Draußen vorm Balkon

Mehr als 8000 Mal hat der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk den Ausblick aus seiner Wohnung in Istanbul fotografiert. Die Bilder erzählen viel über seine Heimatstadt, über die Türkei – und über Pamuk selbst.

Auf der einen Seite des Bosporus – der des Fotografen – ist noch Europa. Am anderen Ufer der Meerenge beginnt Asien.

Betreten Besucher die Wohnung in Istanbul, in der Orhan Pamuk seine Bücher schreibt, sagen sie: Ich verstehe nicht, wie man hier arbeiten kann. Sie meinten ein gewöhnliches Apartmenthaus betreten zu haben, wie es in dieser Gegend, im Stadtteil Cihangir, Hunderte gibt. Dann stehen sie im großen Zimmer, vor einer Fensterfront und einem Balkon, und es öffnet sich vor ihnen ein überwältigender Ausblick über den Bosporus, bis hinüber auf die anatolische Seite der Stadt. Man sieht die Schiffe, wie sie die Meerenge hinauffahren, Containerschiffe und rostige Frachter, Fähren, die den westlichen mit dem östlichen Teil verbinden, Fischerboote, Kreuzer der Küstenwache und zahllose andere Fahrzeuge, deren Bestimmung sich nicht einmal ahnen lässt. Man sieht die ­Hügel und das Häusermeer auf der anderen Seite, die Moscheen, die Selimiye-Kaserne, in der einst Florence Nightingale wirkte, und unten am Ufer den Bahnhof Haydarpa¸sa, von dem aus früher die Züge nach Syrien oder in den Iran fuhren. Er habe sich an den Ausblick gewöhnt, sagt daraufhin Orhan Pamuk und weist auf den großen, zum Fenster hin ausgerichteten Schreibtisch, an dem in den mehr als zwanzig Jahren, in denen er nun schon an diesem Ort arbeitet, wohl ein Dutzend Bücher entstanden sind. Das Wunder dieses Blicks bleibt trotzdem bestehen, auch für ihn.

Im Herbst 2012 kaufte sich Orhan Pamuk eine professionelle Spiegelreflexkamera samt Objektiv und Stativ und baute sie auf seinem Balkon auf. Als gäbe es nur diese eine Chance, den Blick von diesem Balkon ein für allemal der Vergänglichkeit zu entreißen, schoss er in den gut vier Monaten zwischen Dezember 2012 und April 2013 mehr als 8000 Bilder. Um auf diese Summe zu kommen, hat er ausgerechnet, habe er im Durchschnitt sieben Aufnahmen pro Stunde gemacht. Alle sieben Minuten muss er vom Schreibtisch aufgestanden und auf den Balkon getreten sein und den Auslöser betätigt haben – um sich dann wieder hinzusetzen, mit dem Gefühl, einen unwiederbringlichen Augenblick festgehalten zu haben. Am Ende dieser Periode fügte er die Festplatte mit den Bildern seiner mittlerweile großen Sammlung von Festplatten hinzu – denn zu den Eigenheiten des Schriftstellers gehört, überall und jederzeit zu fotografieren, etwa 20 000 Bilder im Jahr.

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Der Umstand, dass es so viele dieser festgehaltenen Augenblicke gibt, verdankt sich der digitalen Technik. Unter den Voraussetzungen des Rollfilms, des Entwicklerbads und des Papierabzugs wäre ein solches Unternehmen schwer durchführbar gewesen. Doch ist es auch, als sei hier die Fotografie mit Hilfe der digitalen Technik zu einem gleichsam literarischen Verfahren geworden: Denn so wie der realistische Roman die Welt verdoppelt, in einer Folge auserwählter Momente und potenziell bis ins kleinste Detail hinein, so lässt die Fotografie hier eine ähnlich dichte Reihe von bedeutenden Augenblicken entstehen. Und Orhan Pamuk vergaß nicht, dass er den Bosporus, von seinem Balkon betrachtet, dokumentiert hatte: Als der Göttinger Verleger Gerhard Steidl zu Besuch kam, erzählte er ihm von diesem Unternehmen. Nun soll ein Buch mit Pamuks Bildern entstehen.

