»Wir Amerikaner sind offensichtlich noch sehr gut im Töten«

Bald hat der Mensch die Ozeane leer gefressen. Ein bestürzendes Interview mit dem Meeresbiologen Richard Ellis.

SZ-Magazin: Herr Ellis, was haben Sie heute Mittag gegessen?
Richard Ellis: Lachs. Schmeckte sehr lecker.

Sie predigen Wasser und trinken Wein. Bliebe ich meinen Überzeugungen immer treu, dürfte ich wirklich nur Huhn essen. Rotes Fleisch ist zu ungesund, wegen des erhöhten Cholesterinspiegels, den es verursacht. Lachs ist sehr gesund und weist noch nicht so hohe Quecksilberwerte auf wie einige andere Fischarten. Atlantik-Lachs zu essen ist nur ungesund für den Lachs, er gehört leider auch schon zu den gefährdeten Arten.

Haben Sie mit dem Bücherschreiben über das Meer begonnen, um sich für den Umwelt- und Artenschutz zu engagieren? Nein, ich bin beides nur zufällig geworden, Wissenschaftsautor und Tierschützer.

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Bitte erzählen Sie. In den sechziger Jahren kam ich als Designer ans American Museum of Natural History und sollte dort die Halle über die Fische neu gestalten.

Der renommierte Meeresforscher Ellis ist kein studierter Wissenschaftler? Nein, ich bin Autodidakt. Jedenfalls bat ich meine Kollegen um eine Literaturliste und machte so vor 40 Jahren einen Crashkurs in Meeresbiologie. Ich musste etwa ein Blauwalmodell in Lebensgröße entwerfen, las also alles über den Blauwal und war ziemlich überrascht, feststellen zu müssen, dass es damals vom größten Säugetier der Welt kein einziges Foto gab. Dabei handelte es sich ja nicht um einen ausgestorbenen Dinosaurier. Schließlich fand ich wenigstens ein Foto eines toten Blauwals vor einer Walfängerstation in Georgia. Von da an war ich der Einzige, der Blauwale zeichnen konnte, und geriet deswegen auch in die Bewegung zur Rettung der Wale. Ich malte alle Blauwale auf T-Shirts, Buttons, Flugblättern. 1966 wurde die Jagd auf Blauwale endlich verboten. Und ich durfte fortan die Wale in der Encyclopaedia Britannica zeichnen.

Sind Sie nicht auch mit Blauwalen getaucht? Doch, schon 1960, mit 21 Jahren, als ich bei der Armee auf Hawaii stationiert war. Und später dann mit Weißen Haien vor Australien, mit Weißwalen vor Patagonien, und überall mit Delfinen.

Sie sind schon auf der ganzen Welt getaucht? In der Karibik nicht. Ich tauche nicht zum Selbstzweck oder zum Vergnügen. Ich tauche eher wie ein Cowboy, der sein Pferd nur benutzt, um irgendwohin zu gelangen. Ich tauche, wenn ich etwas sehen muss.

Wann also begannen Sie zu schreiben? 1975 war ich bei der Party zum Filmstart vom Weißen Hai eingeladen. Ich traf dort einen Mann, der mich fragte, was ich denn so treibe. Ich sagte, ich schreibe gerade an einem wahren Buch über Haie, was ich gar nicht tat. Seine Antwort: Gut, dann werde ich es publizieren. Diesem Verleger habe ich genauso viel zu verdanken wie Peter Benchley, der die Romanvorlage für den Weißen Hai geschrieben hatte. Ich schrieb dann mein Buch, in dem ich darlegte, dass Benchley sich in einigen Dingen mächtig irrte und der Weiße Hai in Wirklichkeit gar nicht so gefährlich sei. Benchley schrieb sein Buch über die Riesenkraken, ich schrieb meines und sagte: Leider hat er sich wieder geirrt. Peter wusste immer, zu welchem Schluss ich gelangen würde. Seine Entgegnung war immer die gleiche: Richard, ich schreibe einen Roman, das ist Fiktion. Du tust mir so Leid, dass du so in den Tatsachen gefangen bist. Peter und ich wurden gute Freunde. Ich werde ihn sehr vermissen. Peter ist letzten Monat gestorben.

