Liebeserklärung ans Balkonbier

Die einzig wahre Fluchtmöglichkeit auf Familienfeiern ist der kaltgestellte Bierkasten auf dem Balkon. Dort entstehen Schicksalsgemeinschaften, die einen jedes Fest überstehen lassen.

Foto: Maurizio Di Iorio

Man würde sich natürlich wünschen, es wäre etwas anderes, was Deutschland emotional stabilisiert an den Feiertagen. Zusammenhalt, Zuversicht, Dankbarkeit oder Demut. Aber ich fürchte, es ist jedes Jahr wieder der Kasten Bier auf dem Balkon.

Unscheinbar steht er da neben dem Kasten Wasser. Aber er ist ein wichtiger Treffpunkt. Ein Alternativort zur Tafel mit Tischdecke, das Ersatzkaminfeuer, die Parallelsofaecke. Klar, im Keller gibt es noch mehr Getränke: Wer für alle Bier, Wein, Limo und Wasser holt, geht in den Keller, schleppt alles im Flaschenträger die Stufen hoch. Aber wer Zeit für sich braucht, der kommt hierher, stellt sich neben den Kasten ins Freie, atmet erst mal durch, trinkt ein Bier allein.

Und meistens kommt dann nach einer Weile, so gegen Biermitte, noch jemand raus. Eine Cousine, der gesagt wurde, es sei echt witzig, man sehe ihr die Schwangerschaft irgendwie immer noch an, so im Gesicht und am Bauch. Dann kommt der Schwager, der sich nie willkommen fühlte und das Familienfeier-Rauchen erfunden hat, eine Sucht, die nur auftritt, wenn er die angeheiratete Verwandtschaft trifft. Dann ein trauriger Elternteil, weil das Kind gesagt hat, er höre nie richtig zu, wo er doch das Gefühl hat, nur noch aus Zuhören zu bestehen. Dann der eine Onkel, dem unter Gelächter noch mal vorgehalten wurde, wie lange er damals gebraucht hatte, um Fahrradfahren zu lernen. Länger als der Bruder. Immer umgefallen, wie ein Stein, nein, wie ein Sack! Generell sei er nie so besonders geschickt gewesen. Auf den Balkon ist er raus, angeblich um eine kalte Flasche Wasser holen, in Wahrheit um ein Bier aus dem Kasten zu nehmen und hier, ohne Jacke, stehend, zu trinken. Man kann hier auch gut weinen, wenn einem ein Schluchzer entgluckst, war es das Bier. Niemand fragt, niemand will hier reden, hier wollen alle nicht-reden.

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Ich glaube, manche Abende brauchen Balkonbiere. Es sind diese Abende, an denen Menschen zusammenkommen, die einander lange kennen, dauerhaft verbunden sind, aber nicht mehr gewohnt, damit im Alltag umzugehen. Die lässig mit der Sicherheit dieser Nähe agieren, aber ohne die Sensibilität und Höflichkeit, die angemessen wäre, wenn man bedenkt, wie wenig sie vom Leben des anderen überhaupt noch wissen. Und wie wenig sie bereit sind, über diesen Tag hinaus daran teilzuhaben.

Der Bierkasten – mal steht er auf einem Balkon, mal auf einer Terrasse, mal auch nur unter dem hell erleuchteten Fenster, und man steht mitten im Garten – ist ein Fluchtpunkt, ein Auszeitort, eine Sicherheitsinsel vom völlig verrutschten Necken und Besserwissen, vom Einmischen und Bevormunden, vom Drüberhinweggehen und Fürselbstverständlichhalten, vom Gängeln und Nichtgutseinlassen, vom Verletzungenbelächeln und Nichteinfühlenwollen. Man wünschte natürlich, das ginge anders, offener, dialogischer, nachhaltiger, liebevoller. Träumen ist beim Balkonbier auf jeden Fall erlaubt.

Und dann, nach einer Weile, geht es wieder. Alkohol eben. Unsensible Familie ist besser als gar keine, denkt man. Also doch noch Demut. Oder: Ist ja nur einmal im Jahr, das schaffe ich jetzt auch noch. Ist das schon Zuversicht? Oder: Hier draußen mit den anderen Geschwächten war es aber richtig schön. Zusammenhalt. Und beim Reingehen ist man nie allein. ­