Der Bosporus führt im Norden ins Schwarze Meer, dort liegen Rumänien und Bulgarien, die Ukraine, Russland und Georgien. Die Schiffe, die von Süden kommend unterhalb des Balkons vorbei­ziehen, waren zuvor im Marmarameer oder in der Ägäis, wenn nicht sogar in ferneren Meeren. Den meisten, die Kriegsschiffe, Öltanker und Fähren ausgenommen, sieht man die Art ihrer Last nicht an. Sie alle ziehen durch diese schmale Passage, deren historisches, ökonomisches und kulturelles Profil unendlich oft festgehalten wurde und die dennoch, weil selbst schon halb in einem orientalischen Land gelegen, dem Besucher aus dem Westen als etwas Geheimnisvolles erscheint. Im Blick vom Balkon vereinen sich diese beiden Perspektiven: Auf der einen Seite ist da eine mehr oder minder vertraute Topografie, eine Landschaft, deren Geschichte und Aussehen man kennt. Auf der anderen Seite ist da eine unendliche, in keinem ­Augenblick tatsächlich zu erfassende Bewegung, von Schiffen zum Beispiel. Es ziehen Möwen durch das Bild und lassen sich auf dem Geländer nieder, das Licht wechselt, es gibt Nebel, Regen, es wird Tag, es wird Nacht. Asien, der Kontinent auf der anderen Seite des Bosporus, mag unermesslich groß sein. Doch unermesslicher noch ist die Dimension des Flüchtigen und sich Verändernden, des sich Bildenden und wieder Verschwindenden, eine Welt der Haltlosigkeit, die alles Feste und Bleibende in ihre Atmosphäre taucht.

Im Buch Istanbul von 2003, Orhan Pamuks Porträt seiner Stadt, erklärt der Schriftsteller, sein Vater habe jede der Fähren, die den Bosporus queren, beim Namen nennen können, schon aus der Ferne, aufgrund einer bloßen Andeutung der Silhouette. In der Beschreibung dieser Fähigkeit fließen zwei Motive zusammen: die Bewunderung für einen Mann, dem sich seine Umgebung als etwas Geordnetes und Beherrschbares präsentierte, und die Verwunderung angesichts der Sinnlosigkeit dieser intellektuellen Leistung. Tatsächlich wiederholte Orhan Pamuk dieses Unterfangen, als er die Kamera auf seinem Balkon installierte. Denn was ist dieser Balkon, wenn nicht der Posten eines Beobachters, dem sich die angeschaute Welt als seine Welt, als Landschaft, darbietet – und der sich, indem er den Anblick dieser Landschaft genießt, in all ihrer Größe und Vielfalt, auch immer selbst genießt? Zugleich verfügt dieser Beobachter in Gestalt der Kamera über einen Apparat, der ihm erlaubt, die Landschaft zu bannen und sie damit in seinen Besitz zu überführen. Doch ist dieser Besitz ganz und gar imaginär. Die Landschaft ist wie der Rauch, der aus den Schornsteinen der vorüberziehenden Schiffe quillt. Sie besteht aus einer Art intellektueller Rußpartikel. Sie verwehen im Wind.

Ein ganzes Viertel des Stadtteils Cihangir liegt am Hang über dem Bosporus, genauso wie ein wenig nördlich das Viertel Kabata¸s und Dutzende, wenn nicht Hunderte von Nachbarschaften auf beiden Seiten der Meerenge. Wer zählt die Häuser, die an diesen Hängen stehen, die Funktionalbauten aus den vergangenen Jahrzehnten, viele von ihnen mit einem Balkon ausgestattet, von dem man hinunter auf das Wasser sehen kann? Wie viele Menschen mögen auf diesem Balkon gestanden haben, ergriffen von der Großartigkeit des Anblicks? Das Einzigartige ist wiederholbar, sogar ziemlich oft. Aber nicht jeder, der stumm und staunend auf einem der Balkons steht, ist in der Lage, sein Staunen mitzuteilen, in seiner ganzen Größe und Vielfalt. Deswegen sollte man den Blick vielleicht umkehren, sich in der Vorstellung auf eine Fähre, die gerade den Hafen von Kabata¸s anläuft, versetzen und im Geiste auf den Hang von Cihangir blicken. Dort lässt sich, zwischen den beiden Minaretten, ein schlichtes Apartmenthaus erkennen. Und sehen Sie den Balkon, ziemlich weit oben? Dort stand, zwischen Dezember 2012 und April 2013, eine Kamera. Sie gehört einem Mann, der sich auch nach mehr als zwanzig Jahren nicht über die Schönheit beruhigen kann, die er täglich sieht.