Es ist nicht mehr 2006

Vor den letzten großen Fußballturnieren fühlte sich unsere Autorin, als reise sie mit vielen lustigen Menschen auf eine Insel, weit weg vom Alltag. Doch die WM in Russland weckt bei ihr wenig Vorfreude - und daran ist nicht nur der Fußball schuld. 

Schwarz-rot-goldene Fanmeile in Berlin 2006.

Foto: dpa

Dieser Text beginnt mit einem Geständnis. Vor ein paar Tagen habe ich im Onlineshop einer norddeutschen Metzgerei sogenannte Weltmeister-Grillwürstchen gekauft. Das Paket umfasst acht Würstchen, die Namen tragen wie Speedy-Gonzales-Wurst oder der schwedische Blutgrätsche. Die Metzgerei hat sich dabei von den potentiellen Gegnern der deutschen Fußballnationalmannschaft während der Weltmeisterschaft in Russland inspirieren lassen, und die erste Charge der Würste war sehr schnell vergriffen. Man hört schon die Wortwitze der Fußballfans, wenn sie während des ersten Spiels der Deutschen am Sonntag gegen Mexiko den Grill anschmeißen: »Und jetzt machen wird diesen mexikanischen Würsten mal Feuer unterm Hintern!« Haha.

Ich hab die Würstchen bestellt, weil die Metzgerei wirklich gut ist. Und weil ich irgendwie das Gefühl hatte, dass ich endlich was tun muss. Dass ich mich zumindest ein bisschen vorbereiten und einstimmen muss auf diese Fußball-WM. Komm schon, Vorfreude, zeig dich! Aber in diesem Jahr tut sie sich besonders schwer. Ich bin WM-träge.

Ich könnte jetzt anfangen mit der ganzen Fifa-Korruptions-Russland-Problematik, und mit Sicherheit spielt dieses Grundunwohlsein gegenüber der modernen Fußballmaschinerie mit ihren unwirklichen Geldsummen eine Rolle in meiner Trägheit. Doch wenn ich ehrlich bin, ist das nicht ausschlaggebend dafür, dass ich beim Gedanken an die kommenden vier Wochen kein Kribbeln im Bauch spüre. Eigentlich kann ich die ganzen Betrügereien im Profisport nämlich gut ausblenden, sobald ich mich kurz unterhalten lassen will; bei olympischen Biathlon-Rennen zum Beispiel oder 100-Meter-Sprint-Finals. Für einen winzigen Moment ist dann alles egal, worüber ich mich sonst aufrege.

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Im Grunde ist das ja das Geheimnis des Sports: dieser Zauber des Augenblicks. Nichts sonst zählt in diesen Sekunden. Oder Stunden. Oder Wochen, wenn man so ein großes Turnier wie eine Fußball-WM nimmt. Die drohende Deadline auf der Arbeit oder die Steuererklärung werden so herrlich egal, wenn man über einen verschossenen Elfmeter von Thomas Müller diskutieren kann. Eskapismus im besten Sinne.

Vor den letzten Welt- und Europameisterschaften fühlte ich mich immer, als würde ich auf eine kleine Insel reisen, weit weg vom Alltag und mit vielen lustigen Menschen. Doch wenn ich mir jetzt vorstelle, mit all den Menschen, die in den nächsten Wochen in Deutschlandtrikots oder mit Deutschlandfahnen rumlaufen, auf eine Insel zu reisen, wird mir komisch. Mir wird komisch, wenn ich den Aldi-Katalog aufschlage mit den ganzen billigen Fanartikeln, die mir weismachen wollen, dass noch immer 2006 ist. Mir wird komisch, wenn ich an die Fanmeilen und Public-Viewing-Biergärten denke mit all den Deutschlandflaggen und schwarz-rot-goldenen Hawaiiketten.

Es ist nicht mehr 2006, sondern 2018. Menschenaufläufe mit Deutschlandfahnen sieht man nicht mehr nur alle zwei Jahre, und es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass es sich dabei um einen Pegida-Aufmarsch handelt als um eine Fanansammlung. Vermutlich stammen auch die wenigsten Fahnen aus dem Aldi-Sortiment. 

Das größte Thema rund um die Nationalmannschaft waren zuletzt nicht ihre schwachen Testspiele oder Löws Personalentscheidungen (auch nicht gerade Gründe für Vorfreude), sondern die Frage: Dürfen Mesut Özil und Ilkay Gündogan überhaupt mit nach Russland fahren, nachdem sie sich mit Erdogan fotografieren haben lassen? Und dann: Die Pfiffe gegen Gündogan während des Spiels gegen Saudi-Arabien, die nach Ansicht vieler Kommentatoren nicht nur mit Erdogan, sondern allgemeiner Türkenfeindlichkeit zu tun haben – sollen die in dem Moment, in dem Gündogan die Vorlage für das entscheidende Tor liefert, einfach vergessen sein? Oder, gegenteiliges Szenario: Özil unterläuft ein total blöder Fehler, er verdaddelt den Ball, Gegentor. Die AfD-Kommentare dazu will ich mir nicht ausmalen.

Deutschland ist nicht mehr das gleiche Land wie 2006, und auch nicht wie 2014. Nicht mehr (nur) diese fröhliche, bunte Nation, die Schulter an Schulter vor den Leinwänden fiebert. Sondern da gibt es auch diejenigen, die »Merkel raus!« brüllen, wenn Bilder von der Kanzlerin eingeblendet werden, wie sie im Viertelfinale auf der Tribüne sitzt.  

Ich erwarte von der WM, die heute in Russland losgeht, keine Gänsehautmomente oder rauschende Party. Ich erwarte einfach: nichts. Warum auch, wir hatten doch schon alles, was wir uns vom Fußball gewünscht haben. Das Sommermärchen 2006, dessen Stimmung sich bis in die WM 2010 in Südafrika retten ließ, auch, weil dort einfach viel und laut Stimmung gemacht wurde. 2014 das Samba-Fest in Brasilien, das mit dem Titel endete. 

Es gibt Kollegen, die glauben, dass das Turnier in Russland uns überraschen wird, dass es bunt wird und wir schönen Fußball sehen werden. Wenn das so ist, freue ich mich, ich lasse mich gerne überraschen. Und ich schließe auch nicht aus, dass ich mich mitreißen lassen werde, wenn sich die deutsche Mannschaft im Viertelfinale gerade so in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen rettet. Das wäre toll. Aber wenn es nicht so ist, wenn es in den nächsten Wochen viel regnen sollte, Löws Spieler in der Vorrunde ausscheiden und Putin die WM als Bühne für seine Politik nutzen, dann bin ich nicht enttäuscht. Dann ist es mir einfach egal.