Die Gewissensfrage

»Vor 25 Jahren kaufte ich zusammen mit einem Freund ein Boot, mit dem wir mehrmals zusammen gefahren sind. Allerdings kümmerte nur ich mich um Winterquartier, Reparaturen und Zusatzausrüstung – und nutzte das Boot dann irgendwann allein. Vor 15 Jahren bot ich meinem Freund das Boot für sich und seine Familie an. Er solle es aber selbst abholen, denn ich hätte schließlich die ganze Zeit dafür gesorgt. Mein Freund hat es nicht geholt, der Kontakt ist abgerissen und ich fahre das Boot immer noch. Mit schlechtem Gewissen. Oder muss ich das gar nicht haben?« MICHAEL R., HAMBURG

Sie schreiben, dass Sie ein schlechtes Gewissen plagt; dies erscheint eher ungewöhnlich bei einer Bootsfahrt, der ja gemeinhin (wohl auch wegen der naturgemäßen Verbindung mit dem Wasser) ein wohltuend reinigender Effekt auf die Psyche nachgesagt wird. So sie übers Meer führt, berichtet das Volkslied gar von Stimmungsaufheiterung: »Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt die ist schön«. Ein Widerspruch, dem man, verzeihen Sie den Ausdruck in diesem Zusammenhang, auf den Grund gehen sollte. Der Begriff Gewissen lässt sich zurückführen auf das althochdeutsche gewizzani, eine etwa im Jahr 1000 von dem St. Gallener Mönch Notker eingeführte Lehnübersetzung des lateinischen conscientia, das wiederum dem griechischen syneidêsis nachgebildet wurde. Alle drei Wörter bedeuten »Mitwissen«, die Idee einer Instanz, die mit der Person zusammen um deren Taten und Gedanken weiß – und sie deshalb beurteilen kann. Das führte zu dem vom Apostel Paulus beeinflussten Bild des inneren Richters bei Immanuel Kant: »Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (›vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‹) ist das Gewissen.« Das Lexikon der Ethik definiert anders: »Unter Gewissen verstehen wir ein Selbstverständnis des Menschen, in dem er sich dem Anspruch unterstellt weiß, das Gute zu tun.« Dramatischer formulierte es das deutsche Verfassungsgericht in der ihm eigenen Sprache: »›Gewissen‹ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs (…) ist als ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen, Warnun-gen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind.« Bei allen Konzepten geht es um Sollen, Handlungen, Gedanken und damit sind wir wieder bei Ihrem Problem: Was sollen Sie denn unbedingt tun, welche konkreten Handlungen oder Gedanken könnten Ihr schlechtes Gewissen verursachen? Das Fahren mit dem Boot? Das könnte dann der Fall sein, wenn Sie das Gefühl haben, es unberechtigt zu benutzen. Nur welche Alternative gibt es? Sinnlos wäre sicherlich, es deshalb stehen zu lassen. Wenn, dann sollte Ihr Freund es (mit-) benutzen, und das müssten Sie mit ihm absprechen. Womöglich nagt in Wirklichkeit auch gerade der abgerissene Kontakt oder Ihre unfreundliche Aufforderung zum Abholen des Bootes an Ihnen. Das führt zu einer Lösung: Nutzen Sie doch den Anstoß und melden sich bei Ihrem Freund. Vielleicht segelt dann auch Ihr Gewissen wieder in ruhigeren Gewässern.

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