Sie schrieben auch Bücher über den Schwertfisch und Marlin. Nur über den Weißen Hai schrieben Sie zwei – Ihr Lieblingstier? Über Wale und Delfine habe ich noch viel mehr geschrieben. Aber die Faszination des Weißen Hais verspüre ich immer noch, allein wenn ich nur daran denke, wie elegant er sich durchs Wasser bewegt. Ich habe sogar die vage Idee, ein weiteres Buch über Haie zu schreiben: Darüber, was wir in den letzten dreißig Jahren alles gelernt haben, auch darüber, welche Fehler mir in den ersten beiden Büchern unterlaufen sind.

In Sachen Artenschutz haben wir in den vergangenen Jahren offensichtlich nicht viel dazugelernt. Wir haben den Wert von Fisch zumindest als Nahrungsmittel erkannt. Eigentlich sollte man ja meinen, sobald die Menschen die Gefährdung von Fischarten erkennen, würden sie weniger Fisch essen. Aber Tatsache ist, dass wir mehr und mehr Fisch essen, weil auch das Wissen um unsere Gesundheit gestiegen ist. Fisch ist gesünder als Hamburger, das weiß jeder heutzutage.

In Ihrem jüngsten Buch über den Zustand der Weltmeere – Der lebendige Ozean. Nachrichten aus der Wasserwelt – zeigen Sie deutlich Ihren Ärger über Japaner. Japaner ärgern mich nicht, eher schon ärgere ich sie. Wenn sie nur sorgfältig lesen würden, was ich schreibe, würden sie mich wahrscheinlich zur Persona non grata erklären. In Japan geht man mit ökologischen Belangen nicht sehr sensibel um. Das zeigt allein schon die japanische Walfangindustrie, die immer noch aktiv ist, oder der Irrsinn mit dem Blauflossentunfisch. Der Fischmarkt in Tokio ist jeden Morgen davon voll, dass man meinen könnte, alle Meere seien leer gefischt. Und das Tag für Tag. Japanische Fischerboote sind in der ganzen Welt unterwegs. Für einen Blauflossentunfisch bekommen sie in Tokio 100 000 Dollar. Portioniert ist er dann schon 500 000 Dollar wert. Jeder Fischer würde gern 100 000 Dollar am Tag verdienen und alle Länder fischen zu viel, selbst die USA. Wir sind vielleicht etwas ökologisch bewusster als Japan. Nur, wer so abhängig von den Ressourcen des Meeres ist wie Japan, der sollte dafür auch sensibler sein. Man sollte nicht seine eigene Nahrungsquelle eliminieren.

Wie schlimm ist es denn um den Fischbestand bestellt? Ich bin nicht auf Zahlen spezialisiert, aber einige meiner Kollegen sind die Fangbücher der letzten 50 Jahre aller Fischereien weltweit durchgegangen und kamen auf eine erschreckende Zahl, nach der 90 Prozent des gesamten Bestands der großen Raubfischpopulationen bereits weggefischt wurden. Das heißt: Wir fischen heute nur noch in den letzten zehn Prozent von Tunfisch, Schwertfisch, Kabeljau und Hai. Die ge-samte Nahrungskette wird also aufgemischt.

Wann werde ich meine letzte Tunfisch-Pasta essen? Einige Kollegen sprechen von nur mehr fünf Jahren, für den Fall, dass wir unsere Fischereiindustrie nicht in die Schranken weisen. Dann essen Sie Quallen-Pasta und ich Quallen-Sandwich. Am schlimmsten ist die Lage wohl für den Blauflossentunfisch.

Tunfisch wird doch schon gezüchtet? Deshalb ist seine Lage so prekär. Im ganzen Mittelmeer gibt es Tunfisch-Farmen, doch im Unterschied zu Lachs werden für diese Farmen junge Tiere nur gefangen und angefüttert, bis sie groß genug für den Verkauf sind. In der Regel haben diese Fische bis dahin aber noch nicht gelaicht. Das Mittelmeer gehört zu den wenigen Laichorten der atlantischen Blauflossentunfische. Sie schwimmen durch die Straße von Gibraltar, wo die Spanier, Italiener, Algerier, Türken, eigentlich alle Mittelmeeranrainer sie fangen – und alles landet später auf dem japanischen Markt. Seitdem man für diese Farmen Tunfisch fängt, der noch keine Chance zum Laichen hatte, hat man dessen Population enorm verringert.

