Das Leben muss man gießen

Die Mutter unseres Autors pflegt ein schönes Hobby mit ihrem Nachbarn: Gemeinsam pflanzen sie im ganzen Ort Bäume. Warum will sie davon nicht erzählen? 

Das Leben muss man gießen, solange es noch geht.

Illustration: Magali Brueder

Auf die Frage, wie es ihr gehe, sagt meine Mutter immer: »Gut.« Eben rief ich an, und zum ersten Mal seit Jahren zögerte sie mit der Antwort.
Das sei eine längere Geschichte.
Ich habe Zeit.
Wahrscheinlich habe sie mir nie von ihm erzählt. Aber es gebe da diesen Nachbarn, mit dem sie auch im Tanzkurs sei. Er sei schon etwas älter. Und er habe halt dieses besondere Projekt.
Welches Projekt?
Da müsse sie etwas ausholen.

Und dann erzählte sie, dass er Walnüsse zum Keimen bringt. Er sammele sie unter dem riesigen Walnussbaum vor seinem Fens­ter, stecke sie in Blumentöpfe und warte ab. Irgendwann zeigten sich die ersten Triebe. Wenn ein Setzling fertig sei, ziehe er los und pflanze ihn ein. Am Fluss, im Park, am See.
Was für ein schönes Projekt, sagte ich.
Ja. Erst habe er Leserbriefe geschrieben, aber irgendwann habe er nicht mehr an Leser­briefe geglaubt. Da habe er sich für die Walnuss entschieden. Die Pflanzstellen habe er mit Bedacht gewählt, die Bäumchen sollten ja Platz haben. Anfangs sei er im ­näheren Umkreis geblieben, später habe die Sache weitere Kreise gezogen. Irgendwann sei der Stadtfriedhof dran gewesen und dann das Auffangbecken an der Bundes­straße, gegenüber der ehemaligen Gaststätte, weißt du?
Ich glaube schon.

In diesem Sommer aber sei es so heiß gewesen. Die Setzlinge drohten zu vertrocknen. Er habe sich wirklich Sorgen gemacht. Deshalb sei er in den Abendstunden aufgebrochen, den Fahrradkorb voller Wasserflaschen, und habe sie gegossen. An einem Tag die Walnussbäumchen im Norden, am anderen die im Süden. Jeden Abend ein paar Stunden. Seit einer Weile habe sie ihn begleitet, damit er nicht doppelt fahren muss. Um jede Pflanze habe er mit bloßen Händen einen Ring gegraben und Wasser hineingeschüttet. Anschließend hätten sie ein bisschen dagesessen und das Wachstum begutachtet und die Trockenschäden und den Abend. Dann seien sie weiter­gezogen zum nächsten Baum. Inzwischen kenne sie die Wege schon auswendig.

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Aber, sagte sie, immerhin hat er jetzt lauter Trauerbäume, an denen man an ihn denken kann. Und die man weiter gießen muss. Und eines Tages werden sie Walnüsse tragen.