»Ich hab letzte Nacht von dir geträumt!«

Viele Menschen sind davon überzeugt, dass wir nachts unsere tiefsten Gefühle und Sehnsüchte verarbeiten. Auch deswegen hat unser Autor gelernt: Es ist besser, anderen nicht zu erzählen, wenn sie in seinen Träumen auftauchen.

Vorsicht! Nicht nur Träume lassen sich interpretieren – sondern auch die Frage, warum man von anderen träumt.

Illustration: Aart-Jan Venema

Variante 1: »Schatz, ich hab letzte Nacht von dir geträumt!«

»Wirklich? Was denn?«

»Na ja, also jetzt nichts Besonderes, wir waren auf einer Autobahnrast­stätte, und da wolltest du erst die Currywurst nehmen, und dann hast du gesagt, nee, also, nicht die Currywurst. Das war’s eigentlich.«

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Variante 2: »Ah, hallo, Herr Kollege, wo ich Sie grad treffe, das muss ich Ihnen erzählen: Ich hab geträumt, ich würde mit einem Bagger zu Ihnen nach Hause kommen und alles abreißen. Ihren Blick hätten Sie sehen sollen!«

Variante 3: »Frau Merkel, bevor Sie die Sitzung eröffnen, erlauben Sie mir den Hinweis, dass Ihnen der Poncho, den Sie in meinem Traum trugen, ganz ausgezeichnet stand.«

Es wäre auch mit harmloseren Beispielen leicht zu beweisen: Anderen zu berichten, man habe von ihnen geträumt, ist eine heik­le Sache. Wer das tut, zieht sich aus, und die oder den anderen gleich mit. Zunächst mal sich selbst, weil man damit den Blick in sein Innerstes zulässt. Denn was kann es Intimeres geben als die eigenen Träume? Bewusste Gedanken, Tagfantasien, Ideen und Pläne lassen sich kontrollieren, filtern, erklären. Aber Nachtträume, da hat das Unterbewusstsein das Sagen, und das heißt: Offenbarung. Im Traum, davon sind viele Menschen überzeugt, fallen die Masken, keine Täuschungen und Selbsttäuschungen mehr, keine Halbwahrheiten, es zeigt sich der nackte Mensch, ein wenig scheint es, als träte man vor Gott, der alles sieht.

Fachleute, die Traumforschung beruflich betreiben, sind sich ganz und gar nicht einig darüber, was Träume wollen und sollen (und ob sie etwas wollen und sollen), vielleicht kanalisieren Träume intensive Gefühle, vielleicht graben sie versteckte Wünsche frei, helfen beim Sortieren der Erinnerungen… Vielleicht verleihen sie auch bloß zufälligen neuronalen Aktivitäten einen Anschein von Sinn. Doch wahrgenommen werden sie allgemein als weiser Spiegel, dem man nichts vormachen kann.

Das heißt für den, der von seinem Traum erzählt, schon einmal: Allein der Umstand, dass im Traum genau diese andere Person vorkam, muss über den Inhaber des Traums ja wohl etwas zu sagen haben. Schaut man sich dann noch an, was im Traum geschah, wird es noch heikler. Interpretiert werden kann alles. Träume sind Säume, sie liegen immer am Rand von etwas Größerem, aber wovon? Würde er alle Bücher über Traumdeutung stapeln, könnte Elon Musk sich die Rakete zum Mars sparen. Du hast mir im Traum an meiner Haustür eine Spinne überreicht? Giftiges Tier, Rachegelüste! Du hast mir im Traum einen Ring überreicht? Ewiger Kreis, Gefangenschaft, Rachegelüste!

Die Person wiederum, die im Traum auftauchte und nun davon erzählt bekommt, wird dadurch ebenfalls entblößt. Auch sie muss ja fürchten, von der hellseherischen ­Magie des Nachttraums durchschaut, ja in ihrem Wesenskern erkannt worden zu sein: Und dann hab ich die Haustür zugeschmissen und die Polizei gerufen? Bin ich denn in Wahrheit so schwach, so wehrlos? Sehen mich die anderen so?

Natürlich ist immer wichtig, wer da wem vom Traum erzählt. Auch dieses Koordinatensystem ist voller Fallen. Je näher man sich steht, desto ungefährlicher dürfte es sein, dem Gegenüber zu sagen, sie oder er sei Teil eines Traums gewesen. Aber: desto größer ist dann auch die Erwartung, eine angemessene Rolle gespielt zu haben. Siehe Variante 1 zu Beginn dieses Textes: Innerhalb einer Liebesbeziehung soll der Traum des anderen gefälligst von Mondscheinküssen und in romantischer Gier abgerissenen Knöpfen handeln, nicht von Würsten. Schon gar nicht davon, dass man ­keine will.

Je sozial ferner sich die Personen wiederum sind, desto geringer mögen die Erwartungen an die Rolle im Traum sein. Aber dann sollten auch besser keine Küsse und abgerissenen Knöpfe vorkommen. Selbst wenn die Handlung ganz belanglos klingt, wird das Gegenüber sich allerdings fragen: Warum bin ich diesem Menschen so wichtig, dass ein Traum von mir handelt? Und: ­Warum erzählt der­jenige mir von dem Traum, was will er damit bezwecken? Ist das eine Annäherung? Ein Witz? Eine versteckte Drohung? Es ist wie mit den Träumen selbst: Interpretiert werden kann alles.

Und so kommt es, dass die meisten ­Menschen, wenn sie von anderen geträumt ­haben, lieber schweigen. So schätzt es jedenfalls der Psychologieprofessor Claus-Chris­tian Carbon von der Universität Bamberg ein. »Den Protagonisten Ihres Traums werden Sie davon fast nie erzählen. Überhaupt über Träume zu sprechen gelingt eigentlich nur mit ganz Vertrauten – oder mit Leuten, die Sie vermutlich nicht noch mal treffen, Reisebekanntschaften zum Beispiel.«

Ich habe kürzlich von einem Kollegen geträumt. Mit ihm zusammen fuhr ich da in meine erste eigene Wohnung, Hagen, Frankfurter Straße, vierter Stock. Denn zu meinem Erstaunen hatte ich festgestellt, dass ich dafür auch 23 Jahre nach meinem Auszug noch Miete zahle, 400 Euro im Monat. Ich dachte: Also, hier geht das ganze Geld hin! Dann stand ich mit dem Kollegen in der Diele, der Vermieter war auch da, dazu die Leute, die trotz meiner Mietzahlungen dort wohnten, und der Vermieter und ich einigten uns auf eine Vertragsauflösung. Der Kollege sagte und tat nichts, er stand bloß herum.

Ein paar Tage später erzählte ich ihm das. Er reagierte weder so noch so. Nicht peinlich berührt und nicht unbekümmert. Schwer zu interpretieren.

Claus-Christian Carbon sagt über den Traum: »Die Personen, die in Träumen auftauchen, stehen meistens für etwas. Ihr Kollege vielleicht für einen Begleiter, der gute Ratschläge geben kann. Und der Ihnen in Ihrer Unsicherheit helfen kann?«

Obwohl der Traum so vollkommen harmlos war, obwohl mein Kollege so gut wegkommt und obwohl ich dann nie wieder von ihm geträumt, geschweige denn ihm eine Spinne oder einen Ring oder eine Currywurst überreicht habe: Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm davon hätte erzählen sollen.