Was wäre die Lösung? Das ist ja das Schlimme: Ich habe keine praktikablen Patentlösungen parat. Aus diesem Grund mache ich in der Regel auch keine Lesungen mit meinen Büchern. Eine Lesung mit mir macht so viel Spaß wie der Gang zum Zahnarzt. Ich stehe hinter einem Pult und erzähle: Der Fisch ist tot, der auch und der sehr bald.

Warum funktionieren die internationalen Fangbeschränkungen nicht? Sie funktionieren eben nur zu einem gewissen Grad. Die USA etwa verfügen über einige Gesetze, die uns ermächtigen würden, gegen Japan wegen der Verletzung internationaler Abkommen vorzugehen, mit Handelsbeschränkungen bis hin zu einem Embargo. Natürlich sind unsere Hände auch nicht sauber, und wenn man bedenkt, was so ein Embargo für dieses Land bedeuten würde: keine japanischen Videorecorder, Fernseher oder Autos mehr in den USA, und das, weil die Japaner in Patagonien zu viel Tunfisch fangen? Das würden hier nur wenige verstehen. Die notwendigen Gesetze wären da, aber wir nutzen sie nicht. Nicht einmal in den siebziger und achtziger Jahren, als Japan schon beim Walfang keine Zugeständnisse machen wollte. Solche Gesetze sind eine nette Idee, aber nicht praktikabel, solange ein Tunfisch 100 000 Dollar bringt.

Sie haben keine Idee, wie man bedrohten Fischarten helfen könnte? Doch. Wer ein Fischfabrikschiff kauft, der muss für die Nutzung der Ressource Fisch keiner Regierung etwas zahlen, keine Pacht, keine besonderen Steuern. Im Gegenteil, die Regierungen fördern das Unternehmen oft noch mit Steuervergünstigungen oder günstigen Krediten. Das müsste man ändern. Oder die Langleinen verbieten, weltweit, so wie die Treibnetzfischerei im Atlantik.

Was sind Langleinen? Die sind oft 50 Kilometer lang, mit Tausenden Ködern und Haken versehen, an die Tunfisch und Schwertfisch beißen sollen. Nur töten die Langleinen auch viel zu junge Tunfische, Haie, Delfine, Schildkröten und Unmengen von Beifang. Was auch immer vorbeischwimmt, sagt »lecker«, beißt rein und stirbt. Sogar Albatrosse.

Albatrosse sind doch Vögel? Die mit den Ködern versehenen Haken werden zunächst am Heck des Schiffes ausgelegt. Bevor sie zu Wasser gelassen werden, stürzen sich Albatrosse auf die Haken und werden dann ertränkt, sobald die Langleinen ins Wasser gelassen werden. Die japanische Fischindustrie legt jedes Jahr 107 Millionen Haken an Langleinen aus, die allein für den Tod von mindestens 44 000 Albatrossen verantwortlich sind. Die Langleinen sind am schlimmsten.

Sind die nicht schon längst verboten? Nein, nur in bestimmten Gebieten, innerhalb der 200-Meilen-Grenze der USA etwa und in einigen Gebieten im Atlantik, vor den Küsten von England, Deutschland, Spanien. Und was nützt ein Verbot von Langleinen innerhalb der 200 Meilen um Florida, wenn das Eignerschiff gar nicht in der Nähe bleiben muss? Eine Langleine kann schließlich in eine 200-Meilen-Zone treiben. Und wer soll das überwachen? Jeden Augenblick treiben so viele Langleinen auf den Weltmeeren, dass deren Länge mehrmals um den Äquator reichen würde.

