigen Hintergrund-Sound in Start-up-Unternehmen, Lounge-Bars und Coffeeshops geworden ist, die dieser Sphäre so weit wie nur möglich entgegensteht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass The Devil, You + Me in den nächsten Wochen ebenso umfassende Begeisterung auslösen wird. Die elf Lieder auf der Platte brauchen zwar ein bisschen Zeit, prägen sich nicht sofort ein wie die Hits auf Neon Golden. Doch bei jedem Hören blüht ein weiterer Song auf, und Stücke wie Gravity, Alphabet und vor allem das unglaubliche Gloomy Planets gehören sicher zu den schönsten Liedern, die The Notwist je geschrieben haben.

Es ist ein Wunder, wenn man diesen so nüchternen Menschen begegnet: Woher nur nehmen sie die Ressourcen, um Songs von solcher Intensität hervorzubringen? Überall in der Musikwelt ist derzeit von »Gefühlen« die Rede; im Fernsehen sollen kommende Popstars »Emotionen« produzieren, die Gesten sind groß, die Tränen immer nahe, doch es ist eine simulierte Gänsehaut, die entsteht, ein Playback der Empfindungen. In einer Lagerhalle am Stadtrand von Weilheim aber sitzen ein paar Brillenträger, reden nur das Nötigste, doch wenn sie zu spielen beginnen, geschieht im Zuhörer augenblicklich das, was alle anderen nur behaupten.