Warum hat man so eine Perversion wie die Langleinen eigentlich erfunden? In den sechziger Jahren fing man Tunfisch noch mit Köder und Haken, jeden einzelnen. Das war der Fischereiindustrie zu unwirtschaftlich, also erfand man die Ringwadennetze. Da kreist das Beiboot eines Fischkutters einen Schwarm langsam mit dem Netz ein, und sobald die Tiere umzingelt sind, wird das Netz zusammengeschnürt. Doch aus Gründen, die noch nicht gänzlich erforscht sind, folgen Herden von Spinner- und Fleckendelfinen den Tunfischen, und wenn sich die Netze zusammenziehen, sitzen auch die Delfine in der Falle. Daraufhin wurde 1972 in den USA das Gesetz zum Schutz der Meerestiere verabschiedet, das speziell Delfine und Wale schützen sollte. Langleinen töten heute 20 000 Delfine jedes Jahr. Das ist schon weit besser als die 600 000 Delfine zuvor. Wohlgemerkt allein durch amerikanische Fischer. Wir Amerikaner sind offensichtlich noch sehr gut im Töten.

Verschärft die Globalisierung die Probleme für den Artenschutz? Natürlich, der amerikanische Markt ist heute offen für Fang von mexikanischen und südamerikanischen Booten, die sich nicht an amerikanische Gesetze auf dem offenen Meer halten.

Die Japaner sind also nicht die schlimmsten? Die Spanier sind genauso skrupellose Piraten, die überall fischen. Genau wie die Taiwanchinesen, Chinesen oder Koreaner. Aber wie sollte ich den Japanern vorschreiben, was sie essen, solange jede amerikanische Mutter ihrem Kind abwechselnd ein Sandwich mit Erdnussbutter und eines mit Tunfisch für die Schule schmiert? Das eigentliche Problem sind Leute, die glauben, solange man nur genügend Fisch auf dem Markt sieht, sei alles in Ordnung. Deswegen tun sich die Wissenschaftler mit der Warnung vor den Folgen der globalen Erwärmung so schwer. Niemand sieht, wie am Nordpol das Eis schmilzt. Ich war da, 1994, mit einem russischen Eisbrecher. Ich musste noch ein Loch ins Eis hacken, um schwimmen zu gehen. Wenigstens ist die Arktis heute leichter zu erreichen. Aber bevor Long Island nicht unter Wasser steht, wird die globale Erwärmung hier in Manhattan nicht allzu viele Leute kümmern. Genauso sehen die Fischer kein Problem. Viel mehr als die Hartnäckigkeit einiger unbelehrbarer Menschen erstaunt mich, wie hartnäckig einige Fische überleben.

Können Wissenschaftler heute denn noch viel Neues über die verschiedenen Fische herausfinden? Natürlich. Inzwischen kennt man sogar den Weißen Hai viel besser, auch seine Wanderwege, einen hat man einmal von Kalifornien bis nach Hawaii verfolgt. Erst seit kurzem weiß man, dass kein Hai tiefer als der Portugiesische Hai taucht: 3000 Meter, das ist interessant, denn weiter unten gäbe es eigentlich viel für ihn zu essen. Viele neue Informationen wurden noch nicht eingeordnet und interpretiert. Und die erste Riesenkrake wurde erst letzten September vor Japan gefilmt, in 200 Meter Tiefe. Nie zuvor hat sie ein Mensch gesehen.

Sie lieben das Meer und haben sechs Kinder in diese Welt gesetzt, deren Rettung Sie in Ihren Büchern bezweifeln. Besteht also doch noch Hoffnung? Emotional bin ich ein sehr optimistischer Mensch, als Wissenschaftler bin ich Pessimist. Ich sehe nicht genügend Leute, die die nötigen Schritte einleiten würden. Wissenschaftler haben es in diesem Land sehr schwer, wo viele sogar die Evolution bezweifeln. Und Fischerei ist ein großes Geschäft mit einflussreicher Lobby. Es tut mir Leid, Ihnen nicht mehr Hoffnung machen zu können.

Der Meeresforscher Richard Ellis, 66, hat zahlreiche Aufsätze und 19 Bücher über die Ozeane und ihre Bewohner veröffentlicht. Außerdem zeichnet er Fische für diverse Ausstellungen und Lexika und ist seit 40 Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museum of Natural History. Zuletzt erschien sein Buch »Der lebendige Ozean – Nachrichten aus der Wasserwelt« auf Deutsch im Mare-Verlag. Ellis lebt in New York City.